Materialien 1975

Bilanz – 30 Jahre danach

Ich muss ein wenig weiter hinten beginnen. Und zwar bei der erschütternden Torheit der Ameri-
kaner, die gegen Kriegsende unter den westlichen Alliierten die erste Geige spielten, ohne von europäischen Dingen eine wirkliche Ahnung zu haben. Nichts gefährlicher als das Kind, das mit dem entsicherten Revolver spielt.

Dass Hitler seinen Krieg verloren hatte, wusste jeder wirklich Informierte hüben und drüben spä-
testens seit Stalingrad. Die für die Alliierten einzig vernünftige Politik wäre nun gewesen, den Deutschen zu helfen, dass sie sich selbst von Hitler und der Nazi-Krankheit befreiten. Stattdessen kam es 1943 zu dem Beschluss von Casablanca – der Forderung nach einer bedingungslosen Kapi-
tulation.

Die Folge war, dass auch jene Deutschen, denen die Hitlerei zum Hals hinauswuchs, sich in diesem »nationalen Notstand« wieder mit den Nazis solidarisierten und weiterkämpften, da man ihnen ja doch keine Alternative ließ.

Die weitere Folge: der Krieg dauerte sinnlos und unnötig mindestens ein Jahr länger, als er ohne diese den Deutschen noch einmal aufgezwungene Identifizierung mit ihrem Regime gedauert hät-
te, und kostete ein paar weitere Millionen Menschenleben.

Die noch weitere Folge: den so in der Niederlage durch die Idiotie von Casablanca zwangs-solidari-
sierten Deutschen wurde die Abrechnung mit den Nazis verwehrt – sie hätten sonst (wenn auch wahrscheinlich erst fünf Minuten vor zwölf) ihre eigene Revolution gemacht und die zwei- bis fünftausend Schuldigsten und Blutigsten umgebracht, mit oder ohne Standgericht. Derlei macht ein Volk sofort – oder gar nicht.

Diese selbstreinigende Revolution wurde den Westdeutschen also durch die West-Sieger versagt. (Was im Osten geschah, steht auf einem andern Blatt.) Stattdessen arrangierte man eine Farce einer »Entnazifizierung« – ein Netz, das die physikalische Besonderheit hatte, nur die kleinsten Fische zu fangen, während es alle auch nur halbwegs größeren durch die Maschen ließ – und andererseits die Nürnberger Prozesse, bei denen kein einziger Deutscher unter den Richtern saß.

DER BESTE STOCK

Zwischen den Kleinen und den ganz Großen, die es in Nürnberg erwischte, blieb ungeschoren die Masse derer, die es sich richteten. Die Amerikaner taten ihnen nichts mehr – im Gegenteil. In dem nun beginnenden Kalten Krieg schien ihnen ein guter Nazi (wenn er nicht eben allzu sichtbares Blut an den Händen hatte) der beste Stock zu sein, mit dem man den Kommunisten auf den Kopf haut. Darin fanden sie in Adenauer einen zuverlässigen Collaborateur. Er dachte wie sie und trug kein Bedenken, in Industrie, Politik, Ministerialbürokratie, Richterschaft, Kripo, Militär all jene Relikte der Hitlerzeit einzubauen, die er für einen raschen Wiederaufbau brauchen konnte. Wer ein Nazi war, das bestimmte er.

In den frühen Jahren der Hitlerei hatte es den »WWJ«, den wirtschafts-wichtigen Juden gegeben, den man fürs erste in Ruhe ließ. Adenauer schuf so viele »wirtschafts-wichtige-Nazis«, »WWNs«, dass sie gar nicht zu zählen waren – und als die Proteste sich häuften, innerdeutsch und aus dem alarmierten Ausland, waren diese Trümmer des Dritten Reichs schon so fest einzementiert, dass Adenauer und seine CDU/CSU sie nicht hätten wieder entfernen können, selbst wenn sie gewollt hätten. Sie wollten gar nicht erst. Wir verdanken dem schlauen Fuchs und großen Politiker kurz-
fristig das blitzschnelle Wirtschaftswunder – erkauft durch eine langfristige politische Verseu-
chung.

