Materialien 1985

Schuldvorwurf friedliche Koexistenz

Aus dem Plädoyer von Rechtsanwalt Hans-E. Schmitt-Lermann am 6. November 1985 vor dem 3. Senat des BayVGH im Verfahren Bitterwolf

Fernab aller Gleichheitsnormen und Diskriminierungsverbote unserer geltenden Nachkriegsver-
fassungen sind politische Berufs- und Ausbildungsverbote Konjunkturschwankungen unterworfen und müssen es sein, im Auf und Ab sozialer, politischer, erzieherischer und kultureller Reform- und Wendephasen, des Kalten Kriegs, friedensfähiger Vernunftkoalitionen, apokalyptischer Star-War-Rambos.

Der amtierende Bundesverfassungsrichter Simon nannte sie auf dem Evangelischen Kirchentag „Machtausschwitzungen“ und der führende Bundesbeamtenrechtskommentator Ulrich Battis in den Anmerkungen zu den „hergebrachten Beamtengrundsätzen“ in Art. 33 V Grundgesetz „qualita-
tiv keine wie immer gearteten Verfassungsinterpretationen, sondern interne Abmachungen für tagespolitische Auseinandersetzungen“.

Dass es nicht um Recht, sondern Politik geht, schreibt namens der Minderheit glühender Berufs-
verbotsbefürworter unter seinen Staatsrechtlerkollegen auch Professor Ekkehart Stein 1978 in der Festschrift für Mallmann unter dem Titel „Streitbare Demokratie mit Zipfelmütze“: Die Organisa-
tionsverbote des Kalten Krieges und die 23 Bestätigungen der überholten „Hallstein-Doktrin" durch das Bundesverfassungsgericht hätten sich hinterher als blamabel und wenig opportun er-
wiesen. Statt dessen solle man „die heilige Kuh eherner Verfassungsgrundsätze – hier sei das Par-
teienprivileg nach Art 21 Abs. 2 GG genannt – doch endlich schlachten“, um zu folgender Lösung fortzuschreiten:

„Das Verlangen nach einem Nachweis der Verfassungstreue hat eine ganz andere Funktion. Es soll die als verfassungsfeindlich geltenden Organisationen treffen und so das als ungeeignet erkannte Instrument des Parteiverbotes ersetzen. Wer einer verdächtigen Organisation beitritt oder auch nur eine ihrer Veranstaltungen besucht, muss damit rechnen, hierdurch Zweifel an seiner Verfas-
sungstreue zu erwecken, mit der Konsequenz, dass er niemals einen höheren Beruf ausüben kann. Gleiches gilt für die Mitglieder aller Organisationen, die Kontakte zu einer indizierten Organisation unterhalten. Es soll erreicht werden, dass alle auf dem Index stehenden Organisationen wie Lepra-
kranke gemieden und damit hoffnungslos isoliert werden.“

Wir widersprechen der trefflichen Analyse nicht, halten sie aber für ein zynisches Eingeständnis bewussten und gewollten Verfassungsbruches.

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Das heutige Berufsverbot Bitterwolfs als Probelehrer – es ist sein zweites, nachdem er schon um seinen Vorbereitungsdienst zwei Jahre lang prozessieren musste – stammt aus 1978, dem Höhe-
punkt der CSU-lrredenta gegen die damals noch bundesoffizielle Entspannungspolitik, der ver-
deckten Kampfführung mittels hausgemachter Verwaltungs- und Justizakte und „unüberprüfbarer individueller Beurteilungsfreiräume“. Die Fälle Leonhardt, Häberlein, Lehner, Kolb, Kellndorfer, Stoll, Vinzenz, Rödl und zahlreicher anderer Pazifisten und friedensengagierter Sozialdemokraten wurden instrumentalisiert, um Minen und Stollen gegen die innere Geltung, sprich „Verfassungs-
treue“ qua Polizei- und Geheimdienstfestigkeit, gegen die Grundpositionen voran zutragen, die nach außen bereits völkerrechtsverbindlich waren. Als Anwalt verteidigte man gewissermaßen einen an die Armsünderbank gefesselten Gustav Heinemann gegen das auftrumpfende Redakti-
onskollegium des Bayernkurier. Vor dem Verwaltungsgericht Ansbach gewann Bitterwolf seine 1. Instanz Ende 1982, auf dem Höhepunkt einer die große Mehrheit aller Volksschichten repräsen-
tierenden Friedensbewegung. Seither legte man im Kultus- und Innenministerium, wo die Freunde Reagans und Weinbergers nicht allzu dünn gesät sind, Wert darauf, die heutige Berufungsverhand-
lung mit ebenso zeitraubenden wie listenreichen prozessualen Ehrenrunden solange zu schieben, bis – wie es ganz offen hieß – , „die strahlende Siegeraura der sog. Friedensbewegung verblasst und die Sache politisch ausgestanden ist“.

