Materialien 1985

Nach Madrid des Friedens wegen

Berufsverbote als verdeckte Kriegsführung gegen Entspannungspolitik

Meine Damen und Herrn,
liebe Freunde,

da wir hierherin wohl mehrheitlich für Entspannung und gegen Berufsverbote sind, möchte ich heute für einen neuen strategischen Gedanken, ein Aktionsprojekt werben. Die Veranstalter, die Bürgerinitiative gegen Berufsverbote und das Komitee für Frieden, Abrüstung und Zusammenar-
beit, die sonst durchaus eigenständige Aufgaben haben, müssen ihre Kräfte an einem Schnittpunkt zusammenwerfen, der uns Bayern besondere Verantwortung auferlegt.

I.

Ich meine die traurige bayrische Spezialität der Friedensberufsverbote: den Ausschluss von einem öffentlichen Dienst – und Ausbildungsverhältnisse, meist dem Vorbereitungsdienst der Lehrer, der ausschließlich oder maßgeblich auf dem Friedensengagement der Betreffenden beruht bzw. dem Beitritt oder Kontakt zu einschlägigen Verbänden, – Deutsche Friedensgesellschaft/Vereinigte Kriegsdienstgegner, DFU, Pax Christi, Komitee für Frieden, Abrüstung und Zusammenarbeit u.a. Prozesshängig sind davon zur Zeit Christen, Pazifisten, Sozialdemokraten, ja Grüne wie Lehner, Häberlein, Stoll, Bitterwolf, Kolb, Leonhardt und sechs andere, die hier nicht genannt werden wol-
len.

Friedliche Koexistenz sei nämlich eine „bolschewistische Kampflosung“ und damit „verfassungs-
feindlich“. Beispielhaft für alle anderen zitiere ich hier aus dem Widerspruchsbescheid der Regie-
rung von Mittelfranken gegen Heinrich Häberlein vom 29. Juli 1977, Seite 3 – und mehr steht da inhaltlich nicht drin:

„Die DFG/VK bekennt sich zu den Grundsätzen der Friedlichen Koexistenz. Nach kommunisti-
scher Lesart liefert die friedliche Koexistenz und die damit im Zusammenhang stehende Auffas-
sung, dass die streitbare Auseinandersetzung mit dem Kommunismus in der Bundesrepublik Deutschland als demokratiefeindlich und damit als unzulässiger ‚Antikommunismus‘ anzusehen ist, gute Ausgangspositionen für den politisch-ideologischen Kampf.“

Die Friedliche Koexistenz als Rechtsbegriff hat die Bundesrepublik – abgesehen vom Friedensge-
bot der Art 25, 26 Grundgesetz – in zehn völkerrechtlichen Vertragswerken ausdrücklich für sich verbindlich gemacht. Wir haben es also mit subtilem Völkerrechts- und Vertragsbruch im Berufs-
verbotsgewande zu tun. Ich will zeigen, dass es damit nicht nur um gesetzloses Unrecht an integren und qualifizierten Mitbürgern geht, sondern um ein flexibles politisches Instrument, das da insbe-
sondere von der Reichsordnungszelle Bayern aus gegen entspannungswillige Kräfte einschließlich des realpolitischen Bonner Ministerflügels in Bewegung gesetzt wird.

Die erste Anhörung dieser Art war meines Wissens die vom 19. November 1973 gegen die parteilo-
se Volksschullehrerin Koch-Ehni, die sich 1972 einem Appell an die Münchner Bundestagsabge-
ordneten zugunsten der Ostverträge angeschlossen hatte. „Ja, kennen Sie denn die Rechtsauffas-
sung der bayrischen Staatsregierung nicht?“, hielt man ihr vor. Als ihr Anwalt habe ich da unter-
brochen: „Die Verträge sind jetzt ratifiziert und verbindlich und dem haben wir uns alle mitein-
ander zähneknirschend zu beugen.“

Die jüngste einschlägige Anhörung ist m.W. die des Berufsschullehreranwärters Zilker. Mit schneidender Stimme las man ihm aus dem bekannten Aufruf des Abrüstungskomitees vor, – ausgerechnet die Abschnitte, die eher Griesbrei als Flintenkörner enthalten. Da haben aber doch hohe Kirchenvertreter unterzeichnet, Nobelpreisträger, der Vater der Inneren Führung General Baudissin, die Bundesmutti Inge Meysel, der nicht für übertriebenen Fortschritt berühmte Heinz Rühmann, alles von Rang in der Darstellungskunst (mit Ausnahme Gunnar Möllers). „Ja, die Herrschaften haben wir jetzt nicht hier“, meinte da der Anhörungsleiter, „aber SIE hamma!“ Der hieß auch noch Zwicknagel. Liebe Freunde, den Weg zu Pacem in Terris lassen wir uns nicht ver-
nageln und auch nicht verzwicknageln.

Durch den Mund des ministeriellen Deutschlehrers Holzbauer als zuständigem Referenten und Ideologen verwirft unser KuMi die von der Bundesrepublik und Polen gemeinsam verabschiedeten Schulbuchempfehlungen als „völkerrechtswidrig“ und jedenfalls in Bayern als „verfassungswidrig“. Vertrag hin oder her.

Lehrer Bitterwolfs Leserbrief mit der – vergeblichen – Anregung, die zehn Prinzipien der KSZE wie in den anderen Teilnehmerstaaten in unseren Schulen zu behandeln, ist jetzt ein Hauptbelastungs-
punkt in seinem Berufsverbotsverfahren. Die Landtagsabgeordneten Lang und Gastinger, sonst eher g’standenes Mittelmaß der CSU-Franktion, spitzten scharfmacherisch zu, dass da ja die ver-
fassungswidrige Außenpolitik in die Innenpolitik hinein fortgesetzt werde und überhaupts gehör-
ten nicht „irgendwelche Verträge und Absichtserklärungen“, sondern die hiesigen Anschauungen ins Schulzimmer.

In den bayrischen „Verfassungsschutzberichten“ firmiert der Protest gegen die Neutronenbombe und die neuen Mittelstreckenraketen als Teil einer „international gesteuerten kommunistischen Propaganda“. Das ist in den Berufsverbotsverfahren gegen den Arzt Bremberger bei der Bundes-
wehr und der Landesversicherungsanstalt von makaberer Aktualität.

Die anhängigen Verfahren wegen Friedensengagements verantwortet meist noch Tandlers Vorgän-
ger als Innen- und Verfassungsminister: Dr. Alfred Seidl, der Kriegsverbrecheranwalt, der 1959 nicht Staatssekretär wurde, weil er weiterhin die deutschen Hitlergegner zu den eigentlichen Kriegsschuldigen erklärte. Vor mir liegt die Ausgabe der neonazistischen Deutschen Nationalzei-
tung vom 24. Juni 1966, Seite 8, wo Seidl zugunsten von Rudolf Hess die Meinung vertritt, dass

„nach geltendem Recht auch der Angriffskrieg und der Krieg unter Verletzung internationaler Verträge … ein zulässiges Mittel zur Verfolgung nationaler Ziele ist“.

Die Opfer Seidlscher Friedensberufsverbote behaupten allerdings einen diametral entgegenge-
setzten Standpunkt, und zwar trotz ihrer existenziellen Notlage mit radikalem Ausschließlich-
keitsanspruch: Nur der ihre ist verfassungstreu! Darum ist der Kampf entbrannt. Nichts kenn-
zeichnet treffender den wahren Konfliktstand.

Am 4. Oktober 1976 wurde der parteilose Lehramtsanwärter Hausladen in der Regierung von Schwaben wörtlich gefragt: „Gut, Ihre Angehörigen wurden also vom totalitären Nationalsozialis-
mus getötet oder eingesperrt und Sie wollen ein ‚Antifaschist‘ sein.Wie bekämpfen Sie dann aus dieser Haltung heraus heute die osteuropäischen Staaten?“ Hausladen wies die Infamie zurück und wurde vom Vorbereitungsdienst zurückgewiesen.

