Materialien 2017

Unendlichkeitsgewahrsam, Vorverlagerung des Gefahrbegriffs und Kontrollen in Geflüchtetenunterkünften – Bonbons aus den jüngsten PAG-Novellen

Am Bayerischen Polizeiaufgabengesetz (BayPAG) wurde 2017 kräftig geschraubt. Änderungen durch das »Bayerische Integrationsgesetz« und das »Gesetz zur effektiveren Überwachung ge-
fährlicher Personen« (Gefährdergesetz) weiten polizeiliche Handlungsmöglichkeiten zu Lasten der Grund- und Freiheitsrechte aus.

Plakativ – und öffentlich zumindest beachtet – war die Streichung der zeitlichen Grenze beim sog. Unterbindungsgewahrsam in Artikel 17 BayPAG. Dieser Polizeigewahrsam ist keine Untersu-
chungs- oder Strafhaft, muss also nichts mit tatsächlichen Straftaten zu tun haben, sondern soll durch Wegsperren einer Person Gefahren abwenden. Durch den Wegfall der Begrenzung könnte eine zeitlich unbeschränkte Freiheitsentziehung angeordnet und bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag verlängert werden. Ja, ein Richter muss sie anordnen und alle drei Monate bestätigen, aber mehr Rechtsstaat durch inhaltliche Einschränkungen hielt man nicht für notwendig.

»Gefährderfälle« mit indefiniter Haft sind bisher noch nicht bekannt, allerdings ist eine Handha-
bung bayerischer Polizist*innen, von grundrechtseinschränkenden Maßnahmen nur zögerlich Ge-
brauch zu machen, ebenso unbekannt.

Nicht konkret – drohend!

Noch schwerer wiegt diese Änderung, wenn man die zeitgleich eingeführte »drohende« Gefahr mit betrachtet:

Denn mit dieser Erfindung befreite der Gesetzgeber die Polizei von der lästigen Beschränkung, erst angesichts einer konkreten Gefahr tätig werden zu können. Die Eingriffsbefugnis wird damit vor-
verlagert, die Anforderungen an den Kausalverlauf verringert. Die Wahrscheinlichkeit einer Schutzgutverletzung reicht aus, es braucht keine Verletzung eines Rechtsguts mehr bevorzustehen. Man entledigt sich damit des bundesweiten Grundsatzes: präventives Polizeihandeln erst bei Ge-
fahr.

Artikel 11 Absatz 3 BayPAG gibt nun die Möglichkeit, Maßnahmen zu treffen, um »die Entstehung einer Gefahr für ein bedeutendes Rechtsgut zu verhindern, wenn im Einzelfall 1. das individuelle Verhalten einer Person die konkrete Wahrscheinlichkeit begründet oder 2. Vorbereitungshandlun-
gen für sich oder zusammen mit weiteren bestimmten Tatsachen den Schluss auf ein seiner Art nach konkretisiertes Geschehen zulassen, wonach in absehbarer Zeit Angriffe von erheblicher In-
tensität oder Auswirkung zu erwarten sind (drohende Gefahr)«.

Diese »drohende Gefahr« reicht nun ebenso aus bei:

§§§ Identitätsfeststellung (Art. 13 Abs. 1 Nr. 1b BayPAG)

§§§ Erkennungsdienstlicher Behandlung (Art. 14 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 BayPAG)

§§§ Durchsuchungen von Personen und Sachen (Art. 21 Abs. 1 Nr. 3 und Art. 22 BayPAG)

§§§ Platzverweis, Aufenthaltsverbot und -gebot sowie Kontaktverbot (Art. 16 BayPAG)

§§§ Bild- und Tonaufnahmen bei Veranstaltungen (Art.32 BayPAG)

§§§ Elektronischer Fußfessel (Art. 32a BayPAG).

Problematisch an der »drohenden Gefahr« sind aus bürgerrechtlicher Sicht nicht nur die ohnehin kritisch zu betrachtende Stärkung polizeilicher Befugnisse, sondern dass ein Anknüpfungspunkt geschaffen wurde, der in der konkreten Praxis kaum zu kontrollieren ist. Es wird dabei auf »Wahr-
scheinlichkeiten« und »Tatsachen, die einen Schluss zulassen«, abgestellt. Das ist etwas anderes, als an das Vorliegen konkreter tatsächlicher Anhaltspunkte anzuknüpfen. Denn die Beurteilung einer Situation als potentiell gefährlich lässt ein Vieles mehr an Wertung und persönlicher Ein-
schätzung zu.