Von Ihren 144 gegen Bitterwolf gerichteten Seiten, meine Herren Gegner, sind 78 Seiten direkt gegen die „friedliche Koexistenz“ als angeblich verfassungsfeindlichen bolschewistischen Kampf-
begriff gerichtet. Dazu rechnet vor allem auch das von Ihnen global unter Bezug genommene 65 Seiten starke Papier des Dr. Hans Langemann aus 1979, der bekanntlich später seine rechtlich mehr als fragwürdigen Geheimdiensteleien und -bündeleien auch noch an den Meistbietenden verhökerte, wenn er in unserem Verfahren auch bis heute die zentrale Respektsperson geblieben ist.

Der unverrückbare Verfahrenskern ist, dass die mit dem Fall des Klägers maßgeblich befassten Vertreter des beklagten Freistaates zusammen mit der gegenwärtigen bayrischen Regierungspartei die berüchtigte Konzeption, „in einem gewinnbaren Atomkrieg das Reich des Bösen zu enthaup-
ten“ unverhohlen zum Verfassungsauftrag, dafür aber die längst vertrags- und völkerrechtsver-
bindliche Friedliche Koexistenz, vor allem in der Steigerungsform der SPD-programmatischen „Sicherheitspartnerschaft“ zum „marxistischen Landesverrat“ stilisieren wollen, und zwar exakt durch Verfahren der vorliegenden Art.

Um es vorwegzunehmen: Wir bitten hier nicht um pluralistische Toleranz für die friedliche Ko-
existenz, wir klagen ihre alternativlose Rechtsverbindlichkeit ein.

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Die Grundthese des Beklagten, friedliche Koexistenz sei nichts als eine spezifische Parteilosung der KPdSU zur besseren Bekämpfung von Kapitalismus und Imperialismus (beziehungsweise einer da-
mit identischen „Welt der freiheitlich-demokratischen Grundordnung von Guatemala bis Südafri-
ka), die schon qua Anrüchigkeit auch im sozialliberalen Koalitionsvokabular gefehlt habe, ist schlicht falsch. In der „Gemeinsamen Erklärung der Bundesregierung und der Regierung der UdSSR / Bonn 6. Mai 1978“ hat Bundeskanzler Helmut Schmidt die „mirnoje sosuschtschestwo-
wanije“ (Мирное сосуществование) mit seiner Unterschrift für die Bundesrepublik besiegelt. Das ist der russische Terminus technicus für „friedliche Koexistenz’“ – es gibt keinen anderen, auch wenn unsere Zeitungen unverbindlich „friedliches Zusammenleben“ hinein übersetzen wollten. Und Breshnev/Schmidt schreiben weiter fest, dass diese „mehr bedeutet als den Zustand des Nichtkrieges, nämlich konstruktive Zusammenarbeit zum gegenseitigen Vorteil und zum Wohle der Menschen“.

In den Grundsätzen für die Beziehungen zwischen der UdSSR und den USA vom 29. Mai 1972 (Wortlaut in der Süddeutschen Zeitung vom 30.5.1972 „Keine Alternative zur Koexistenz“) gehen SU und USA in Sektion 1 „von der gemeinsamen Entschlossenheit aus, dass es im Atomzeitalter keine Alternative dazu gib, ihre gegenseitigen Beziehungen auf der Grundlage der friedlichen Ko-
existenz zu führen. Unterschiede in der Ideologie und im sozialen System der USA und der SU sind keine Hindernisse für die bilaterale Entwicklung normaler Beziehungen, die auf der Grundsätzen der Souveränität, Gleichheit, Nichteinmischung in innere Angelegenheiten und des gegenseitigen Vorteils beruht“.

Breshnev und Nixon schlossen am 24.1.1974 in Wladiwostok ein vertragsrechtliches „SALT-Ab-
kommen zur Verhütung eines akzidentiellen Kriegsausbruches“ (Wortlaut im Archiv der Gegen-
wart vom 26.11.1974, S.19076 ff.), das die „friedliche Koexistenz“ in der Präambel und zwei Sek-
tionen als Völkerrechtsbegriff enthält: „… bei der fundamentalen Neugestaltung der amerikanisch-sowjetischen Beziehungen auf der Basis der friedlichen Koexistenz und der gleichen Sicherheit …“.

James Schlesinger, der Verteidigungsminister Kennedys, gibt die einzige US-Zeitschrift zu Ost-West-Beziehungen seit 1963 an der Harvard-Universität unter dem Titel „Peaceful Coexistence" heraus.

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Das in den Ablehnungsbescheid inkorporierte Langemann-Elaborat ist auf den Seiten 29 – 46, d.h. der innenministeriellen Verurteilung der Koexistenz, der Abrüstung und der „Rüstungskonversion“ (Umstellung auf zivile Produktion) im DFU-Programn, abgeschrieben aus René Ahlberg, Weltrevo-
lution durch friedliche Koexistenz, Pullach (!) 1963, d.h. von dem aus zahlreichen Verfahren be-
kannten, anonymen, aber dennoch decouvrierten Geheimdienstgutachten wider SHB, DFG-VK, Pax Christi u.a.

Schon der Begriff sei von Lenin geprägt Richtig: als friedliches Nebeneinander von Staaten unter-
schiedlicher Gesellschaftsordnung, als Möglichkeit gewisser Interessenüberlappung und gemein-
samer Interessendurchsetzung, als Roll-back-Strategien entgegengesetztes Aggressionsverbot.