Mit Hilfe der wohlwollend klingenden Quasipädagogik des „höchstpersönlichen Gesamteindrucks“ des vom Verfassungsschutz belieferten Subalternbeamten vom Bewerber und seiner „notgedrun-
gen instinktiven Persönlichkeitsprognose“ erklären Gerichte so manchen halbfaschistisch-ver-
schwitzten Galimathias für unüberprüfbar und damit rechtens; und eben diese Judikate werden dann weiterhin als richterliche Wertentscheidung in den verfassungspolitischen Grundsatzfragen gehandelt, um die es drunten bei der „Anhörung“ gegangen war: eine ebenso primitive wie gefähr-
liche Normschöpfung, die verfassungsmäßige Wege konsequent umgeht. Gerade die Normativität des Entspannungsprozesses wurde dadurch im Innern schon waidwund geschlagen. Es ist schon Blut im Wasser und die Haie werden rasend. Die Friedensberufsverbote werden mehr statt weni-
ger.

Unablässige Nadelstiche werden unter die Gürtellinie der Entspannungspolitik gestoibert; ihr „weicher Unterleib“ ist ihre mangelnde, gerade durch Berufsverbote konterkarierte innenpolitische Verankerung.

II.

Wie die meisten Formen verdeckter Kampfführung ergeben sich die Friedensberufsverbote aus einer strategischen Defensivposition.

Die Nahtstelle von Entspannungsfeindschaft und Berufsverbot, von Frieden und Verfassung, an der wir neue Quellen in- und ausländischer Solidarität erschließen wollen, ist nämlich auch die Achillesferse der Sieger der Restauration. Hier wie nirgends sonst sind sie tatsächlich auf einen sichtbar ebenbürtigen Widerpart gestoßen: die Friedensbewegung. Sie hat uns nicht bloß das vertraute Klagelied „Verfassung kontra Verfassungswirklichkeit“ hinterlassen, sondern ein Stück Wirklichkeit unter den unverdorbenen friedensorientierten Verfassungsanspruch zurückgezwun-
gen. Bonn muss dabei APO-Kröten schlucken: Anerkennung der Grenzen, Eigenstaatlichkeit der deutschen Nachbarn im Osten, Atomwaffensperre, kollektive europäische Sicherheit – heute KSZE –, wofür man einst als „Staatsfeind“ ins Gefängnis wandern konnte. Die Friedensbewegung erwies sich eben nicht einfach als Träger eines „hilflosen Antifaschismus“ und „unerfüllter“ progressiver Verfassungspostulate, sondern als realer Ordnungsfaktor des Hier und Jetzt auf der Basis einer seit der Niederringung des Faschismus etablierten, objektiv antifaschistischen Autoritätsstruktur die-
ser Welt und ihres Anpassungsdruckes auf unser Land.

Das Strauß’sche Leitmotiv „Der zweite Weltkrieg ist noch nicht zu Ende“ – unter tosendem und abertosendem Beifall übernimmt es noch heute das Grundanliegen des faschistischen Raubkrieges! – hätte uns in Schutt und Asche gelegt, wenn nicht eine starke „Autorität“ dawider gestanden hät-
te, und zwar laut Bayernkurier „die Volksfront aus Kommunisten, moskauhörigen SPD- und FDP-Mitgliedern, Anarchos, Haschdealern, Homos und Scheckbetrügern“, zu deutsch: wir. Ob wir uns den Kommunisten oder den erwähnten Bündnispartnern zuzählen, unser Rang als schranken-
setzende Kraft wird deutlich respektiert.

Wer den unübersehbar realen Einfluss der Friedenskräfte auf die Verfassungsqualität bestreitet, zieht jeder dem Kalten Krieg nachfolgenden, auch gut konservativen Realpolitik den Verfassungs-
boden unter den Füßen weg. Er zerstört nicht nur das versöhnungsorientierte Wertideal der Ver-
fassung, sondern ihre integrative Funktion, ihren unverzichtbaren Anspruch, die Form der ent-
scheidenden Ordnungsfaktoren zu sein, d.h. nicht nur das „Wie“, sondern auch das „Dass“ der Verfassung. Das sehen übrigens viele Verfassungsrechtler und Richter im exklusiven Gespräch genauso, wenn auch die politisch und juristisch unsterblich blamierten Hallstein-Doktrinäre weiter das große Wort führen.

In der mehr oder minder silbergrauen Landschaft demokratischer Nachkriegsbewegungen konn-
ten die Friedenskräfte zeitweilig in die Offensive kommen, das Staatsverständnis tangieren, im An-
satz verfassungsmächtig werden. Dagegen sind die Entspannungsgegner, vornehmlich die bayri-
sche CSU-Regierung, nach einem Dreistufenplan vorgegangen, der klüglich in die subalternen Friedensberufsverbote einmündet, um von diesen wiederum in die hohe Bundespolitik „verfas-
sungsjustiziell“ auszuschwärmen.

Erste Stufe ist selbstverständlich die breit angelegte, gegen die Entspannungspolitik gerichtete Umweltverschmutzung auf politisch-ideologischem Gebiet. Da firmieren die Verträge als „natio-
naler Verrat“, „Ausverkauf Deutschlands“, „masochistische Unterwerfung unter das Diktat Mos-
kaus“, „dilettantisch ausgehandelte schlechte Zwischenlösung“, die Entspannung als „Rauschmit-
tel“ und „Trick, um Europa unter sowjetische Hegemonie zu zwingen“.

Die zweite Stufe war der abstrakte verfassungsgerichtliche Einstieg. Die bayrische Staatsregierung klagte beim Bundesverfassungsgericht gegen den Grundlagenvertrag mit der DDR; befreundete „ostdeutsche Grundbesitzer“ zogen mit einer Verfassungsbeschwerde gegen den Vertrag mit Polen nach: Paradigma für alle Ostverträge und feierlich unterzeichneten Entspannungsdokumente. Das Bundesverfassungsgericht urteilte am 31. Juli 1973 (bzw. 7. Juli 1975), dass diese völkerrechtlichen Verträge nur „nach Maßgabe unseres innerstaatlichen Verfassungsrechtes“ gelten dürften.

Man erinnert sich des Königs Ibn Saud, der internationale Verträge mit nach zwei Tagen unsicht-
barer Tinte unterschrieben haben soll, oder an Johannes Balthazaar Vorster, der die einschlägigen UNO-Bestimmungen für unverbindlich erklärte, weil sein Oberster Gerichtshof in Pretoria so hartnäckig auf dem Rassismus beharre.

Nach diesen Urteilen frohlockte in der FAZ vom 21. Januar 1977 ein Mann der rabiatesten Straf-
justiz des Kalten Krieges, Bundesrichter Günther Willms: Wer jetzt noch zusammen mit der rest-
lichen Welt einen rechtlichen Unterschied sieht zwischen der BRD/DDR-Grenze oder Oder-Neiße-Grenze und derjenigen zwischen Bayern und Hessen, darf als Verfassungsfeind keinesfalls Refe-
rendar oder gar Friedhofsgärtner werden. Und so verspricht der Kanzlerkandidat der Union prä-
zise, „die Verträge zu achten nach Maßgabe unseres eigenen Verfassungsrechts“. Auf der verfas-
sungsgerichtlichen Ebene ist aber die Formel vom innerstaatlichen Verfassungsrecht noch abstrakt geblieben.

Wie aber verhält sich unser inneres Verfassungsrecht zu den konkreten Fragen der Friedenssi-
cherung, Friedenserziehung, Abrüstung und Zusammenarbeit? Nun, das entscheiden drunten im tiefen Dixie die Oberregierungsräte und Richter in Augsburg, Ansbach, Regensburg, Ampfing, Schnaitzlreuth, Sonthofen und Passau – die ja unter Strauß, Tandler und anderen nachtragenden Herren weiterkommen und keine Nuance liberaler erscheinen möchten als der Mitaufstiegsbe-
werber im Amtszimmer nebenan – am mutmaßlich schwächsten Frontabschnitt, wo friedensen-
gagierte Berufsanfänger um ihre Existenz ringen müssen. Da wird hohe Politik auf ein quasi-kriminalistisches Niveau gedrückt. Da soll sich gleichsam Kurt Waldheim vor Edmund Stoiber krümmen und winden wie der glücklose Ersttäter unter dem Flammenschwert des Polizeiin-
spektors, damit das Weltbild wieder stimmt. Da meint man als Anwalt manchmal, einen an die Armsünderbank gefesselten Gustav Heinemann vor dem auftrumpfenden Redaktionskollegium des Bayernkurier zu verteidigen. Das ist die dritte und in jeder Hinsicht unterste Stufe.

