Materialien 2018

Kein effektiver Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen

Die Bayerische Landesregierung missachtet das Primat des Rechts

Am 27. Februar 2018 hat das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) in rechtlicher Hinsicht den Weg für eine Selbstverständlichkeit geebnet: Die schnellstmögliche Einhaltung der Grenzwerte für Stickstoffdioxid, die seit neun Jahren in immer noch über 60 Städten in Deutschland überschritten werden. Lassen sich nur so die Grenzwerte einhalten, so das BVerwG, seien auch Verkehrsbe-
schränkungen für bestimmte Dieselfahrzeuge umzusetzen. Diese Verpflichtung ergebe sich unmit-
telbar aus dem EU-Recht, selbst wenn Deutschland bis heute keine Änderung seiner Plakettenver-
ordnung auf den Weg gebracht habe.

Wer gedacht hat, dass mit dieser Klarstellung des BVerwG politische Vernunft einkehren würde, sah sich getäuscht. Vielmehr, und dies ist das Bemerkenswerte an der Auseinandersetzung, folgten dem Urteil mannigfache Klageverfahren, die eine Schwachstelle unseres Rechtsstaats offenbaren. Ging man bisher davon aus, dass die Exekutive rechtskräftigen Entscheidungen der Judikative folgt, ist diese Selbstverständlichkeit durch die als Dieselfahrverbotsklagen bekannten Verfahren verlorengegangen.

Showdown in Bayern

Plakativ zeigt dies die Auseinandersetzung in München. Die Grenzwerte für Stickstoffdioxid wer-
den in München so stark wie in kaum einer anderen deutschen Stadt überschritten. Die Bemühun-
gen des Freistaats Bayern und der Landeshauptstadt München für eine bessere Luftqualität haben seit vielen Jahren keinen durchschlagenden Erfolg, sie dürften kaum ernst gemeint sein.

Bereits im Oktober 2012 verurteilte das Verwaltungsgericht München den Freistaat Bayern daher, einen Luftreinhalteplan aufzustellen, der alle Maßnahmen enthält, mit denen der Grenzwert schnellstmöglich wieder eingehalten werden kann. Im Februar 2017 konkretisierte der Bayerische Verwaltungsgerichtshof (BayVGH) diese rechtskräftige Entscheidung dahingehend, dass Bayern bis zum 31. Dezember 2017 der Öffentlichkeit ein vollzugsfähiges Konzept zur Einführung von Dieselfahrverboten in München zur Kenntnis zu bringen hat, und drohte ein Zwangsgeld von 4.000 Euro an, wenn er dieser Verpflichtung nicht nachkommt. Auch zur Einleitung der Öffent-
lichkeitsbeteiligung für ein Fahrverbotskonzept und zur Veröffentlichung der betroffenen Straßen-
abschnitte wurde Bayern verpflichtet, und dafür Zwangsgelder von 2.000 und 4.000 Euro ange-
droht. Diese Androhung schöpft in der Summe den maximalen Zwangsgeldrahmen der Verwal-
tungsgerichtsordnung aus, die zur Vollstreckung verwaltungsgerichtlicher Urteile gegenüber Be-
hörden ein Zwangsgeld von bis zu 10.000 Euro vorsieht.

Die Reaktion der bayerischen Landesregierung war, man kann es nicht anders bezeichnen, provo-
kativ. Anstatt die gerichtlichen Verpflichtungen zu erfüllen, bekräftigte der Ministerpräsident vor dem Landtag in einer Regierungserklärung, Fahrverbote nicht umsetzen zu wollen. Mehrere ge-
richtliche Hinweise, dass eine derartige Haltung inakzeptabel ist, blieben unerhört. Auch dass die angedrohten Zwangsgelder festgesetzt wurden, führte zu keiner Änderung des Verhaltens – das Umweltministerium zahlte einfach an das Justizministerium. Die politische Haltung ist klar: Das höchste bayerische Verwaltungsgericht kann sagen was es will, unsere Macht ist stärker. Ein Lan-
deskabinett und an der Spitze der Ministerpräsident haben sich zum Ziel gesetzt, eine rechtskräf-
tige Verurteilung des höchsten Verwaltungsgerichts ihres Bundeslandes nicht zu erfüllen.

Justitia ohne Schwert?