Die eingereichten Anti-Koexistenz-Materialien rennen auch damit offene Türen ein, dass die sy-
stemverschiedenen Partner an den verbindlichen Begriffskern teilweise verschiedene Hoffnungen, Entwicklungskonzeptionen, Einflussmöglichkeiten knüpfen: Sicher verspricht sich die Sowjetpres-
se hiervon Chancen, Westeuropa wirtschaftlich schneller einzuholen, den privatmonopolistischen Rüstungsprofiteuren in USA und BRD den legitimatorischen Schein zu entziehen, antikolonialisti-
schen Bewegungen ohne den Druck einer globalen Pulverfaßatmosphäre mehr Freiraum zu gewäh-
ren, selbst im Systemwettkampf attraktiver zu werden. Andererseits aber versprechen sich führen-
de NATO-Politiker davon den „Brückenschlag“ (L.B. Johnson), die „stärkere Dynamik zentrifuga-
ler Kräfte im Sowjetimperium bis zur unvermeidlichen Auflösung“ (Giscard), freie Hand in der Dritten Welt (Kissinger), „Wandel durch Annäherung" (Egon Bahr und Katholischer Kirchentag) bis zu den handfesten Interessen des Ostausschusses der Wirtschaft. Wegen ihres Einsatzes für die friedliche Koexistenz haben die Revolutionäre Berthold Beitz und Otto Wolf von Amerongen den juristischen Ehrendoktor in Greifswald und Jena bekommen, wobei die Verleiher mit Sicherheit das vom Beklagten angeprangerte „marxistische-leninistische Verständnis der Koexistenz" zu-
grunde gelegt haben dürften: zwei Berufsverbotskandidaten.

Von den beidseits nahezu klappspiegelbildlichen Spekulationen zu scheiden ist der beidseits ver-
bindlich akzeptierte Definitionskern: Koexistenz ist nicht Variante des Kalten Krieges, sondern Alternative zum Kalten Krieg. Der weltpolitische Koexistenzpartner ist nicht Störfaktor, sondern Mit-Ordnungsfaktor, den wir in einer produktiven, aus seinem eigenen geschichtlich-gesellschaft-
lichen Lebensgesetz heraus glaubwürdigen Rolle anerkennen und beanspruchen: mit uns aus dem universalen Selbstwert Frieden andere Werte abzuleiten und zu gemeinsamen Aufgaben und über-
greifenden Zielen zusammenzuwirken; dass es im Nuklearzeitalter Sicherheit nicht gegeneinander, sondern nur miteinander gibt (Kanzler Helmut Schmidt: „Sicherheitspartnerschaft“).

Und genau so ist die KSZE-Schlussakte und das Schlussdokument, das in zehn Punkten die fried-
liche Koexistenz definiert, in Helsinki 1975 verabschiedet worden. Der Begriff der schon seit 1955 durch die Bandung-Konferenzen zum völkerrechtlichen Vertragsprinzip der Nicht-Blockgebunde-nen geworden war, ist nun universales Völkerrechtsprinzip.

Tragikomischerweise versuchen die gegnerischen Schriftsätze Herrn Bitterwolf, die DFU, die DFG-VK und Gewerkschaften mit den aufwendigsten und angestrengtesten Nachweisen zu überführen, dass ihr Verständnis der friedlichen Koexistenz dem der verbindlichen, von der BRD wie der DDR, von Kapitalisten und Kommunisten gleichermaßen unterschriebenen Helsinki-Schlussakte ent-
spricht und nicht etwa – was doch eher „belastend“ wäre – nicht entspricht.

Bis Helsinki hatte die Koexistenz in unserem Lande einen sehr beschwerlichen Weg. Für Anerken-
nung der Grenzen, Eigenstaatlichkeit der deutschen Nachbarn im Osten, Atomwaffensperre, kol-
lektive europäische Sicherheit – heute der KSZE-Prozess – konnte man als „Staatsfeind“ ins Ge-
fängnis wandern. Der Machtelite galt es für lange Zeit ausgemacht, dass

◊ „die eine Hälfte der Welt von Gentlemen, die andere von Banditen regiert wird“ (Richard Jäger),

◊ „die bolschewistische Steppe wieder durch Deutsche kolonisiert werden muss“ (Adenauer 1952, Oberländer 1954, Seebohm 1957),

◊ „die Befreiung der DDR nichts weiter als eine interne Polizeiaktion ist“ (Heinrich Krone 1960),

◊ „die Deutschen von Gott den Auftrag haben, die Hunnen von heute zu Paaren zu treiben“ (Außenminister v. Brentano 1955 zu Millenniumsfeier der Schlacht auf dem Lechfeld),

◊ „Osteuropa bis zum Ural befreit werden wird“ (Walter Hallstein),

◊ „unsere vereinigte Stärke ausreicht, die Sowjetunion von der Landkarte auszuradieren“ (F.J. Strauß 1958),

◊ „das Jahr 2000 nicht das Jahr 83 der Oktoberrevolution werden darf“ (F.J. Strauß 1961).

Das damalige Strauß’sche Leitmotiv „Der zweite Weltkrieg ist noch nicht zu Ende“ (zuerst 1961 in Santa Monica) übernahm unverhohlen das Grundanliegen des faschistischen Kriegskonzepts.

