Materialien 1977

Eyes & Ears II Theaterwerkstatt

Selbstdarstellung

So fing alles an 1974: Ein Abbruchhaus mit einer Werkstatt und ca. 15 Leute mit viel Idealismus, d.h. dem guten Willen, eine alternative Lebensform mit Musik und Theater zu verbinden. Die Gruppe setzte sich zusammen aus 4 Musikern, 2 Tänzerinnen, 1 Tänzer, 2 angehenden Kunster-
ziehern und engagierten Laien.

Aus workshops, Selbstdarstellungen und Reflexionen der Umwelt entstand z.T. durch Improvisa-
tionen „City“, ein Multimediaspektakel über die Stadt und ihre Alpträume. Als Ausdrucksmittel benutzten wir experimentelle Rockmusik, Pantomime, Tanz, Dias, Licht und für Projektionen und Aktionsfläche einfache weiße Tücher.

Aufführungen in München waren im Kunstverein, open air in Neuperlach mit passender „Kulisse“ – den Wohnsilos, Baukränen und Betonklötzen.

Wir merkten bald, dass der große Aufwand an Personen und technischen Geräten in keinem Ver-
hältnis zu den Einnahmen stand. Wir mussten alle hart jobben, um das Ganze in Schwung zu hal-
ten. Vielen ging bald die Puste aus, vorwiegend denen, die zum ersten Mal erfuhren, was freie The-
aterarbeit bedeutet. Die Gruppe löste sich auf.

8 Personen fanden sich für ein neues Multimediastück: „DINOSAURIA oder das Ende der Gefrä-
ßigkeit“, eine Parallele zu unserem technischen Zeitalter vom Aussterben überspezialisierter Dino-
saurier der Urzeit. Dieses Stück spielten wir ca. 20 Mal in Hamburg, Amsterdam, Nürnberg und München. – Ein Teil der Gruppe arbeitete zusätzlich an einem Kindermitspieltheater. So entstand „Die wunderbare Reise des Fensterputzers Karl und seiner Freundin von der Straße“: 2 Clownfigu-
ren, der Fensterputzer Karl, der die Welt vorwiegend hinter Fensterscheiben wahrnimmt und die Clochardine, die mit dem Koffer herumzieht und Geschichten für Kinder sucht. Sie sind stellvertre-
tende Figuren für Schule/Arbeit und Spiel/Freizeit. Nach einer anschaulichen Stadt-Landfahrt auf der Fensterputzerleiter genießen sie die frische Milch einer Kuh, die sich als Till entpuppt, eine nur für die Kinder sichtbare Zauberfigur. Karl und Clochardine werden mit Hilfe von Till und den Kin-
dern auf eine lange Reise geschickt. Ziel ist, die schönste Stelle der Erde zu finden. Nach vielen Abenteuern und Hindernissen, gestaltet von Till und den Kindern, finden die beiden die Lösung: Die schönste Stelle der Erde muss man sich selber bauen.

Durch das Kindertheater bekamen wir wieder Lebendigkeit und Flexibilität. Außerdem machten wir die Erfahrung, dass wenig technischer Aufwand und kleinere Besetzung bessere Arbeitsbedin-
gungen schufen. – Wegen unterschiedlichen Meinungen über die Stilrichtungen kam es im Herbst ‘76 zur Trennung.

Seit dieser Zeit heißen wir Eyes & Ears II Theaterwerkstatt. Von der alten Besetzung blieben 2 übrig: Margherita Scaturati und Wolfgang Kreuzer. – Rita hatte nach einem Tanzstudium und 2 Spielzeiten am Landestheater Hannover genug vom institutionalisierten Theater. Freiere und umfassendere Arbeitsmethoden fand sie beim Theaterkollektiv Transparent, der Roten Rübe und bei Eyes & Ears. – Wolfgang spielt seit 12 Jahren Gitarre. Zu seinen Erfahrungen als Schauspieler und Akteur gelangte er in workshops bei E & E und anderen freien Gruppen. – Seit einem halben Jahr ist auch Annie Fonos dabei. Annie studiert Sozialpädagogik und versucht, ihr Studium mit Medienarbeit zu verbinden.