Welche Mittel bleiben der Justiz nun, um die Befolgung ihrer Entscheidungen zu erzwingen?

Das Bundesverfassungsgericht erachtet es in einer Entscheidung von 1999 als möglich, auch ge-
genüber staatlichen Stellen im Falle einer renitenten Verweigerung der Rechtsdurchsetzung die Zwangsvollstreckungsmaßnahmen der Zivilprozessordnung (ZPO) anzuwenden, die eigentlich nur gegenüber Bürger*innen greifen (Beschluss vom 9. August 1999, Az. 1 BvR 2245/98). Dann kämen sowohl ein Zwangsgeld von 25.000 Euro als auch Zwangshaft in Betracht. Da Zwangsgelder bisher keine Verhaltensänderung bewirkt haben, bliebe nur die Zwangshaft. Der BayVGH prüft diese Möglichkeit, zweifelt aber, ob die Vorschriften der ZPO klar genug formuliert sind, dass Zwangs-
haft gegenüber hochrangigen Behördenvertreter*innen (bis hin zum Ministerpräsidenten und dem Umweltminister, die durch den BayVGH explizit adressiert werden) angeordnet werden darf.

Sollte eine Zwangshaft gegen Behördenvertreter*innen ausscheiden, enthielte das deutsche Recht keine hinreichenden Grundlagen zur effektiven Durchsetzung des Rechtsschutzes. Behörden müss-
ten sich nur renitent genug zeigen, dann liefen richtliche Urteile ins Leere.

Hilfe aus Luxemburg?

Da die Grenzwerte, die mittels Fahrverboten endlich durchgesetzt werden sollen, aus dem EU-Recht stammen, setzt der BayVGH nun auf das Unionsrecht und schaltet den Europäischen Ge-
richtshof (EuGH) ein. Mit Vorlagebeschluss vom 9. November 2018 (Az. 22 C 18.1718) fragt er den EuGH nach der Bedeutung des Effektivitätsgebots, der EU-Grundrechtecharta und der in der ge-
samten EU geltenden Aarhus-Konvention: Beinhalten diese Vorschriften das Recht oder sogar die Pflicht für deutsche Gerichte, gegenüber Amtsträgern eines Bundeslandes Zwangshaft anzuordnen, um auf diese Weise die Fortschreibung eines Luftqualitätsplans und die Durchsetzung eines rechtskräftigen Urteils zu erwirken?

Der Vorlagebeschluss des BayVGH ist in unserer Rechtsgeschichte einmalig. Niemals war es bisher nötig, dass ein Gericht erwägt, Regierungsmitglieder in Zwangshaft zu nehmen. Niemals war es nö-
tig, dass ein Gericht zur Wahrung seiner eigenen Autorität auf eine Rede des Bundespräsidenten verweist: In dieser Rede vom 1. Oktober 2018 hatte der Bundespräsident die Befürchtung vor einer Erosion der Rechtsstaatlichkeit auch in Deutschland geäußert, vor einem überheblichen Blick ins europäische Ausland gewarnt und gefordert, sensibel auf Veränderungen im eigenen Land zu schauen, bei denen das Primat des Rechts in Gefahr ist.

Entschließt sich die vollziehende Gewalt, gerichtliche Entscheidungen, die sie für falsch hält, nicht zu befolgen, gerät etwas ins Rutschen. Ist unser Rechtssystem nicht in der Lage, darauf mit den nötigen ernsthaften Sanktionen zu antworten, ist der Rechtsstaat nicht wehrhaft. Es geht hier nicht mehr um Diesel und Gesundheit, nicht um Fahrverbote und Umweltplaketten. Es geht um den Kern unseres Gemeinwesens, dessen Grundlage die Rechtsstaatlichkeit ist. Der BayVGH sieht die Gefahren, die sich aus derartigen Entwicklungen für den Fortbestand des Rechtsstaats ergeben. Der Europäische Gerichtshof wird darauf nun die passende Antwort geben. Peinlich genug für Deutschland, dass es dazu kommen musste.

Remo Klinger


Bellinda Bartolucci u.a. (Hg.), Grundrechte-Report 2019. Zur Lage der Bürger- und Menschenrech-
te in Deutschland, Frankfurt am Main 2015, 145 ff.

Überraschung

Jahr: 2018
Bereich: Umwelt