Wenn wir jetzt den Dreistufenschritt auf den Kopf stellen, haben wir die Friedensberufsverbote im strategischen Konzept: Aus dem boarischen Urschlamm soll der Geist emporsteigen, der die hart errungenen internationalen Ordnungsbegriffe erfüllt und auslegt, statt dass umgekehrt das Ord-
nungsprinzip friedliche Koexistenz den boarischen Urschlamm veredelt.

Hut ab vor den Opfern! Kein Demokrat hat sich von anderen Demokraten distanziert, auf „miss-
brauchten jugendlichen Idealismus“ herausgeredet oder sonst um Rang und Stand gebracht. Auch in der erbärmlichsten existentiellen Nötigungssituation schützen sie ein integrales Stück Staats-
autorität, vom Kalten Krieg differierende Verfassungswirklichkeit, diesen Staat in seinem verbind-
lichen Selbstverständnis als Entspannungspartner gegen seinen entspannungsfeindlichen inneren Gegner. Der hat allerdings einen entscheidenden Punktsieg schon erreicht, wenn sich ein obsiegen-
des Urteil nur seiner liberalen Toleranz für randständige Freiräume und ähnliches berühmt. Der Kriminalisierungs-, Isolierungs-, Subalternisierungs- und Infantilisierungsdruck wirkt ja keines-
wegs nur auf die Opfer.

Als Kirchenpräsident Niemmöller 1954, im kältesten Kalten Krieg, als erster nach Moskau fuhr und bei der Rückkunft grässlich beschimpft wurde, meinte er: „Wenn Eintreten für Frieden und Völ-
kerverständigung Kommunismus ist, – gut, dann bin ich ein Kommunist!“ Diese Haltung sollten wir heute als eine durchaus durchschnittsbürgerliche beanspruchen.

III.

Die Schlacht tobt um den verbindlichen Begriffsinhalt der Friedlichen Koexistenz.

Ist sie Variante DES Kalten Krieges oder Alternative ZUM Kalten Krieg? Setzt sie dem ungehemm-
ten Antikommunismus Schranken oder etwa umgekehrt? Die Antwort fällt umso eindeutiger aus, als die Bundesrepublik Vereinbarungen exakt mit dem Inhalt abschloss, den die Opposition im Bundestag ablehnte. Die Verträge definieren wie auch noch die Schmidt/Breschnew-Erklärung in Bonn am 6. Mai 1975: „Friedliche Koexistenz bedeutet nicht nur Zustand des Nichtkrieges, son-
dern Zusammenarbeit zum gegenseitigen Vorteil.“ Der weltpolitische Koexistenzpartner ist also nicht Störfaktor, sondern Ordnungsfaktor, den wir in einer produktiven, aus seinem eigenen ge-
schichtlich-gesellschaftlichen Lebensgesetz heraus, glaubwürdigen Rolle anerkennen und bean-
spruchen: mit uns aus dem universalen Selbstwert Frieden andere Werte abzuleiten und zu ge-
meinsamen Aufgaben und übergreifenden Zielen zusammenzuwirken.

Eine solche Konzeption riecht hierzulande durchaus nicht nach Friede, Freude, Eierkuchen – eher nach Leiche im Keller –, sie enthält Spannung und Schwere, Widerstand und Verbindlichkeit. Wahr ist, was weh tut. Und wir hier – an der Nahtstelle von Friedensordnung und Staatsverfas-
sung – möchten’s so wenig wie Strauß verwischen: Die Koexistenzformel ist ein schier unerträgli-
cher (eben „berufsverbotswürdiger“) Einschnitt in ein Ordnungsdenken, das im antikommunisti-
schen Freund-Feind-Schema eine so totalitäre und unflexible Staatsdoktrin besitzt, dass durch jede Bresche eine Sturzflut zurückgestauter Verunsicherungen hereinbricht. Sie berührt das bundes-
deutsche Staatsverständnis in seiner besonderen Tabuzone: der genetischen und funktionalen Ab-
hängigkeit des demokratischen Zustandes vom Weltsozialismus.

In das europäische Jahrhundertverdienst, eine bürgerlich-demokratische Verfassung bei uns er-
möglicht zu haben, teilen sich Oberlandesgerichtsräte und Rotarmisten in einem sehr ungleichen Verhältnis. „Ohne Stalingrad kein Grundgesetz!“ steht als Menetekel über dem Chefdenker-Stammtisch der Golo Mann, Fest, Haffner, Augstein, die auf ihre verfassungsverräterische Miss-
geburt, „der tiefere historische Sinn des Nationalsozialismus (sei) die Grundlage dieser Bundes-
republik“, ihre pluralistisch ausgewogenen Gläser klingen lassen.

Unsere Justiz verdankt ihre großen rechts- und sozialstaatlichen Chancen den Millionen Kommu-
nisten, die ihr Leben hingegeben haben, das braune Regime niederzuringen und der ihm zugrunde liegenden Sinnesart (besonders der „Ratten-und-Schmeißfliegen“-Sinnesart) weiterhin gediegene Machtgrenzen zu setzen. Unsere bürgerlichen Nachkriegsverfassungen haben immerhin die marxi-
stische Kernthese aufgenommen, dass ungezügelte Monopolmacht nicht nur die innere Freiheit er-
stickt, sondern unweigerlich auch die Nachbarn bedroht. Die Koexistenzformel besiegelt die schwindende Faszination des klassischen Sozialimperialismus, des Verderbers zweier Generatio-
nen: Die den Frieden wollen und die soziale Verbesserungen wollen, sind dieselben; das war eine Ewigkeit verschüttet und ist wieder halbwegs selbstverständlich.

Nicht erst als aktiver Koexistenzpartner, sondern als bloßer Machtfaktor hat der Sozialismus unser verfassungsmäßiges Ordnungsgefüge mitgeprägt, z.B. durch den heilsamen Zwang zur nichtkriege-
rischen Verarbeitung expansiver Triebkräfte und die Festlegung gesellschaftspolitischer Schwer-
punkte des Systemwettbewerbs.

Als nationale Fortschrittskraft hat der „Staatsfeind“ Sozialismus den Hauptanteil an der Demokra-
tiegeschichte, am antifaschistischen Blutzoll, an den vitalen geistigen Entwicklungen, an den so-
zialen und friedlichen Errungenschaften des status quo. Als internationaler Friedensfaktor aber war er bei uns unmittelbar zugleich Rechtsstaatsfaktor, der unser nachfaschistisches Verfassungs-
leben vor so manchem gefährlichen Abenteuer und antizivilisatorischen Rückfall bewahrt hat. Es verdankt ihm die Kategorie der Grenze, damit die der Form und Struktur.

Die Koexistenzformel erklärt diesen ganzen Realbefund zur zukunftsweisenden Norm. Sie ist die Herausforderung an unser Verfassungsdenken, mit sich selbst ins Reine zu kommen.