DIE PROZESSE

Adenauer am 17. September 1952 im Bundestag: »Die Bundesregierung ist während der ganzen Dauer der Verhandlungen mit den drei Mächten … planmäßig bemüht gewesen zu erreichen, dass so rasch wie möglich in umfassender Weise Entlassungen der Inhaftierten vorgenommen werden.« Dass er danach den nicht Gefassten, nicht Verurteilten, den Stützen seiner Gesellschaft die Mauer machte, nicht den Prozess, versteht sich von selbst. Als er schließlich durch die Demokraten im Lande, vor allem aber durch die Alliierten gezwungen wurde, doch noch die in der BRD frei herum-
laufenden Mörder zur Kenntnis zu nehmen, waren seit Begehen ihrer Verbrechen durchschnittlich fünfzehn Jahre verstrichen. Zur Zeit des ersten großen Prozesses, des Auschwitzprozesses in Frankfurt, waren Täter und Zeugen seit jenen Massakern um durchschnittlich zweiundzwanzig Jahre älter geworden – und das ist heute schon wieder zehn Jahre her.

Und noch etwas: Während dieser Jahre wäre normalerweise die Frist abgelaufen, bis zu der all jene Verbrechen nach deutschem Recht noch zu verfolgen gewesen wären. Infolge der systematischen Verschleppung wäre bis dahin nur ein Bruchteil der Täter erfasst gewesen. Darum protestierten viele gegen diese Verjährung, allen voran der unvergessene Generalstaatsanwalt Fritz Bauer in Frankfurt, dazu die Mehrzahl der progressiven Politiker, Journalisten und Schriftsteller. Ohne den massiven Druck des Auslands hätten wir uns wohl trotzdem nicht durchgesetzt. Jene Verbrecher werden nun bis zum Ende der siebziger Jahre verfolgbar sein.

Dass wir moralisch im Recht waren, davon bin ich heute wie damals überzeugt. Nur, diese Geset-
zesänderung, das Nachgeben derer, die die Naziverbrecher verjährt wissen wollten: Schwamm darüber, alles allseits vergeben und vergessen – dieses Nachgeben also, unser »Sieg«, hat sich inzwischen als eine Pleite herausgestellt.

Vor allem ging es, wie immer in Bonn, nicht ohne einen Kompromiss ab. Für die Verlängerung der Verjährungsfrist ließ sich eine parlamentarische Mehrheit nur erzielen, wenn die weiter noch zu verfolgenden Verbrecher eingeschränkt wurden auf »Mord« und direkte »Mittäterschaft an Mord«.

Ferner: die bisher von den Angeklagten in monotoner Einförmigkeit vorgebrachte Schutzbehaup-
tung, sie hätten befehlsgemäß morden müssen, sonst hätte man sie selbst umgelegt – diese Be-
hauptung zog nicht mehr. Es war nachgewiesen und auch von den Gerichten erkannt worden, dass es diesen »Befehlsnotstand« gar nicht wirklich gegeben hatte. Nicht einem einzigen derer, die sich weigerten, bei einer Mordaktion mitzutun (dass kam vor, auch in der SS) ist etwas geschehen. Dass äußerste, was sie zu befürchten hatten, war Nicht-Beförderung, oder Versetzung aus dem sicheren KZ-Dienst (dort schoss keiner zurück) an die Front. Also dachten sie sich dafür eine neue Schutz-
behauptung aus: Gut – es gab objektiv keinen solchen Notstand – wohl aber konnte ja doch ein Mörder wähnen, er befinde sich in solch einem Notstand. Ein »Putativ-Notstand« also! Und nun sei einer ein Staatsanwalt und weise einem Mörder nach, er habe nicht »gewähnt«!

Vor allem aber: woran wir nicht dachten, war: Die obersten Befehler der Befehler, die also, die allgemeine »Aktionen« befahlen, nicht aber Details an Ort und Stelle, also den konkreten Mord an den Juden aus Y durch die SS-Einsatzgruppe X – diese obersten »Schreibtischmörder« waren nun praktisch nicht mehr verfolgbar. Und dabei waren doch sie sehr viel schuldiger als der kleine SS-Mann, der seine Pistole hob. Da hatte jemand uns wieder einmal übers Ohr gehauen. Da hatten sich’s die Herren untereinander wieder einmal gerichtet.