Das Kindermitspielstück „Zirkus Larifari“ war das erste Produkt nach der Neuformierung der Gruppe. Wir erarbeiteten auch eine Fassung für gehörlose Kinder. Der Inhalt ist ein wenig geprägt durch unsere derzeitige Situation: Die Zersplitterung der Gruppe E & E. – Ein Zirkusdirektor hat den großen Zirkus Larifari verkauft, übriggeblieben sind der Maestro, der größte Musiker aus der letzten Reihe, der Löwenpauli und 2 Clowns, Pippino und Zampino. Mit Hilfe der Kinder entsteht ein neuer Zirkus Larifari.

Die Kinder erfahren, dass mit wenig Mitteln und Können ein Spiel von Kindern für Kinder möglich ist. Sie merken, wie viel Spaß es macht, selber kreativ zu sein und eigene Geschichten spielerisch auszudrücken.

In über 80 Aufführungen in Freizeitheimen und auf Straßenfesten machten wir bis September ‘77 die unterschiedlichsten Erfahrungen im Bereich des konsequenten Mitspieltheaters. Da eine ein-
malige Theateraufführung kreative Impulse nur anreißen kann, geben wir Seminare für interes-
sierte Sozialarbeiter und Erzieher, die ständig mit der Problematik von Kindern und Jugendlichen konfrontiert werden. Das Seminar umfasst Rollen- und Improvisationsspiel, Kommunikations-
übungen, Maskenspiel, freies Singen und Rhythmustraining.

Unsere Stücke erarbeiten wir mit ähnlichen Mitteln. Am Anfang steht eine Idee, ein Thema, Spielpersonen und ein vorläufiger Handlungsablauf. Im gemeinsamen brainstorming präzisieren wir Inhalt und Form. Die spielerische Umsetzung geschieht durch workshops; Szenen werden in Improvisationen erarbeitet, dann erst festgehalten und in Dialogen niedergeschrieben.

Dann kommt die Feinarbeit: Timing, Zäsuren, Überprüfung der Spielfiguren, -handlung: Sprache wird teilweise in Körpersprache und Mimik umgesetzt. Auch hier können vor einer Entscheidung verschiedene Interpretationen ausprobiert werden. Trotz dem nun festgelegten Handlungsablauf bleiben die Szenen offen für neue Ideen. Unsere Stücke haben sich nach langen Spielphasen je nach Publikumsreaktionen und eigenen Bedürfnissen oft verändert. Das schafft ein ständiges Engagement und bringt weitaus mehr als ständige Reproduktion.

Die „Comedia“, an der wir jetzt arbeiten, soll ein Spektakel für Jugendliche und Erwachsene wer-
den. Es geht um Konsumverhalten, Folgen und Hintergründe, sichtbar gemacht durch: Konserven-
frieda (lebt von den reichlichen Abfällen unserer Wegwerfgesellschaft), Herrn Schmatz (Vertreter für Fiberplexigummimatratzen), Hans Zwiespalt (meist arbeitslos mit großen Plänen), Puppetta Machinetta (eine Fließbandarbeiterin) und Magico Corupto (ein moderner Magier, der die große „Freiheit“ verspricht).

Für diese Produktion sind wir 4 Leute; neu hinzu kam Gerd Wolter. Nach einer Schreiner- und Schauspielerlehre arbeitete er in verschiedenen Berufen. Seit 1970 macht er Kindertheater, war drei Jahre beim Jugendfunk und spielt in unserer modernen Commedia dell’arte den Herrn Schmatz.

Wir möchten mit allen dem Theater zur Verfügung stehenden Mitteln, wie Phantasie, Fiktion, Märchen und Traum auf sinnlich emotionaler Ebene Zusammenhänge sichtbar machen. Der Zuschauer ist zum Fühlen, Denken, Lachen und Erkennen eingeladen. Er darf und soll sich im Spiel wiedererkennen – Spiel wird Realität und umgekehrt.

Wir organisieren uns selber (Verkauf), und da der Platz hier nicht reicht, ersparen wir Euch nähere „Details“. Mit anderen freien Gruppen pflegen wir Kontakt und geben uns wichtige Tipps. Unsere Übungsräume sind 2 große, bis jetzt noch feuchte Kellerräume. Das Kulturreferat München gab uns einen Zuschuss: So kommen wir wenigstens zu einer Heizung und einem Klo und können nun winterfest ausgerüstet loslegen.

Kontaktadresse: Eyes + Ears II, Theaterwerkstatt, Regerstraße 5, 8000 München 90, Tel. (089) 4801578


Fliegenpilz. Zeitschrift für Politik + Literatur 1 vom Oktober 1977, München, 22 f.

Überraschung

Jahr: 1977
Bereich: Kunst/Kultur