Immer ist es auch die friedliche Koexistenz als Klammer von Friedensordnung und Staatsver-
ständnis, auf die Strauß den Angriff konzentriert. In seiner Bundestagsrede vom 17. Januar 198o sagt er:

„Jawohl, es gibt eine Notwendigkeit der Entspannung insofern, als sie in eine bestimmte Wertord-
nung, einen echten Zielkonflikt und moralischen Ausleseprozess, die Priorität der Freiheit einge-
baut werden muss. Der Unterschied der gesellschaftlichen und. weltanschaulichen Systeme macht doch das Wesen der Spannung aus. Wir haben uns immer gegen diese Wertneutralität gewandt, mit der sie als gleichrangig behandelt werden. Aber für unseren politischen Violinschlüssel darf nicht verloren gehen, dass wir Spannung riskieren müssen, wenn wir für die Freiheit im ganzen Deutschland in ost- und südosteuropäischen Regionen eintreten.“

Unverändert konzipiert er die „Koexistenz als Übergang des kalten Krleges vom Stellungskrieg zum Bewegungskrieg. Entspannung und Koexistenz verkehrt er rabulistisch in ihr Gegenteil, ohne dass ihm übrigens seitens der Koalition definitorische Richtigstellung widerfährt. Erst torpedierte er die Verträge und die KSZE wegen ihres „unwiderruflichen Inhalts“ als „Staatsbegräbnis erster Klasse“ für den Kalten Krieg nach innen und außen, das totale antikommunistische Feindbild. Jetzt ver-
spricht er kanzlerschaftliche Vertragstreue, falls der „Verrat an Adenauer“ Adenauer nicht verrate, das Staatsbegräbnis die Leiche wiederbelebe und hierüber ein Konsens zu erzielen sei.

Es gibt noch eine dritte, auch formal offen vertragsnihilistische Position. Der bayrische Wehr-
bereichskommandant Generalmajor Kessler belehrte die Rekruten ausgerechnet zum Gedenken des Kriegsanbruchs am 2. September, solange es auf der Welt eine aggressive Lehre wie den Mar-
xismus gebe, könne es keinen Frieden geben.

Das bayrische Innenministerium beliefert Berufsverbotsverfahren in letzter Zeit mit einer Experti-
se, bestehend aus Zitaten sowjetischer Autoren, die teils das sowjetische Eigeninteresse an Ent-
spannung hervorheben, teils Erwägungen anstellen, dass die Entspannung den Erpressungsma-
növern der Rüstungsgewinnler den legitimatorischen Schein entzieht, gesellschaftlichem Konflikt-
bewußtsein mehr Raum gibt, kurzum: den Klassenkampf fördert; – deshalb seien Koexistenzan-
hänger nicht nur Verfassungsfeinde, sondern direkte „Einflussagenten“ des Ostens. Die Verwal-
tungsgerichte Ansbach und Augsburg meinten zu Lehner und Häberlein: Friedensregelungen, die nicht auch den Interessen der sozialistischen Länder entsprechen, gibt es nicht; – wer sich dafür engagiert, ist also nie antikommunistisch und freiheitlich-abendIändisch genug. Vorläufig ist das noch der rechte Flankenschutz für die bisherige Hauptlinie, die Vertragsbegriffe selbst bis zum äußersten rechten Spannungspunkt umzubiegen.

Sind die KSZE-Beschlüsse der Konvergenzpunkt des staatlichen Selbstverständnisses der Teilneh-
merstaaten? Oder sind sie ein höchstfatalerweise auf diplomatischer Ebene geglückter Einbruchs-
versuch des präsumtiven Staatsgegners, gegen den man jetzt die innerstaatlichen Reihen umso fester schließen muss? Ist die friedliche Koexistenz Entwicklungsprinzip der Völkergemeinschaft, der Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechtes, Garant der nicht expansionistischen Austra-
gung sozialökonomischer Widersprüche außerhalb militärindustrieller Scheinlösungen und damit auch Strukturprinzip jeder sozialstaatlich-demokratischen Verfassung? Oder ist sie belächelte Po-
se, verfassungsirrelevante Kampfpause im Weltenbrand, taktischer Winkelzug, wohlfeile Denun-
ziationsformel gegen den Splitter im Auge anderer?

IV.

Hier kämpft Konzeption gegen Konzeption. Dabei bieten Friedensberufsverbote den Entspan-
nungsfeinden eine taktisch optimale Kampfform im taktisch optimalen Mischungsverhältnis von Verbindlichkeit und Unverbindlichkeit, von Chuzpe und Vorsicht. Durch das Einfallstor der „in-
dividuellen Eignungsprüfung im öffentlichen Dienst“ werden indirekte, flexible, unablässige, breit gestreute und damit gesamtstrategisch effiziente Angriffe gegen die Entspannungspolitik und ihr zentrales Begriffsinstrumentarium vorangetragen. Sie bleiben unterhalb der Risikoschwelle förmli-
cher Gesetzgebungs- und Verfassungsgerichtsverfahren mit ihrer irreparablen Selbstbindung, die spätere Anpassungmanöver – denken wir an die Hallsteindoktrin und das KPD-Verbot – nur unter blamablen Kontinuitäts- und Glaubwürdigkeitsverlusten erlaubt. Das ist Brzezinski en miniature, der ja auch dturch kalkulierte regionale Kriege unterhalb der schwelle des „großen Krieges“ siegen will.

Das Friedensberufsverbot ist rechtsextreme Opposition, die als rechtsförmige Regierungsautorität einher stolziert. Im Rahmen obrigkeitlicher Einzelakte zeiht eine nachgeordnete Staatsebene die oberste Staatsebene der Staatsfeindlichkeit. Der Inhalt der Verträge, die aktive Koexistenz als Ver-
fassungssäule, der partnerschaftliche Status auch sozialistischer Länder werden meist gar nicht erst kritisch zerpflückt, sondern durch beredtes Schweigen als feindlich vorausgesetzt. Derlei ju-
stizielle Primitivpolemik meidet zunächst das weltpolitische Flutlicht und sucht die regionale Grauzone. Das Friedensberufsverbot startet als Kleines Welttheater in der Provinz, im rabiat be-
sitzbürgerlichen CSU-Milieu (in das ich z.B. den Typus sudetendeutscher SPD-Stadtrat mit ge-
meinnützigen Wohnungsbautantiemen durchaus einbeziehe): wo man die UNO längst als kom-
munistische Tarnorganisation beargwöhnt, bei aller formaljuristischen Schulung zwischen Kossy-
gin und dem Schinderhannes nicht immer fein genug zu differenzieren gewillt ist, und wo Amts-
personen schon mal aus Angst vor gesellschaftlicher Verfemung dem bundespräsidialen Hände-
druck Dr. Heinemanns ausgewichen sind. „Uns interessiert eigentlich nur, ob sie Ihrer ganzen Art nach zu uns hier passen“, sagen Anhörungsleiter – im Einklang mit dem sogenannten Radikalen-
beschluss des Bundesverfassungsgerichtes vom Mai 1975: der überlieferte Öffentliche Dienst soll sich – als wäre er durch alle Regimes engelsrein geblieben – aus sich selbst regenerieren; das überlieferte Witterungsvermögen für das Andersartige trifft die Auslese; tieferes Interesse für die Verfassung und ihre Möglichkeiten ist dabei eher verdächtig, weil man „sich schon im Bestehenden wohlfühlen soll“. Grob gesagt: Verfassungsrecht wird zum Hordeninstinkt und dieser wiederum zum Verfassungsrecht.

Die innerdienstlichen politischen Vorgaben – z.B. „Koexistenz ist bolschewistisch!“ –, die der Ein-
stellungsleiter zu exekutieren hat, werden zum monströsen „höchstpersönlichen Eindruck“ hoch-
stilisiert, der sich jeder rechtsbegrifflichen Kontrolle entzieht. Die säkularen Fragen der Friedens-
sicherung, der Friedenserziehung, der Geistesgeschichte, der Gesellschaftspolitik und Verfassungs-
entwicklung, um die es der Gesinnungsinquisition naturgemäß geht und die – wenn nicht über-
haupt der Politik – nur den höchststufigen Organen und Verfahren vorbehalten sind, die das insti-
tutionelle Wesen des modernen Verfassungsstaates ausmachen und in 400 Jahren Rechtskultur erarbeitet sind, – gerade sie schnurren so zum gestaltlosen Moment „freien“ Subalternermessens zusammen wie in der Astronomie ein Sternsystem in ein sogenanntes „schwarzes Loch“ zusam-
menfällt. Aus jener Nacht, in der alle Katzen grau und Dantes Schemen zu ewiger Gestrigkeit ver-
dammt sind, wird der „höchstpersönliche“ entspannungsfeindliche Sprengsatz als trojanisches Pferd – besser: als „unüberprüfbare“ trojanische Nußschale – in die höchstrichterlichen Instanzen hochgeschmuggelt und zu verheerender Wirkung gebracht. Blitzschnell streifen nämlich jetzt die Entspannungsfeinde den bescheidenen Psychologenkittel ab: Endlich habe ein oberstes Verfas-
sungsorgan die „richtige“ Wertentscheidung besiegelt und zum gemeinverbindlichen Grundsatz gemacht. Gerade sozialdemokratische Minister fühlen sich damit „richterlich gebunden“ und zeigen wenig Interesse, auch nur den Etikettenschwindel aufzudecken. Diese letzte Stufe hat das Friedensberufsverbot noch nicht erreicht, steht aber – wie andere Berufsverbotsbereiche lehren – kurz davor.