Wir wollen Sie heute, meine Herren Gegner, hierauf nicht festnageln und auch nicht überfällige Distanzierungen anmahnen. Da ist gottlob der Deckel drauf. Denn wir haben ja spätestens seit Helsinki eine sichere, schlichte, gemeinsame Rechtsbasis, der wir Treue schulden, ohne zurück zublicken.

Und so frage ich Sie hiermit, sehr geehrter Herr Oberlandesanwalt, ob Sie als berufener Pro-
zessvertreter namens des beklagten Freistaates Bayern endlich klarstellen können: „Jawohl, die Prinzipien der Friedlichen Koexistenz, wie sie in der KSZE-Schlussakte von Helsinki beschrieben sind, entsprechen der Ordnung des Grundgesetzes und der bayrischen Verfassung!“ Können Sie das, ja oder nein?

(Oberlandesanwalt Helmut Schmidt. „Herr Vorsitzender, darauf brauche ich doch keine Antwort zu geben. Uns interessiert lediglich, dass die DFU im bayrischen Verfassungsschutzbericht unter den 7 ‚kommunistisch beeinflussten Organisationen‘ aufgeführt wird, gleich nach der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes und der DFG-VK.“)

Dann befinden wir uns in guter Gesellschaft, denn die haben alle ihre – übrigens auf Bayern be-
schränkten – Prozesse gewonnen.

Immerhin ist ja auch die DFU die Partei Albert Schweitzers, des Geschwister-Scholl-Vaters Ober-
bürgermeister Robert Scholl, Dr. Erich Kästners.

Unseren internationalen Gästen sollten wir den Münchner Genius loci der jüngsten Affäre um die Freisler-Witwen-Zusatzrente nicht vorenthalten. Das Versorgungsamt und das Verwaltungsgericht sitzen unter demselben Dach in der Bayerstraße 30: Während man im Parterre um die Verfas-
sungstreue pazifistischer und sozialistischer Lehramtsanwärter herumwinseln darf, wird im 1. Stock prognostiziert, Freisler wäre nach dem Kriege in Bayern höherer Staatsbeamter geworden. (Vorsitzender Richter Dr. Bosch: „Wir haben hier kein Verfahren Freisler“).

Dann habe ich noch eine Frage zu den Verfassungsschutzberichten des Herrn Oberlandesanwalts, die uns zum Vorwurf der friedlichen Koexistenz zurückführen: Können Sie mir eine einzige Orga-
nisation nennen, die schon in den fünfziger und sechziger Jahren für die friedliche Koexistenz, neue Ostpolitik, Anerkennung der Grenzen u.ä eingetreten war und nicht im Verfassungsschutz-
bericht stand? (…)

Da muss ich ebenso passen wie Sie. Der spätere Bundespräsident Dr. Gustav Heinemann, der kurz vor der DFU-Gründung mit seiner etwa gleichprogrammierten, oft als DFU-Vorläuferin angesehe-
nen „Gesamtdeutschen Volkspartei“ gescheitert war, stand buchstäblich bis zu seiner Vereidigung als Bundesjustizminister der Großen Koalition als „kommunistisch beeinflusster“ Neutralist im so genannten Verfassungsschutzbericht. Mit ätzender Schärfe hat diese Vaterfigur unserer neuen de-
mokratischen Rechtskultur den „McCarthyismus“ der politischen Justiz und des sogenannten Ra-
dikalenerlasses öffentlich gegeißelt. Wir sind sicher einig, dass er sich nie mit dem Hans-Peter-Urteil des BVerwG vom 29.10.1981 an Verfassungs Statt identifiziert und gar eine allgemeine De-
nunziationspflicht des Beamtenanwärters anerkannt hätte. Der verehrte Präsident Heinemann war immer ein leidenschaftlicher Warner vor dem quasi-totalitären, entspannungswidrigen Antikom-
munismus. Er wäre Ihr bayrischer Berufsverbotskandidat Nr. 1 gewesen. Und seine beiden jungen Männer, der heutige NRW-Finanzminister Posser und NRW-Ministerpräsident Rau, Ihre Berufs-
verbotskandidaten Nr. 2 und 3.

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Auf unsere vorher gestellte präzise Frage weigern Sie sich demonstrativ, namens des beklagten Freistaates der friedlichen Koexistenz einen diskriminierungsfrei-verfassungskonformen Standort geschweige denn die ihr gebührende Rechtsnormalität zuzuerkennen.