Verfassungsrechtlich sei das alles in Ordnung, heißt es aus der Staatskanzlei, schließlich habe man sich am Karlsruher Urteil zum Bundeskriminalamtgesetz orientiert. Das Bundesverfassungsgericht setzte sich tatsächlich mit der Frage staatlicher Intervention vor Entstehung einer Gefahr ausein-
ander. Es ging aber um terroristische Bedrohungslagen – nicht um polizeiliche Standardbefugnis-
se, die jede*n Bürger*in auf der Straße treffen können.

Gefährlich oder gefährdet – Gemeinschaftsunterkünfte Geflüchteter

Die Änderungen durch das sog. Bayerische Integrationsgesetz (das besser Ausgrenzungsgesetz heißen sollte) betreffen hingegen nicht alle, sondern nur Geflüchtete.

In Artikel 13 Absatz 1 Nummer 2 littera c) BayPAG wurde die Ermächtigung ergänzt, die Identität von Personen festzustellen, die sich an einem Ort aufhalten, »der als Unterkunft oder dem sonsti-
gen, auch vorübergehenden Aufenthalt von Asylbewerbern und unerlaubt Aufhältigen dient«. Dies gestattet der Polizei Kontrollen in Geflüchtetenunterkünften jederzeit und ohne zusätzliche Vor-
aussetzungen. Eine entsprechende Ergänzung findet sich in Artikel 23 BayPAG, der das Betreten einer Wohnung regelt. Sie darf zur Abwehr dringender Gefahren jederzeit betreten werden, wenn sie ein gefährlicher Ort ist – und das ist sie, wenn »(…) sie als Unterkunft oder dem sonstigen (…) Aufenthalt von Asylbewerbern (…) dient«.

Mit dieser Befugnis ist kaum dem vordergründig in der Gesetzesbegründung angegebenen Ziel ge-
dient – nämlich der Bekämpfung von Straftaten, deren Anzahl angeblich in und um Gemein-
schaftsunterkünften herum gestiegen ist.

Dafür ist die Norm zum einen ungeeignet, weil das PAG eigentlich gar nicht an Straftaten anknüpft (die sowieso polizeiliche Handlungsspielräume eröffnen), sondern der Gefahrenabwehr dient.

Zum anderen lässt die Gesetzesbegründung außer Acht, dass eine Vielzahl dieser Straftaten gegen die Bewohner*innen gerichtet ist. Geflüchtetenunterkünfte sind gefährdete und nicht gefährliche Orte, wie die Gesetzesnovelle suggeriert und transportiert: Rechtspopulisten griffen schon mit Ge-
nugtuung auf, dass Flüchtlingsheime für die Polizei offiziell »gefährliche Orte« und »No-Go-Areas« seien.

Der bayerische Flüchtlingsrat äußerte sich zu Kontrollen in Unterkünften: »Die Massenunterkünf-
te perpetuieren Retraumatisierungen und halten die Bewohner*innen in einem krankmachenden Status der Unsicherheit. Dazu tragen Polizeirazzien erheblich bei«.

Dem kann man nur zustimmen. Bedeutendster Faktor für eine möglicherweise tatsächlich gestie-
gene Anzahl von Rohheitsdelikten in Unterkünften ist der Lagercharakter, der gerade in Bayern mit den »Abschiebelagern« Manching und Bamberg mit Hunderten Bewohner*innen vorherrscht. Aber auch in Unterkünften mit »lediglich« mehreren Dutzend Bewohner*innen, die unter großer Anspannung, Frustration und (teils behördlich erzeugter) Perspektivlosigkeit leben, sind Konflikte nichts Überraschendes. Wer Straftaten verringern will, sollte Massenunterbringung abschaffen. Bei den Neuerungen im BayPAG ging es der bayerischen Staatsregierung nicht um Kriminalitäts-
bekämpfung, sondern um die Ausweitung des Kontroll- und Sicherheitsstaats und die Stigmatisie-
rung Geflüchteter.

Bayern hat mit den Änderungen im PAG auch im Jahr 2017 einmal mehr seine Vorreiterrolle beim Ausbau polizeilicher Befugnisse zu Lasten der Bürger- und Menschenrechte forciert.

Yunus Ziyal


Till Müller-Heidelberg u.a. (Hg.), Grundrechte-Report 2018. Zur Lage der Bürger- und Menschen-
rechte in Deutschland, Frankfurt am Main 2018, 175 ff.

Überraschung

Jahr: 2017
Bereich: Flüchtlinge