Friedensberufsverbote tragen einen Tarnanzug. Unter einem Papierwust respektgebietender be-
amtenrechtlicher Formalien verbergen sich die entscheidenden politischen „Hämmer“ in wenigen übelgelaunten Floskeln. Einen wichtigen Tarnungsmechanismus veranschaulicht ein Vergleich mit einer anderen Gruppe Berufsverbote, deren Angriffsziel die Gewerkschaften, ihre Militanz und ihre Kapitalismuskritik sind. Sie begannen als klassische DKP-Fälle: Ihren denunziatorischen Schwer-
punkt legte man aber keineswegs auf Aussagen, die einen Heinz Oskar Vetter und einen Herbert Mies trennen, sondern – immer unter der Überschrift DKP! – auf den breiten Bereich, der ihnen gemeinsam ist. Mit dem antikommunistischen Knüppel wollte man die Gewerkschaften abschrek-
ken, sich rechtzeitig mit sich selbst zu solidarisieren. Als dann die formale DKP-Hülle fiel und die ersten Berufsverbote nur mit gewerkschaftlichen Inhalten begründet wurden, war gewerkschaftli-
cher Protest nachhaltig verzögert, seine Glaubwürdigkeit geschwächt. Auch die Friedensberufs-
verbote wurden und werden durch DKP-Fälle eingeleitet und flankiert, bei denen gerade das Friedensengagement als organischer Bestandteil kommunistischer Gesinnung abgeleitet wird, – als Stoßkeil gegen ein Bündnis, von dessen Festigkeit die Chancen sämtlicher Fälle abhängen.

Indirekt attackieren die Friedensberufsverbote jeden Ansatz einer entspannungspolitischen Option und damit nach wie vor den Realpolitikerflügel der sozialliberalen Koalition. Wichtige Vertreter der Bundesregierung erkennen das sehr scharf – einige hier in Saal wissen das aus erster Hand –, sehen aber in der Zwickmühle, in die sie sich mit ihrer eigenen rigorosen Berufsverbotspraxis ge-
gen Kommunisten inzwischen gebracht haben, ihr Manövrierfeld beengt. Sie ziehen es daher vor, eine derart spezifische Provokation gegen Teile der eigenen Politik überhaupt nicht aufzugreifen und als Berufsverbot unter Berufsverboten niedriger zuhängen, wo ihnen selbst doch immerhin nottäte, das von der Entspannungspolitik vorausgesetzte ideelle Umfeld offensiv zu behaupten. Hier im Freistaat der Friedensberufsverbote gibt es zwar sozialdemokratischen Protest dagegen; er schließt aber meistens formal an bereits errungene Prozesserfolge an. Das ist mehr als nichts, aber bei weitem nicht genug. Wir würden lieber mit Hilfe der SPD bei Gericht als mit Hilfe der Gerichte bei der SPD gewinnen.

Wir sind also hauptsächlich auf unsere eigenen Kräfte angewiesen.

V.

Am 11. November dieses Jahres beginnt in Madrid die 2. KSZE-Nachfolgekonferenz, auf der die zwischenzeitlichen Fortschritte des Programms von Helsinki kontrolliert werden sollen. Genscher zeigt sich besorgt, dass dort mehr von Abrüstung die Rede sein könnte als von den Menschen-
rechtsopfern in den östlichen Weiten der eurasischen Landmasse. Als Vorhut der Bonner Regie-
rungsdelegation will der Bayernkurier Herrn Löwenthals Paradepferde, flankiert vom Brüsewitz-Zentrum und vom Witiko-Bund, in Madrid einmarschieren lassen. Da soll es also rund gehen vom einen Nico Hübner zum anderen Amalrik. Da müssen wir da sein – als unabschüttelbare „Ratten und Schmeißfliegen“ des Friedens aus der Bundesrepublik und dem Freistaat Bayern.

Mein Vorschlag: Wir sammeln Geld und schicken nach Madrid auch ein paar weltgewandte Dele-
gierte, repräsentativ als Träger heimischer Friedensarbeit und damit Opfer heimischer Friedens-
berufsverbote. Wir ( – ich melde mich hiermit zum Beraterstab – ) werden nach Inhalt und Form das genaue Gegenteil von Nestbeschmutzerei betreiben. Grundlage und Maßstab unseres Auftre-
tens ist die strikte Übereinstimmung mit der offiziellen Plattform dieser unserer Bundesrepublik zur Koexistenzpolitik, wie sie sich objektiv aus den verbindlichen Dokumenten in ihrer internatio-
nal-gültigen Begrifflichkeit ergibt. Da lohnt es, begleitende Argumentations-, vor allem aber Defi-
nitionshilfe anzudienen, gerade auch im erhellenden Kontrast zu unseren mitgebrachten Friedens-
berufsverboten. Einen internationalen Vertrauenstatbestand wie den Augapfel unseres Landes zu hüten und vor innerem Wurmfraß zu bewahren, verlangt wenigstens die vorhandenen Fäulnisher-
de zu benennen. Jawohl, bei uns gibt es innere Gefahren für eine vertragstreue Koexistenzpolitik, aber auch starke junge Menschen, ihnen unter schweren persönlichen Opfern zu widerstehen und die Vertrauenswürdigkeit proklamierter Koexistenzpolitik zu stützen. Diesen Staat in seiner ver-
bindlichen Wesensbestimmung als Entspannungspartner verteidigen wir mit Löwenmut gegen die inneren Feinde seines kompetenten Entspannungs- und Staatsverständnisses. Unterhalb der regie-
rungsoffiziellen Ebene dürfen wir Madrid nicht der inoffiziellen CSU-Mannschaft überlassen.

Unser diplomatisches Hilfsprogramm für Madrid lautet also exakt: durch Aufklärung über den Kampf gegen die Friedensberufsverbote – und damit über diese selbst – einen langfristigen Beitrag zu leisten zur inneren Authentizität der bundesoffiziellen KSZE-Erklärungen. Diese innere Authen-
tizität ist aktuell gefragt. Mit Friedensproklamationen waren deutsche Regierungen immer freigie-
big. Zugleich sind wir das Land der Bismarckschen Rückversicherungspolitik, der verruchten „clausula rebus sic stantibus": Die Haltung, jederzeit mit des Teufels Großmutter Verträge zu schließen und ihr demnächst lachend ein Bein zu stellen, hat in breiten Schichten Wurzeln ge-
schlagen. Die Begriffspaare Rathenau-Rapallo und Stresemann-Locarno erinnern an die unter-
schiedlichen Optionen, aber auch die Kontinuität des Rückversicherungsgedankens. Nach zwei Jahren deutsch-sowjetischer Vertrag war mit dem Überfall und dem ersten Blitzkriegerfolg sofort die Kreuzzugspsychose inklusive Untermenschenideologie voll da. Friedenserklärungen aus un-
serem Lande werden daher von den Nachbarn nicht geprüft wie eine diplomatische Note, sondern seismographisch abgehorcht auf ihre Verankerung im Innern, und zwar unter der Fragestellung: Trifft dieses Land heute schon ideelle Vorsorge, dass dann, wenn das Ruder um 180 Grad herum-
geworfen wird, keine Reibungsverluste im Staatsapparat und in der Bevölkerung entstehen?