Wir haben nunmehr auch Ihren subtilen Völkerrechtsverstoß im Berufsverbotsgewande einzukla-
gen. Wir halten dem Verständnis der Koexistenz als nüchternem Rechtsbegriff schon deswegen unverbrüchliche Treue, weil der politisch-rhetorische Verrat an ihr auf der Schiene Washington-München tollhausartige Züge angenommen hat. Dass sich gegen Bitterwolf in den Ministerien immer wieder die „Falken“ durchsetzen konnten, hat mit den neuen Kreuzzug aus Übersee zu tun, der

◊ „die Sowjetunion zwingt, entweder ihr System zu ändern oder in den Krieg zu ziehen“ (US-Si-
cherheitsdirektor Pipes),

◊ „der der anderen Welthälfte die Wahl gibt, mit einem leisen Winseln oder mit einem großen Knall (with a whimper or a big bang) unterzugehen“ (Caspar Weinberger),

◊ „sich nicht mit Diskussionen abgibt, sondern aktiv die bizarre Geschichtsverirrung Kommu-
nismus auf den Kehrichthaufen wirft (Reagans Londoner Rede 1982),

◊ „die Sowjetunion durch nukleare Erstschlagwaffen enthauptet“ (Pentagon-Paper 1982),

◊ „weil es Wichtigeres gibt, als im Frieden zu sein“ (A. Haig) und seinen bundesdeutschen Adepten:

◊ „Die Sowjetunion bedroht uns nicht durch ihre SS 20, sondern durch ihre bloße Existenz“ (Man-
fred Wörner in der verteidigungspolitischen Debatte Juni 1983),

◊ „Solange es auf der Welt noch eine aggressive Lehre wie den Marxismus gibt, kann es keinen dauerhaften Frieden geben“ (Kommandant des Wehrbereichs VI-Bayern Generalmajor W. Kessler „Zum Gedenken an den Kriegsausbruch am 2. Sept. 1939“),

◊ „Die einzig denkbare Entspannung heißt Priorität der Freiheit und die Durchsetzung unserer Werte. Die sog. Entspannungspolitik hat nur der östlichen Seite Vorteile gebracht“ (F.J. Strauß am 17.1.80 im Bundestag),

◊ „Wer für Entspannung kämpft, darf nicht übersehen, dass heute die sozialistischen Länder Ur-
sache aller Spannungen in der Welt sind; gegen diese Länder muss er also zu allererst kämpfen, wenn er glaubwürdig sein will“ (Theo Waigel, CSU-MdB in der Debatte zur Regierungserklärung 1983),

◊ „Frieden ist kein isolierter Wert; man kann ihn nicht trennen von der Durchsetzung unserer freiheitlichen Grundwerte im Ostblock, denn bis dahin sind sie auch bei uns bedroht“ (Alois Mertes, CSU-MdB 1981).

Frieden wird nur als nachrangiger Wert akzeptiert, der sich dem vorrangigen Kampf gegen die sozialistischen Nachbarländer ein- und unterzuordnen hat.

Das setzt sich auch direkt in die quasi-verrechtlichte Instrumentierung dieser Politik durch Be-
rufsverbotsbegründungen um. Waren Berufsverbote wegen Unterzeichnung des Krefelder Appells (Fälle Häberlein und Voelz) und des KoFAZ-Aufrufes „Beendet das Wettrüsten“ neben Inge Meysel und Bischof Scharf (Fälle Leonhardt und Kolb) noch über angebliche kommunistische Kontakte konstruiert, drischt man zunehmend direkt auf die Koexistenz ein.

Die Verwaltungsgerichte Augsburg und Ansbach meinten noch zu Häberlein und Lehner: Frie-
densregelungen, die nicht auch den Interessen der sozialistische Länder entsprechen, gibt es nicht; wer sich dafür engagiert, ist also nie antikommunistisch-abendländisch genug.

In den Bescheiden der Regierung von Mittelfranken vom 29.7.77 und 16.6.83 gegen die Junglehrer Häberlein und Leonhardt heißt es: „Der kommunistisch geprägte Begriff ‚friedliche Koexistenz’ liefert gute ideologische Ausgangspunkte, die Zusammenarbeit mit Kommunisten als gleichsam normal hinzustellen und in der prinzipiellen Abwehr kommunistischer Gefahren nachzulassen.“ Hier wird die Koexistenz also verdammt, weil sie den Gedanken der Koexistenz fördert.

Im Bescheid des Kultusministeriums vom 27.6.1987 Nr. III A 6 – 4a/768 675 gegen die Volksschul-
lehrerin Cornelia Stoll (DFG-VK) heißt es lapidar: „Die DFG-VK tritt wie die DKP für die friedliche Koexistenz als Voraussetzung aller ‚progressiven gesellschaftlichen Prozesse’ ein.“ Ist sie dafür denn nicht Voraussetzung?!

Schon am 4.10.1976 wurde Lehrer Hausladen von der Regierung von Schwaben gefragt: „Sie haben Ihre Angehörigen durch die Nazis verloren und wollen Antifaschist sein. Wie Wie bekämpfen Sie dann aus dieser Haltung heraus heute die osteuropäischen Staaten?“ Er wies diese Frage zurück und wurde selbst zurückgewiesen.

Auch im vorliegenden Fall interveniert der Verfassungsschutz-Ministerialrat Popp vom BaySt-
MindI – I F 2 – 2015-5/51 – mehrfach gegen das „aufschlussreich prokommunistische Verständ-
nis“ der DFU und Herrn Bitterwolfs von Koexistenz, zielt aber auf deren Wesenskern. So mit Schreiben vom 18.2.80, S. 2: „Aufschlussreich ist auch, welchen Inhalt die DFU den Begriffen ‚Entspannung und friedliche Koexistenz‘ beimisst. Demnach enthält ,Friedliche Koexistenz’ durchaus keine Bestandsgarantie.“ Freilich ist sie nicht dazu da, etwa die Gebrüder Botha vor den 22 Millionen schwarzen zu schützen, oder auch nur die Herren FlicK/Lambsdorff vor den Gewerk-
schaften und dem verehrten Kollegen Schily.