Der also 1979, knapp vor Ablauf der verlängerten Verjährungsfrist doch noch wegen Mordes vor Gericht Gestellte wird dann der ergreiste SS-Mann Müller sein, der senile Unterscharführer Schul-
ze, vierzig bis fünfunddreißig Jahren nach der Tat. Heydrich, Himmler, Eichmann, alle in Nürn-
berg Gehenkten, auch Hitler selbst, könnten dagegen schon heute so gut wie gefahrlos in der BRD erscheinen und leben bleiben – hätten sie’s überlebt. (Nur um ihre Pensionen hätten sie zu prozes-
sieren – durchaus nicht aussichtslos: seit Gerstenmaier wissen wir, wie hoch hinauf man hierzu-
lande Pensionen mit dem Hinweis auf Wiedergutmachungsansprüche für Karriere-Verhinderun-
gen steigern kann.)

HEUTE

Aber bleiben wir bei der Realität. Wie sehen nun also heute diese Nazikriegsverbrecherprozesse wirklich aus?

► 1965 brachte die DDR ein »Braunbuch« heraus, in dem 2.000 Kriegs- und Naziverbrecher re-
gistriert sind – jeder mit seinem Amt unter Hitler und mit seinem Amt nach 1945 in der BRD. Das sind (neben »Wirtschaftsführern«) fast ausschließlich Richter, Staatsanwälte, Kripobeamte. Zahl der nachgewiesenen Falschbeschuldigungen in diesem Buch (meist Namensverwechslungen): 27 unter 2.000. Größer die Zahl der schon Pensionierten, die da noch als aktiv geführt werden. Repro-
duzierte, schwer belastende Dokumente sind alle echt. Vorsicht ist nur geboten bei den dazugehö-
rigen Kommentaren und Deutungen. In der BRD betrachtet man einen Richter oder Staatsanwalt nur dann als grundsätzlich untragbar, wenn er unter Hitler an einem Sonder-, Feld-, Kriegs-, Standgericht »mitgewirkt« hat. Für die drüben ist jeder untragbar und ein Nazi, der unter Hitler die Robe trug. Sie haben dort 1945 jeden von denen radikal und kompromisslos davongejagt.

► Auch unter Berücksichtigung dieser Beurteilungsdifferenzen gab es 1965 jedenfalls noch eine fette Ziffer belasteter Richter und Staatsanwälte in der BRD. Es gibt noch immer welche, doch ist die Ziffer hauptsächlich aus biologischen Gründen stark geschrumpft.

► Schlimmer steht es mit der Kripo. 1965 fand sich in den halbwegs höheren Rängen selten einer, der nicht schon bei der Gestapo »gearbeitet« hatte und mitunter aufs Schwerste belastet war. Ob und wieweit sich das inzwischen zum Bessern gewendet hat, weiß ich nicht. Jedenfalls gab es eine Zeit, da Staatsanwälte sich in Privatgesprächen immer wider darüber beklagten: betrauten sie die Kripo mit vertraulichen Recherchen gegen einen Naziverbrecher, so war der binnen vierundzwan-
zig Stunden gewarnt und tauchte unter oder haute ins Ausland ab.

► Erwischt man einen, so kann er sich darauf verlassen, dass die Erhebungen von Kripo, Staatsan-
walt und Gericht Jahre dauern, oft ein Jahrzehnt, manchmal länger. Kommt es dann tatsächlich zu einem Prozess, so findet sich aus mysteriösen Quellen immer Geld für einen teuren Verteidiger, der das Verfahren weiter verschleppt – womöglich bis sein Klient senil oder haftunfähig oder ver-
storben ist. Auch die Zeugen des Staatsanwalts werden inzwischen älter und leiden mehr und mehr unter Erinnerungslücken oder Selbsttäuschungen. Einer erzählte mir unlängst, zweifellos selbst daran glaubend, mit vielen Details, er sei Führer des Warschauer Getto-Aufstands gewesen – in Wirklichkeit war er zur relevanten Zeit gar nicht dort; ein anderer glaubte fest daran, er sei in einem anderen Getto das Opfer medizinischer Experimente gewesen – inWirklichkeit gab es diese Experimente weder in seinem noch sonst in irgendeinem anderen Getto, sondern der besseren Geheimhaltungsmöglichkeiten wegen ausschließlich in genau bekannten KZs; diese armen Teufel bevölkern mit ihren »späten KZ-Syndromen« die Wartezimmer von Psychiatern und Analytikern – und phantasieren sie derlei als Zeugen vor Gericht, so ist der Prozess geplatzt.