Zu unserer diplomatischen Mission gehört demnach auch, in Madrid die Ebene sichtbar zu ma-
chen, auf der sich Friedensberufsverbote ihrer politischen Natur nach befinden, und so bei den verantwortlichen Beteiligten die Sinne für die Ebene zu schärfen, die sie ihrer politischen Natur nach zwangsläufig immer wieder erreichen. Da hilft kein Subalternisieren und Regionalisieren, kein „höchst persönlicher Eindruck“, kein „rechtsfreies Ermessen“. Jeder hat nur ein Leben, nur einen Beruf, nur einen Prozess und nur ein Forum, um Denunziationen, Definitionen und Ver-
antwortlichkeiten dingfest zu machen. Der Instanzenzug trägt sein Friedensberufsverbot aus der Grauzone hinauf auf die seiner Thematik angemessene Ebene: als internationale Nagelprobe auf die innere Authentizität der KSZE-Teilnahme und die staatliche Identität in einer überstaatlichen Friedens- und Rechtsgemeinschaft. Da interessiert es niemanden mehr, ob die Bestrafung eines Friedensengagements mit Existenzverlust mit formalistischen Spinnereien, richterlicher Abstinenz gegenüber entspannungsfeindlichem Ermessen oder mit offener Parteinahme gegen die Entspan-
nung begründet wird.

Testweise sollten wir in Madrid auch eine Probe ministerieller Hausmannskost servieren, z.B.: „Die gemeinsame entspannnungfeindliche Stoßrichtung dieser Berufsverbote ist rein zufällig; den Aus-
schlag gibt, dass sich für den Frieden auch Leute engagieren, die in den Gewerkschaften offen für ‚soziale Veränderung’ eintreten; das ähnelt auffällig der ‚gesellschaftlichen Umwälzung‘ im Voka-
bular der DKP, die sich überdies zur ‚Lehre von Marx, Engels und Lenin‘ bekennt, wozu man frü-
her einmal ‚Marxismus-Leninismus’ gesagt hat, der wiederum im KPD-Verbot des Bundesverfas-
sungsgerichts unrühmlich erwähnt ist. Deshalb ist es mit der Verfassungstreue der jungen Leute nichts. Der Friede bleibt natürlich eine hehre Idee, mit der aber, wie man sieht, meist Mißbrauch getrieben wird.“ Ich fürchte, die intellektuelle Brillianz derartiger Ausweichmanöver weiß man international nicht zu goutieren.

Auch einer konservativen Staatsräson (die wir als solche respektieren) bleibt eigentlich nur, diese Quelle unkontrollierbarer Ärgernisse und Peinlichkeiten zu verstopfen und die Friedensberufsver-
bote aufzugeben. Denn die Entspannung bleibt trotz aller Rückschläge das internationale Dauer-
thema unseres Jahrhunderts.

VI.

Zwei möglichen Einwänden möchte ich vorbauen:

Können wir eine Teilstrategie gegen die Berufsverbote an ein Konzept anbinden, dessen Kurswert zur Zeit zu fallen scheint?

Abgesehen davon, dass sicher keine Bevölkerungsschicht mehrheitlich hinter dem schrill beschwo-
renen „endgültigen Scheitern der Entspannung“ stehen möchte, setzen wir ja grundsätzlich mehr auf langfristig-solide Normativität als auf kurzfristig-spontane Emotionalität.

Freilich: „Friedliche Koexistenz“ ist anspruchsvoller als „Keine Experimente“ oder schlichte Kriegsfurcht; sie scheint das anstrengende Weltbild eines Philosophen mitten im demütigenden, verunsichernden Alltag der Dauerkrise zu fordern, wo doch ein konventionelles Feindbild mehr persönliche Entspannung verheißt, wo allzuleicht – wie der Dichter sagt – „Aggression und Idylle beieinander liegen“, ganz zu schweigen von der Nazihinterlassenschaft, dem Sockelbetrag an Verhunztheit und Verwilderung. Und wenn auch der ständige atomare Koexistenzzwang auf die Koexistenz als Ordnungsprinzip und unerlässlichen demokratischen Mindeststandard stetig hinerzieht, so ist freilich auch eine Art gefährliche Fremdversicherungsillusion am Werke: Man könne trügerische aggressive Gemeinschaftsgefühle à la 1914 heute straflos aufstacheln, weil die Weltmächte den Knall ja doch verhindern.

Auf unserer Habenseite steht aber eine sensationell neue Generationserfahrung: Der deutsche Teufelskreislauf – Nachkriegsapathie, expansionistische Dynamik, Katastrophe (die das mensch-
liche Lernvermögen überfordert), Nachkrieg usw. – scheint endlich durchbrochen. Mit der Wende zur Entspannung ab Mitte der 50er Jahre wurde erstmals im Frieden der Friede wiederhergestellt, nicht einfach durch internationalen Druck, sondern auch kraft wiedergewonnener demokratischer Substanz und Selbsterfahrung in unserem Lande. Zwar ist den Verantwortlichen der Aufbau eines Aggressionsstaus offensichtlich ein Leichtes, aber ebenso offensichtlich folgt heute nicht mehr die Entladung, sondern ein notgedrungener Abbau. Nicht das Mundspitzen, sondern das Nichtpfeifen-
können, nicht die Anlauf-, sondern die Brechungsphase der fanatischsten Kreuzzügler enthält den normativen Grundtatbestand unserer Gegenwart. Ist die Apokalypse vermeidbar – und das muss unsere Arbeitshypothese sein, sonst brauchen wir nicht weiter zumachen –, müssen Perioden der Rückkehr und des Vormarsches der Entspannung überwiegen. Das sind die Stunden unserer Be-
stätigung. Das ist die Norm. Wer auf einen schlechthin alternativlosen Faktor vertraut, hat sein Haus nicht auf Sand gebaut.

Ein weiteres und gewichtigeres Bedenken nehme ich überaus ernst: Sind es denn nicht gerade die Entspannungsgegner, -umkehrer und -bremser in Washington, München und Bonn, die dem KSZE-Korb III zu den Menschenrechten immerzu gegen den Korb I (Abrüstung) und Korb II (Zusammenarbeit) ausspielen? Würden wir der Carterschen „Menschenrechtskampagne“ als einem erklärten Ablenkungsmanöver gegen Abrüstungsbestrebungen nicht geradezu in die Hände spielen, wenn wir uns unsererseits auf das Menschenrechts-Hick-Hack einlassen? Genau das tun wir eben nicht.

Nicht etwa, weil wir nicht genug und übergenug anzubieten hätten.

Heute steht der Fall Kirschneck in der Presse. In Bayern muss also rnanch sozialdenokratischer Physiker neidig auf Herrn Sacharow blicken, der Physikprofessor bleibt. Dabei hat Kirschnek nicht etwa – wie Sacharow 1974 für Brandt – einen Nürnberger Strick für Breschnew gefordert, weil dieser mit seinem eigenen Regierungschef Entspannung machen will. Einen kleinen Job hat er jetzt endlich in Hamburg, und das ist von München doppelt so weit entfernt wie Gorki von Mos-
kau.

Wenn die bayrischen Hochschulen von marxistischen und sonst gewerkschaftsorientierten Wis-
senschaftlern totalitär gesäubert und mit neuen „Konkordatlern“ und Hanns-Seidel-Stiftlern überschwemmt wurden mit dem Hinweis, ein Pluralismus von katholischen und laizistischen Sozialwissenschaftlern wie in Polen brächte „uns a polnische Wirtschaft ins Haus“, dann gehört das vor die internationale, nicht nur die bayrische oder polnische, akademische Gemeinschaft.