Weiter mit Schreiben vom 9.10.80, S. 2: „Zum Begriff ,friedliche Koexistenz’ ist auf das marxi-
stisch-leninistische Verständnis durch die DFU hinzuweisen, das gerade darin zum Ausdruck kommt, dass Bitterwolf selber sagt: ,… wobei keines der Systeme den Anspruch aufgeben muss, dem anderen hinsichtlich seiner sozial-ökonomischen Ordnung, seiner Formen der politischen Willensbildung oder seiner kulturellen Entwicklung überlegen zu sein’.“

Kläger Bitterwolf hatte innerhalb einer 26seitigen Stellungnahme für die Regierung den zitierten Satz niedergeschrieben und ergänzt, „… dass weder der Kapitalismus noch der Sozialismus der Gegenseite Bedingungen diktieren kann und Friedensregelungen, wenn sie Bestand haben sollen, den gegenseitigen Interessen entsprechen und beiden Seiten Vorteile bringen müssen.“

Treffsicher hat das BayStMindl exakt diese Stelle als die „eigentlich verfassungsfeindliche“ ausge-
macht. Und exakt sie stimmt mit der SPD-Konzeption der Sicherheitspartnerschaft zwischen Ost und West überein und ist eine längst nicht mehr nur sozialdemokratische Konzeption. Sie ent-
spricht dem USA-UdSSR-Grundlagenvertrag von Wladiwostok, aus dessen Sektion 2 Herr Bit-
terwolf hier abgeschrieben hatte.

(Vors. Richter Dr. Dieter Bosch: „Aus Ihrer reichen Erfahrung mit diesem Senat wissen Sie, dass wir bei unseren Entscheidungen meistens ohne die ‚friedliche Koexistenz‘ ausgekommen sind.“)

Damit können Sie nur den Parallelfall des Landesvorsitzenden der Deutschen Friedensgesellschaft-Vereinigte Kriegsdienstgegner Heinrich Häberlein meinen. Sie haben formal gerügt, dass die Für-
bitte des Herrn Landesbischofs und das kirchliche Milieu nicht berücksichtigt wurden. Im übrigen fasst der redaktionelle Kommentar der Süddeutschen Zeitung vom 3.10.1981, Seite 4, unter der Überschrift „Verfassungsfeindliche Verfassungstreue“ treffend zusammen:

„Nicht ganz so eindeutig wollten sich die Richter des Bayer. Verwaltungsgerichtshofes äußern, die über die Verfassungstreue des evangelischen Lehrers Häberlein zu entscheiden hatten. In geradezu peinlich wirkenden formellen Eiertänzen ließen sie ausdrücklich die Frage offen, ob der Begriff der friedlichen Koexistenz nicht etwa doch verfassungsfeindlich sei und ob eine Unterschrift unter den Krefelder Appell nicht doch Zweifel an der Verfassungstreue rechtfertige.“

Sie wissen, dass gerade die rechtskonsevative Presse eine „schlüssige Negativbesetzung“ dieses Be-
griffs durch Sie herausgelesen hat, und zwar durchaus präzise. Ebenso die Behörden. Es ist Blut im Wasser, und die Haie werden rasend.

Die Friedensberufsverbote wurden mehr statt weniger. Unter ausdrücklicher Berufung auf die Ab-
lehnung Bitterwolfs hat die Bezirksregierung Rheinhessen-Pfalz den dortigen DFU-Vorsitzenden und Studienrat Ulrich Foltz entlassen. Den Bescheid vom 9.11.1984 hat Ihnen der beklagte Frei-
staat bereits zu seiner Unterstützung vorgelegt. Er argumentiert auf dreieinhalb Seiten gegen die friedliche Koexistenz, beginnend mit dem Satz: „Soweit der Beamte das Prinzip der ,friedlichen Koexistenz’ bemüht – das wesentliche Axiom seiner politischen Grundüberzeugen –, verkennt er, dass dieser Grundsatz aus dem marxistisch-leninistischen Gedankengut stammt …“

Sie tragen mit einer negativen Entscheidung eine schwere Verantwortung. Im Spannungsfeld: Friedensbewegung und Berufsverbotspraxis, je in Unions- oder sozialliberal regierten Ländern, wird sowohl ein heilloser Lawinen- wie ein heilsamer Polarisierungseffekt von ihr ausgehen. Beides ist letztlich genauso staatsabträglich.

(Vors. Richter Dr. Bosch: „Wir sind nicht die richtigen Adressaten Ihrer Sorgen. Sie wissen, dass wir nach der ständigen Rechtsprechung des BVerwG das freie Ermessen der Behörde nur in einem äußerst engen und formalen Rahmen überprüfen. Wie der Freistaat Bayern die friedliche Koexi-
stenz und andere politische Forderungen und Losungen einstuft, ist seine Sache. Das haben wir in der Sache Charlotte Niess mit Urteil vom 25.11.1977 – Nr. 222 Iil 77 – bereits entschieden.“

Es liegt hier vor mir. Im Anschluss an und im Affront gegen Ihr Urteil hatte Ministerpräsident Heinz Kühn die abgelehnte sozialdemokratische Juristin Niess als Regierungsrätin nach NRW berufen, wo sie jetzt Regierungsdirektorin ist und grüßen lässt. Am Entschluss Herrn Kühns und der Integrität Frau Niess’ gibt es doch wohl nicht mehr den leisesten Zweifel hier herin, oder?