► Kommt es trotz allem tatsächlich zu einer Verurteilung – vor leeren Zuhörerbänken, vor einer Pressebank, auf der kaum noch dann und wann ein einsamer Gerichtssaalreporter sitzt – so kann der für Teilnahme bei der Ermordung von 50.000 Juden ausnahmsweise nicht Freigesprochene, sondern zu zweieinhalb oder vier Jahren Freiheitsentzug Verurteilte immer noch hoffen, dass er nach drei bis sechs Monaten einen Arzt findet, der ihm Haftunfähigkeit bescheinigt – den auf dieser Bescheinigung basierenden Antrag behandelt dann der Gefängnisdirektor und/oder ein Amtsrichter, ohne dass das in der Zeitung steht. Zwei mir bekannte Fälle: Einer der im großen Auschwitzprozeß Verurteilten wurde nach einem halben Jahr auf Grund solch eines ärztlichen Attestes diskret aus der Haft nach Hause geschickt – dort sah ihn ein Rechercheur des Verbandes der KZ-Überlebenden: er grub rüstig den Garten um. Ein anderer Fall – Zitat aus dem letzten Bulletin dieses »Comité International des Camps«: »… weigerte er sich, vor Gericht zu erscheinen. Recherchen ergaben, dass der verhandlungs- und haftunfähig Geschriebene in Mönchengladbach seinen Beruf als Handelsvertreter nachgeht und täglich mit seinem Auto unterwegs ist.«

► Nach einer 1965 unter Mitwirkung von Staatsanwälten aufgestellten Analyse der Strafverfol-
gungen bis dahin und ihrer prozessualen Ergebnisse war dem deutschen Justizapparat ein toter Jude im Durchschnitt 10 Minuten (in Worten: zehn Minuten) Gefängnis wert. Da seither die Strafen seltener, die Freisprüche häufiger wurden, dürfte ein toter Jude heute noch weniger kosten. Mit ehrenvollen Ausnahmen, die zu wenig zahlreich sind, um die Gesamtstatistik wesent-
lich zu beeinflussen, zieht der gesamte Justizapparat bei der Naziverbrecherverfolgung nicht mehr mit und sabotiert so oder so das an sich schon verwässerte Gesetz – in anderen Fällen kann er in Anbetracht des progressiven Zeugenschwunds tatsächlich nicht mehr »sicher« verurteilen und stärkt auch so im Außenstehenden die Überzeugung, hier werde sabotiert. Ganz so wie in der Weimarer Republik der Rechtsbrecher, wenn er »rechts« war, sich auf Freispruch oder kleinste Formalstrafen verlassen konnte.

Diese tatsächliche oder scheinbare »Weimarisierung« der Justiz in Altnazidingen ist besonders gefährlich, weil sie von den Neonazis unserer Tage als ein ermunternd-konspiratives Augenblin-
zeln zu ihnen hinüber verstanden wird.

Fragt sich also, wie man dieser Situation gerecht werden soll. Dass die Prozesse in ihrer jetzigen Form eine Farce sind, springt in die Augen. Andererseits: schaffte man sie ab, so ist das Ergebnis nicht nur die eben erwähnte Ermutigung der Neofaschisten überall, nicht nur eine Welle neuen Misstrauens in Ost und West gegen die BRD, sondern auch und vor allem die für jeden anständi-
gen Deutschen untragbare Situation, dass weiter Massenmörder unter uns leben – gerichtsbekannt aber ungestraft.