Vor der 1. KSZE-Nachfolgekonferenz in Belgrad sagte unser Bonner Delegationschef Dr. Per Fischer am 9. September 1977, das Communiqué von Helsinki erlaube die Einmischung in das innere Recht der sozialistischen Staaten und gehe diesen vor. Vom gleichen Tage datieren bei uns zwei obergerichtliche Berufsverbotsurteile des Inhalts, dass Menschenrechtskonventionen, die Vereinbarung gegen Diskriminierung im Unterrichtswesen und sonstige von uns ratifizierte Nor-
men nur dann gelten, wenn unsere Richter auch ohnedies zum gleichen Ergebnis gekommen wären, also überhaupt nicht.

In Madrid geht es uns keinesfalls um allgemeine Kampagnen gegen unsere Tausende Berufsverbo-
te oder um irgendwelche Menschenrechtsverletzungen schlechthin. Unsere thematisch zugespitzte Beschränkung muss ganz unmissverständlich sein. Es geht uns ausschließlich um jenen spezifi-
schen Typus Menschenrechtsverletzung, der die äußere Hülle ist, um Minen und Stollen zur Unter-
grabung des verbindlichen Koexistenzbegriffes voranzutreiben, und zum hochwirksamen Angriffs-
instrument gegen die Entspannungspolitik ausgebaut wird. Sicher kann man dabei den politischen Instrumentalisierungsaspket vom individuelIen Verletzungsaspekt der Friedensberufsverbote – und damit von der Gefahr des Abgleitens ins Menschenrechtsdemagogie nicht ganz abkoppeln. Sei’s drum: Gewisse chemische Elemente kann man bekanntlich nur sichtbar machen, wenn rnan sie mit anderen Elementen verbindet.

Die Betroffenen werden nicht eigentlich an internationale Solidarität in ihren Fällen appellieren. Umgekehrt: das Engagement der KSZE, das sie zu ihrem eigenen gemacht, in messbare politische Leistungen umgesetzt, aber mit schweren persönlichen Opfern bezahlt haben, macht sie zu den Gebenden. Als besonders verpflichtete Staats- und Europabürger berichten sie sachlich und un-
sentimental von den Friedensberufsverboten als Instrument verdeckter Kampfführung gegen Entspannungsprozess und Koexistenzbegriff (auch und gerade unserer Delegation aus Bonn).

Anders als Carters Menschenfreunde halten wir uns damit peinlich an die exakte Bedeutung von Menschenrechtskorb III. Sämtliche internationalen Menschenrechtskonventionen – die klassi-
schen von 1948/50 wle die „sozialen“, „wirtschaftlichen“, „politischen“ von 1966 – bestimmen sich genauso wie ihre gemeinsame Grundnorm in Art. 5 Unocharta als Ausfluss und dienende Funktion des „Selbstbestimmungsrechts der Völker“ und der „Stabilität der Friedensordnung“. Umso weni-
ger gibt Korb III der KSZE-Abschlusserklärung ein Einmischungsrecht, sondern verpflichtet die Teilnehmerländer, nicht etwa auf dem Umweg über eine individuelle Diskriminierung der Träger des Abrüstungsgedankens nach Korb I und der systemübergreifenden Zusammenarbeit nach Korb II in ihren Ländern eben diese Körbe I und II, Abrüstung und Zusammenarbeit, nicht gedeihen zu lassen und auszutrocknen.

Wirklich passende 0pfer nach Korb III kann in Madrid also nur unser Land beisteuern. Und da sind wir!

Und vielleicht steuert gerade diese merkwürdige Tatsache ein wenig dazu bei, dass von Korb III ein wenig auf die Hauptnormen I „Abrüstung“ und II „Zusammenarbeit hingesteuert wird.

VII.

Ehe wir’s vergessen: Wir wollen von Madrid etwas haben. Auch für den Kampf gegen alle Berufs-
verbote und den Demokratieabbau schlechthin. Die ewig junge Ostermarschlosung „Unser Kampf gegen die Bombe ist ein Kampf für die Demokratie!“ beflügle unseren gesunden Egoismus zu erfri-
schender Umtriebigkeit. Sie ist nämlich kein außenseiterischer, sondern zentraler Einstieg in den Berufsverbotskampf, der immer schon die universelle Wechselwirkung von Frieden, Demokratie und gesellschaftskritischer Praxis thematisiert hat: die drei Seiten eines je nach Seitenlänge be-
stimmten Dreiecks, das durch Zerstörung einer Seite ganz zerstört wird. In dieser Wechselbezie-
hung sind Berufsverbote kein rechtliches Spezialgebiet oder politisches Konflikt- oder Aktionsfeld neben anderen. Sie sind ein wesentlicher Aspekt sämtlicher gesellschaftlicher Widersprüche und der aus ihnen erwachsenden Alternativen, von denen Strauß – wohl zu Recht – immer jeweils die eine irgendwo letztlich auf den „Sozialismus“ bezieht. Man kann darum die Berufsverbotsfälle in vier Säulen gliedern; ihre Topoi sind zwei Autoritäten und zwei Freiheiten: die Autorität eben unserer Helsinki-Prinzipien (Frieden, Abrüstung, Zusammenarbeit), die Autorität des Antifaschis-
mus, die Freiheit gewerkschaftlicher Militanz und Pragmatik, die Freiheit gesellschaftskritischer Wissenschaft. Die Berufsverbote schalten nicht nur ihre Träger aus oder gleich, sondern führen verdeckten Krieg direkt gegen diese Inhalte, gegen ihre Verfassungsverbindlichkeit oder auch nur -verträglichkeit.

Materiell wird hierzu unserer antinazistischen Verfassung eine ungeschriebene Quasiverfassung übergestülpt: das innerstaatliche Freund-Feind-Schema des wie so viele Nazis offenbar unsterbli-
chen Carl Schmitt, das antikommunistische Denunziationskontinuum, die Stoiber-Skala mit ihrem hochsensiblen Zeigerausschlag. (In diesen Kreis muss ich nicht erläutern, dass man heute unter „Antikommunismus“ nicht eine politische Gegnerschaft, sondern ein totalitäres Leitbild versteht.)

Durchsetzungsform dieses Antikommunismus ist die gezielte Auflösung rechtsstaatlicher Struk-
turen und Begriffe. Wenn eine Organisationsmitgliedschaft bisher noch keine hinreichenden Zwei-
fel am Einstellungsanspruch begründete und jetzt als „schwerstes Dienstverbrechen“ nach 30 treuen Dienstjahren mit der sofortigen Entlassung geahndet wird, hat das nichts mehr mit äuße-
rem Rechtsschein, sondern mit offener politischer Willkür zu tun. Nachdem die Beschwörungsfor-
mel „Es gibt keine Berufsverbote“ so schmählich versagt hat, wird jetzt an allen Fronten der Blitz-
krieg geprobt. Abschreckende tabula-rasa-Entscheidungen sollen über das lästige Dauerthema Friedhofsruhe breiten. Sie begnügen sieh in den „klassischen“ Marxisten-Fällen mit Lessings Pa-
triarchen: „Tut nichts, der Jude wird verbrannt“, stellen ihm aber für die sachbezogenen Berufs-
verbote gegen die vier Topoi den pseudopädagogischen Schrumpfkopf, den antikommunistisch garnierten „Unüberprüfbarkeits"-Grundsatz an die Seite: Eine reaktionäre Vorgabe wird zum unüberprüfbaren „Eindruck“ umgetauft und in den Bereich (abrufbereiter) höchstrichterlicher Wertentscheidungen hochgehievt. So ist auch der Rechtsschutz leer trotz des äußerlich beibehal-
tenen, sozialdemokratischerseits hochgepriesenen formalen Rechtszuges (der neuerdings münd-
liche Verhandlungen, d.h. öffentlichkeitsmobilisierende Momente, wegstreichen darf).