Ihre Hauptbegründung lautete: Die friedliche Koexistenz und andere Grundpositionen der Frie-
densbewegung, ihre Bewertung als verfassungstreu oder verfassungsfeindlich, unterliegt dem unüberprüfbaren „freien“ Behördenermessen, den zum monströsen „höchstpersönlichen Ein-
druck“ hochstilisierten innerdienstlichen politischen Vorgaben – z.B. „Koexistenz ist bolsche-
wistisch!“ – dunkelster Provenienz aus Geheimdienstkreisen ihrerseits dunkelster Provenienz. „Koexistenz“ in der beschriebenen intersystemaren Bestimmung ist eben keine Ermessens-, sondern eine Rechtsfrage. Vorgeschobenes Subalternermessen, Beurteilungsfreiräume, die sich rechtsbegrifflicher Kontrolle entziehen und alle Katzen grau sein lassen, sind schlicht Völkerrechts- und Verfassungsbruch. Die koexistentiellen Vertragswerke sind mit exakt dem Inhalt verbindlich abgeschlossen worden, mit dem sie von der CSU abgelehnt worden sind, und dem haben wir uns alle miteinander zähneknirschend zu beugen.

Es wird wohl einer sehr feinsinnigen Dissertation bedürfen, um die schwer erkennbaren Unter-
schiede auszumachen zwischen der Aussage: „Wir im übrigen von Verfassung wegen unabhängigen Richter sind in politischen Fragen an das freie Ermessen der von uns zu überprüfenden Behörden gebunden.“ und der Aussage: „Wir von Verfassung wegen unabhängigen Richter sind in politischen Fragen an die Weisungen der Exekutive, hier konkret der rechtsstehenden Geheimdienste, gebun-
den.“ Selbst in lateinamerikanischen Putschdiktaturen würden Gerichtshöfe ein solch offenes Be-
kenntnis weit von sich weisen.

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Was hier und in allen „Friedensfällen“ stattfindet, ist die Nagelprobe auf die innere Authentizität unserer KSZE-Teilnahme und auf unsere staatliche Identität in einer überstaatlichen Friedens- und Rechtsgemeinschaft. Da interessiert es niemanden mehr, ob die Bestrafung eines Friedens-
engagements mit Existenzverlust mit disparaten Formalistereien, richterlicher Abstinenz und Verantwortungszurückweisung gegenüber entspannungsfeindlichem Ermessen oder mit offener richterlicher Parteinahme gegen Entspannung begründet wird.

Einen internationalen Vertrauenstatbestand schützen die Betroffenen wie den Augapfel unseres Landes. Es gibt zunehmend innere Gefahren gegen eine vertragstreue Koexistenzpolitik, aber auch starke Menschen, ihnen unter schweren persönlichen Opfern zu widerstehen und die Vertrauens-
würdigkeit einmal proklamierter Koexistenzpolitik zu stützen. Diesen unseren Staat in seiner ver-
bindlichen Wesensbestimmung als Koexistenzpartner verteidigen sie mit Löwenmut gegen die inneren Feinde seines kompetenten Koexistenz- und Staatsverständnisses.

Diese innere Authentizität wird unserem Land immer wieder abgefordert. Mit Friedenserklärun-
gen waren deutsche Regierungen immer freigiebig. Zugleich sind wir das Land der Bismarck’schen Rückversicherungspolitik, der verruchten „clausula rebus sic stantibus“ (die Strauß laut Bayernku-
rier vom 18.6.1983, S. 1, „Die nationale Verantwortung“, ausdrücklich zu gegebener Zeit auf die Ostverträge anwenden will): Die Haltung, jederzeit mit des Teufels Großmutter Verträge zu schlie-
ßen und ihr demnächst lachend ein Bein zu stellen, hat tiefe Wurzeln geschlagen. Die Begriffspaare Rathenau-Rapallo und Stresemann-Locarno erinnern an die unterschiedlichen Optionen, aber auch die Kontinuität des Rückversicherungsgedankens. Nach zwei Jahren deutsch-sowjetischer Vertrag 1939 war mit dem Überfall und den ersten Blitzsiegen sofort die Kreuzzugspsychose nebst Untermenschenideologie voll da. Friedenserklärungen aus unserem Lande werden noch immer nicht geprüft wie eine diplomatische Note, sondern seismographisch abgehorcht auf ihre Veranke-
rung im Innern: Trifft dieses Land etwa heute schon Vorsorge, dass dann, wenn das Ruder um 180 Grad herumgeworfen wird, keine ideellen Reibungsverluste im Staatsapparat und Volk entstehen?

