Materialien 2020

Maßregelungen

Lieber M,
 
für Deine freundlichen Zeilen danke ich Dir sehr. Erfreulich ist, dass es offensichtlich B und Dir gut geht.
 
Auch ich bin gesund, stecke aber in einem Dilemma. In meinem nächsten Freundeskreis betreue ich Demenz, Krebs, körperliche Hinfälligkeit und Vereinsamung. Wenn jemand stirbt, kommen noch die verzweifelten Angehörigen, soweit welche vorhanden sind, dazu. Der Tag hat nur 24 Stun-
den. Ich muss mir überlegen, wen ich am 24. Dezember nicht allein lassen darf.
 
Vor ein paar Tagen habe ich einem befreundeten Rechtsanwalt, der seit 1967 für die Außerparla-
mentarische Opposition in München tätig war und auch mich vertrat, geholfen, Teile seines Büros zu räumen, und erst einmal vieles zu mir transportiert, was ich jetzt durcharbeite, um es dann mit Findbuch ins Archiv zu verfrachten.
 
Nicht zuletzt gibt es diverse Konflikte. In diesen Krisenzeiten habe ich neue Freundschaften ge-
funden und einige Verbindungen zu Genossen, die ich seit vielen Jahren kenne, beendet. Erst jetzt, nach beinahe einem halben Jahrhundert, habe ich festgestellt, dass bei ihnen (vermutlich) Angst und Panik verhindern, nüchtern nachzudenken. Ich habe es gemerkt, dass (schon behutsame, vorsichtige) Fragen als Angriff gewertet wurden. Dann war es eher ein Glück, wenn diese Fragen einfach weggewischt wurden oder verdrängt. Schlimm wurde es, wenn Fragen mit belehrender Zurechtweisung, mit Maßregelung oder gar Aggression beantwortet wurden.
 
Es kam mir manchmal vor, als ob die Genossen verzweifelt um sich schlagen. Wenn du dann ge-
troffen wirst, weißt du zwar, dass du gar nicht gemeint bist, der Schlag tut aber trotzdem weh. Zwei Beispiele, die zeigen, wie alte Freunde mit reziprok gewendeten Analogieschlüssen – ob das der richtige Fachbegriff ist, weiß ich nicht – auf meine Zweifel reagierten.
 
Einmal stellte ich das kriegerische Agieren der USA und ihrer Verbündeten im nahen Osten infrage und meinte dabei, mir gefalle hier die Drehtürpolitik von amnesty international nicht. Nach mei-
nen Informationen saß amnesty indirekt bei den US-Regierungen vor Trump mit im Kabinett und hat die Menschenrechts-Begründungen für militärische Interventionen mit verfasst. Daraufhin wurde ich als Sympathisant von Assad und Saddam Hussein bezeichnet.
 
Als ich darauf hinwies, dass BDS NICHT den Boykott von in Israel hergestellten und international verkauften Produkten propagiert, sondern den Boykott von Produkten, die in Palästina hergestellt werden, auf denen aber lediglich nur „Made in Israel“ zu lesen ist, wurde ich als Antisemit be-
schimpft.
 
Diese Liste ist beliebig zu verlängern.
 
Ich frage mich, ob es noch Sinn macht, mit Menschen zu verkehren, deren geschlossenes Weltbild sie dazu veranlasst, auf jeden, der zweifelt (egal erst einmal, an was), mit einem Vorschlaghammer aus Glaubenssätzen, Vorurteilen, Verurteilungen und Zurechtweisungen einzuschlagen. Ich habe festgestellt, dass ich Kontakte, bei denen ich nicht mehr unbefangen etwas äußern kann, was viel-
leicht sogar schief, dumm, problematisch oder gar falsch ist, und bei denen ich mir von vornehe-
rein immer überlegen muss, was ich sagen darf und was besser nicht, einstellen will. Ich habe dies – und das war nicht einfach – mit einigen meiner ältesten Genossen getan. Mit Trauer und Weh-
mut.
 
Du siehst, lieber M, da habe ich einige „Baustellen“, aber auch das große Glück, mich mit Freunden darüber auszutauschen zu können. Am wichtigsten aber ist zunächst, dass ich es schaffe, meine Kranken und Beschädigten etwas zu versorgen. Das tut mir nämlich selber gut.
 
Dir und B beste Grüße vom
G


zugeschickt am 20. Dezember 2020

Überraschung

Jahr: 2020
Bereich: Alternative Szene