Als wäre all das nicht vertrackt genug: es fällt zusammen mit einem moralischen Gesichtsverlust »unserer« Großmacht, der Amerikaner, von denen wir 200.000 Beschützer gegen die »kommuni-
stische Gefahr« im Land sitzen haben und dafür noch Millionen Dollar jährlich bezahlen. Gewiss, die Zahl der Empörten dort drüben ist enorm, es geht ein Riss durchs Land, beinahe ist das dort schon ein Bürgerkrieg, kurzum, es gibt »die« Amerikaner nicht – aber es gab 1945 auch »die« Deutschen nicht. Wie hätten die Richter von Nürnberg das Massaker von My Lai beurteilt? Die Dutzende My Lais, derer sich die Amerikaner in Vietnam schuldig gemacht haben und deren Ent-
hüllung durch den Viet Kong in all diesen Jahren nicht nur von Nixon und Agnew und dem Penta-
gon, sondern bei uns auch von der Springer-Presse als »kommunistische Propaganda« abgetan worden ist? Was die Quersumme dieses Genozids von dem von den Nazis veranstalteten unter-
scheidet, ist nur die Quantität. Quantität ist kein moralischer Maßstab.

Will man mehr Parallelen? Die fingierte Attacke der Nordvietnamesen auf die amerikanische Flotte in der Bucht von Tongking als Vorwand für die amerikanische Aggression entspricht mit grausiger Genauigkeit dem von der SS mit in polnische Uniformen gesteckten, nachher rasch ermordeten KZ-Insassen fingierten Überfall auf den Gleiwitzer Sender, der Hitler den Vorwand zum Angriff auf Polen gab. Noch mehr? Mit Ausnahme der paar in Nürnberg Gehenkten werden auch bei uns die Calleys vor Gericht gestellt – nicht die Vorgesetzten. Warum Jodl in Nürnberg, warum nicht West-
moreland: wo der Unterschied?

Immerhin eine moralische Differenz zu unserem Gunsten – fürs erste noch: Bei uns muss sich so ein verurteilter Calley doch immerhin noch die Mühe machen, sich seine Entlassung hinten herum mit Hilfe eines ärztlichen Zeugnisses zu richten. Er muss sich bei uns mit der diskrete Unterstüt-
zung alter Kameraden begnügen – er bekommt nicht wie der Amerikaner hunderttausend Gratula-
tionsbriefe von »fans«.

Was tun wir nun also mit unseren weiteren Prozessen gegen die deutschen Massenmörder der ungezählten polnischen, russischen My Lais? Der sechs Millionen Juden, der 600.000 Zigeuner? Allein in den KZs haben mehr als 50.000 »Dienst gemacht«. Von diesen 50.000 wurden etwa 600 hingerichtet – fast alle in Polen, der Sowjetunion, der DDR. Zieht man weiter die Gefallenen ab, die inzwischen Verstorbenen – wie groß ist die Dunkelziffer der Mörder, die noch unter uns leben? Darunter die Verantwortlichen des Gemetzels von Oradour-sur-Glane – die man kennt, samt Namen und Anschriften, und die man nicht vor Gericht gezogen hat. Darunter auch die mit Namen und Adressen bekannten Angehörigen der Wachmannschaft des Vernichtungslagers Belzec. Der Strafsenat des Oberlandesgerichts München weigert sich seit 1964, gegen sie auch nur das Verfah-
ren zu eröffnen! Ich könnte diese Zeitschrift vollschreiben mit einer Liste ähnlicher Fälle.

Die Farce dieser Prozesse, dieser Nichtprozesse wird unsere Gerichte noch bis zum Ende dieser Jahrzehnte blockieren und kompromittieren. Im Ausland schätzte man vor ein paar Jahren jene Dunkelziffer noch auf wenig unter 10.000.

Nochmals: was tun? Was ich hier gab, sind die Fakten. Vielleicht ist ein anderer gescheiter als ich. Was man wirklich tun soll, das weiß ich nicht, 30 Jahre danach.

Robert Neumann


Tribüne. Zeitschrift zum Verständnis des Judentums 54/1975,Frankfurt am Main, 6275 ff.

Überraschung

Jahr: 1975
Bereich: Nazis