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Es geht aber nicht um eine Apologie des Kommunismus, gegen den man gewichtige Einwände haben kann, sondern der friedlichen Koexistenz. Sie haben ganz Recht. Diese steht im unauflös-
lichen Widerspruch zu einem Antikommunismus als quasi-totalitärem Leitbild, dem sich alle anderen Werte – insbesondere der Frieden – unterzuordnen hätten. Weil die Koexistenz ver-
bindlich ist, ist es der Antikommunismus eben nicht.

Die Überzeugung von der Rechtsqualität der friedlichen Koexistenz hätte für uns Juristen übrigens eine spezifische Folge: den endgültigen Abschied vom juristischen Nazi-Chefdenker Carl Schmitt und seiner bundesdeutschen Schule, seiner „Freund-Feind-Unterscheidung“ als dem „Begriff des Politischen“ schlechthin. Ganz konkret das von Ihnen, Herr Vorsitzender Dr. Bosch, verfasste Ur-
teil gegen die sozialdemokratische Richteranwärterin Charlotte Niess, die heute Regierungsdirek-
torin in NRW ist, bezog sich noch überdeutlich auf Schmitt, seine „Kulturzustände“, „Lebensord-
nungen“, „Hegemonien“, „konkreten Feindbestimmungen“ außerhalb und gegen „geschriebene Verfassungsnormen“. Eine normative Koexistenz ist mit auf absoluten Freund-Feind-Bestimmun-
gen beruhenden Rechtsschulen und ihren vorsätzlichen Rechtsauflösungen und -verwilderungen unvereinbar, – u.a. auch mit der Dreistigkeit des Regensburger Juristendekans Christian Friedrich Schröder, der in der Juristenzeitung 1969, S. 45, zur Debatte stellt, ob es sich beim Friedensgebot des Art 26 Grundgesetz nicht um „die seltene Figur einer verfassungswidrigen Verfassungsnorm“ handeln könnte.

Ich möchte Ihnen in diesem Zusammenhang noch eine konservative Überlegung andienen: Weder Freund noch Feind bestreiten, dass die DFU von ca. 1960 bis 1967 unter den legalen Parteien ein trauriges Monopol auf Koexistenz und Entspannungspolitik (und eine späterhin erfolgreiche Vor-
denkerrolle) besaß. Denjenigen als verfassungsimmanente Kraft zu akzeptieren, der die sonst un-
ausweichliche Kontinuitäts- und Glaubwürdigkeitslücke schließt, ist eine Frage des Anspruchs auf „Autonomie“:

Scheidet der Holocaust als Alternative aus, ist Entspannungspolitik zur periodischen Wiederkehr verurteilt. Soll sie dann als erzwungener Anpassungs- oder als autonomer Reifungsprozess des Staates erscheinen? KPD-Verbot und Hallsteindoktrin, von der Justiz des Kalten Krieges festge-
mauert für die Ewigkeit, sind an den Tatsachen zerschellt; der erhabenen Majestät des Rechts geziemt es jedoch nicht, die Finger erst zurückzuziehen, wenn auf dieselben geklopft wird. Wer dem unübersehbar gewordenen Kern von friedlicher Koexistenz als verbindlichem Ordnungsfaktor des Hier und Jetzt bestreitet, zieht jeder einem Kalten Krieg nachfolgenden, auch gut-konservati-
ven Realpolitik den Verfassungsboden unter den Füßen weg. Er zerstört nicht nur das versöh-
nungsorientierte Wertideal der Verfassung, sondern ihre integrative Funktion, ihren unverzicht-
baren Anspruch, die Form der entscheidenden Ordnungsfaktoren zu sein, d.h. nicht nur das „Wie“, sondern auch das „Dass" der Verfassung. Sie wissen wie wir, dass viele Verfassungsrechtler und hohe Richter das im exklusiven Gespräch ebenso sehen, wenn auch die politisch wie juristisch un-
sterblich blamierten Hallstein-Doktrinäre wieder das große Wort führen.

Lassen Sie mich eine leise Bewusstseinsrevolution an die Oberfläche holen: Auch und gerade wahr-
haft konservativ denkende bayrische Beamte und Richter wünschen heute im Grunde ihres Her-
zens keineswegs die ungezügelte Übermacht der Reagans und Weinbergers, sondern ein ebenbür-
tiges Korrektiv als unverzichtbaren Ordnungsfaktor dieser bestehenden Welt. Strauß benennt auf seine Art recht präzise, wer das ist. Die klassischen bürgerlich-rechtlichen Wertkategorien der Grenze, damit der Form und Struktur, Gefüge, Kontrolle, Zweidimensionalität, Ausgleich, Gleich-
gewicht, Sicherheit, Stabilität, Geltung, deren Verfall und Verwilderung oft beklagt werden, können von daher überleben; sie sind ja reale Funktionen jenes zweidimensionalen Gleichgewichts schlechthin: der friedlichen Koexistenz.

Wir bitten um etwas weniger Langemann und etwas mehr Heinemann.


Koexistenz – verfassungsfeindlich? Dokumente und Stellungnahmen zum Berufsverbotsverfahren Gerhard Bitterwolf, Nürnberg (1985/86), 2 ff.

Überraschung

Jahr: 1985
Bereich: Bürgerrechte