Hier und jetzt müssen wir vor allem die Blitzkriegsillusionäre ernüchtern. Wir respektieren auf unsere Art die gegnerische Dimension der Berufsverbote, ihre Funktionalisierung und Instrumen-
talisierung im Gesamtspektrum hochpolitischer Inhalte. Wir flüchten nicht in Kleinadvokatismus („Ein junger Mensch wird über den Tellerrand gedrängt“), sondern begreifen sie als Chance. Wir binden unsere Berufsverbotsabwehr in die aktuellen Inhaltskonflikte mit ein, in die der verdeckte Krieg der Berufsverbote hinein zielt – Koexistenz, Antifaschismus, Gewerkschaft, Wissenschaft –, gewinnen sachbezogen an bündnispolitischer Breite, auf dass Freund und Feind lieber heute als morgen erkennen: Es sei denn, die Berufsverbote würden abgeschafft, bleiben sie soweit und so-
lange öffentlicher „Dauerbrenner“ wie die hochpolitischen Konflikte, mit denen sie verwurzelt sind und deren politische Ebene sie teilen. Dabei ist die Dauerhaftigkeit des Konfliktthemas für uns wichtiger als die Frage, ob dort der Fortschritt gerade mal in der Offensive oder Defensive ist. In Madrid wollen wir noch rechtzeitig ein Zeichen setzen, das Augenmaß für Größenordnungen schärfen, den Horizont der Verfahren erweitern und dort, wo wir Platzvorteile haben, ein Stück Wirklichkeit in sie hineinzwingen.

Konkret zum Prozessrecht würden wir gerne unseren obersten Berufsverbotsinstanzen folgende gutkonservative Einsicht vermitteln: Ist das strategische Ziel der „Unüberprüfbarkeitslinie“ wirklich realistisch? Dass die Betroffenen, die ja nur einen Beruf haben, sich jeden auch noch so entleerten Instanzenzug hinauf hangeln, ist eine Frage der Selbstachtung und staatsbürgerlichen Verantwortung, nicht unbedingt der Prozessaussichten. Wie bei anderen brisanten Fragen wird sich besonders hier, wo es um das Verhältnis zu globalen Ordnungsprinzipien geht, eine interna-
tionale Öffentlichkeit – je höher die Instanz – immer weniger dafür interessieren, ob hohe deut-
sche Gerichte die Verfechter der friedlichen Koexistenz immer wieder aus eigenen Aggressionsnei-
gungen oder aus angeblich höchstrichterlich aufgezwungenen, undurchsichtigen Ermessensforma-
lismen heraus verurteilen. Im Scheinwerferlicht nimmt die politische Dezision immer strengere Konturen an, bis sie jedweder – besonders einer regierungsoffiziell andersverlautbarten – Staats-
räson zum unzeitigen Ärgernis und Wuell ständiger Peinlichkeit wird. Soll man da wirklich die Untergerichte der notwendigen „FIexibilität“ berauben – ein g’sunder Autoritarismus bedarf der Flexibilität – oder ihnen nicht doch für den Tunlichkeitsfall die formale Möglichkeit zum korrigie-
renden Eingriff’, zu einem ganz kleinen crisis management, belassen, ganz, in Sinne einer realpo-
litisch integrativen Diplomatie? Das kann nicht auf die Madrid-Thematik beschränkt, sondern nur allgemein für alle Berufsverbote geregelt werden.

Dies hieße wieder anzuerkennen, dass die Frage, welcher Standort einen Platz innerhalb unseres Verfassungsspektrums hat, nicht im rechtlichen Nirwana versickert, sondern die revisible Rechts-
frage schlechthin ist. Dies hieße zunächst mal zaghafte Wiederannäherung an Kategorien wie Meinungs-, Wissenschafts-, Vereinigungsfreiheit, Beweislastregelung: lauter rechtsstaatliche Selbstverständlichkeiten. Sie bleiben unsere vordere Verteidigungslinie, der wir gerade dadurch dienen, dass wir neben dem Verletzungsaspekt jetzt auch den Instrumentalisierungsaspekt der Berufsverbote aufgreifen. Schon Clausewitz schreibt, dass der Gegner die vordere Verteidigungs-
linie erst oder wieder respektieren lernt, wenn er auch das Hinterland durch ausreichende Kräfte gedeckt weiß.

Auch an materiellrechtlicher Ausbeute sollte auf längere Sicht etwas für uns abfallen, wenn wir unseren wohlplazierten Stoß gegen die Madrider Schwachstelle der antikommunistischen Ge-
samtideologie und Fälscherverfassung führen, die wiederum Basis sämtlicher Berufsverbote ist: nicht nur derjenigen gegen konsequente Entspannungspolitik, sondern auch derjenigen gegen gewerkschaftliche Militanz, antifaschistische Autorität, gesellschaftskritische Wissenschaft. Zwi-
schen Koexistenz (als aktive Koexistenz) und Antikommunismus (als totalitäres Leitbild) klafft ein unauflöslicher Widerspruch, wie Strauß zutreffend hervorhebt. Wichtigstes Teilstück auf der Ent-
spannungsschiene ist die Koexistenz in ihrem Widerspruch zum Antikommunisnus; – wichtigstes Teilstück der Berufsverbotsschiene ist der Antikommunismus in seinem Widerspruch zu Koexi-
stenz. Dieser Widerspruch zur Koexistenz ist der Schlußstein der antikommunistischen Bogen-
konstruktion, die unsere eigentliche Verfassung überwöIbt und verdeckt. Und an diesem Schluß-
stein machen wir uns zu schaffen.

Von unserer perspektivischen Schlüssigkeit und Glaubwürdigkeit her müssen wir den Widerspruch von Koexistenz und Antikommunismus nicht nur ausnützen, sondern auch auflösen. Eine vorzeig-
bare Konzeption liegt selbstverständlich nicht in der larmoyanten Story, das wahre Grundgesetz würde etwa erst durch Sozialismus „erfüllt“. Für ein geIäutert-konservatives Ordnungsdenken – und ein solches sprechen wir realistischerweise an – ist der Sozialismus aber auch mehr als eine progressive Idee, die in den ausgefransten Randzonen eines bestehenden Ordnungsgefüges liberale Toleranz erheischt und je nachdem gewährt oder versagt bekommt. Er ist vorfindliche Bedingung dieses Status quo, der ohne ihn ein völlig anderer wäre; er ist konstituierender Ordnungsfaktor eben des Aggregatzustandes, den wir notdürftig mit freiheitliche demokratische Grundordnung umreißen. Ihre Definition dürfen nicht jene Kräfte monopolisieren, die den allergeringsten Ver-
dienst daran haben, dass die Schlote von Auschwitz nicht mehr rauchen, während doch die tradi-
tionell demokratiebejahenden Bevölkerungskreise sich durchweg mit den Berufsverbotsopfern solidarisieren. Es kann kein Zufall sein, dass sich ziemlich exakt seit Lenins Friedensdekret von 1917 die Friedenserhaltung und die Massenwohlfahrt (Lukas 2, 14: Frieden auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen) als die beiden Hauptkriterien politischer Leistung durchgesetzt haben, während bis dahin das Jus ad Bellum vornehmstes Souveränitätsmerkmal war und der spätere Vertreter Adenauers im KPD-Verbotsprozess, Erich Kaufmann, ungeniert formulieren konnte: „Das soziale Ideal ist der Sieg im Krieg.“

Nicht überzogene Postulate, sondern nur das unserer Verfassung längst innerliche Wirklichkeits-
material zu verinnerlichen, heißt den zähneknirschend hingenommenen Widerspruch von Koexi-
stenznotwendigkeiten und antikommunistischen Traditionen endlich in einem für unseren Staat – so wie er jetzt ist – funktionablen Verfassungsverständnis aufzulösen, das endlich dem Frieden innere Authentizität gibt, aber endlich auch keine Berufsverbote mehr leidet.

Bekanntlich lebt der Mensch mit seinen höheren Zwecken – und unser Kampf gegen die Berufs-
verbote mit seiner Anbindung an höhere dauerhafte Ziele. Sonst können wir nicht mal den jetzigen Standard halten. Auf nach Madrid!

Hans-E. Schmitt-Lermann


Berufsverbot für die Friedenstaube. Dokumentation einer Veranstaltung, München (1985), 5 ff.

Überraschung

Jahr: 1985
Bereich: Bürgerrechte