Flusslandschaft 2021

Flüchtlinge

Seltsam: Bayern hat knapp 18 Prozent mehr Einwohnerinnen und Einwohner als Baden-Württem-
berg und 38 Prozent mehr Coronainfizierte in der Gesamtbevölkerung seit Beginn der Pandemie. Liegt das auch daran, dass Bayern in den Erstaufnahmeeinrichtungen/ANKER-Zentren 110 Pro-
zent mehr Coronainfizierte hat als Baden-Württemberg?1 Am Samstag, 6. Februar, fordern 100 Menschen auf dem Marienplatz von 11 bis 14 Uhr ein Bleiberecht für geflüchtete Afghaninnen und Afghanen. Am Sonntag, 7. Februar, ziehen ab 13 Uhr Hundert Aktivistinnen und Aktivisten der Ka-
rawane München
von der Münchner Freiheit zum Reiterdenkmal; sie fordern: „Keine Abschie-
bung nach Afghanistan!“ Am Dienstag, den 9. Februar, werden auf dem Sammelabschiebeflug vom Flughafen München 26 Geflüchtete, darunter 12 aus Bayern, nach Afghanistan abgeschoben. Dies ist die mittlerweile 36. Sammelabschiebung nach Afghanistan.2


Vom Maria-Hilf-Platz geht die Demo zur Staatskanzlei.3

Am Samstag, 20. März, finden von 14 bis 18 Uhr Aktionen der Münchner Gruppe von Seebrücke. Schafft sichere Häfen an drei Brücken nahe des Deutschen Museums statt. Für 17 Uhr ist die Abschlusskundgebung vor dem EU-Büro im naheliegenden Europäischen Patentamt geplant.

Am 27. März fordern ein Dutzend Menschen von 18 bis 20 Uhr auf dem Stephanplatz Menschen-
rechte für Flüchtlinge.

Es gibt kein Ende des Krieges in Afghanistan; die ursprünglichen Bedingungen des Abzuges, allen voran die Friedensgespräche zwischen Taliban und der Regierung in Kabul, wurden fallen gelas-
sen; der Aufbau von stabilen politischen und demokratischen Institutionen ist größtenteils geschei-
tert, eine Rückkehr der fundamentalistischen Taliban an die Macht droht. Neben der weiter ver-
schlechterten Sicherheitslage kommen noch die Folgen der Corona-Pandemie dazu: Bereits vor der Pandemie ging die UNO davon aus, dass 80 Prozent der afghanischen Bevölkerung unter der Ar-
mutsgrenze leben. Bei der Demonstration am Samstag, 5. Juni, die um 19 Uhr vom Stachus zum Georg-Freundorfer-Platz im Westend führt, fordern 300 Menschen einen sofortigen und absoluten Abschiebestopp nach Afghanistan, ein Bleiberecht für diejenigen afghanischen Geflüchteten, die bereits in Deutschland sind, die schnelle und unbürokratische Evakuierung aller gefährdeter Per-
sonen im Falle eines Erstarkens der Taliban in Afghanistan und ein Ende aller Abschiebungen.4


Der Bayerische Flüchtlingsrat veranstaltet am Sonntag, 20. Juni, am Weltflüchtlingstag von 13 bis 17 Uhr auf dem Rindermarkt eine Kundgebung mit Mahnwache.


Trotz des eskalierenden Krieges in Afghanistan und obwohl die Taliban immer mehr Provinz-
hauptstädte und Regionen erobern, hält Deutschland an Abschiebungen ins Kriegsgebiet fest. Den abgeschobenen Personen droht nachweislich Gewalt und Verfolgung und die meisten sind erneut zur Flucht gezwungen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat erst kürzlich auf-
grund der Sicherheitslage eine einstweilige Anordnung gegen die Abschiebung einer Person ver-
fügt. Norwegen, Schweden und Finnland haben bereits einen dreimonatigen Abschiebestopp be-
schlossen. Bayerischer Flüchtlingsrat, Münchner Flüchtlingsrat und Karawane München for-
dern: Einen sofortigen und generellen Abschiebestopp nach Afghanistan, Bleiberecht für diejeni-
gen afghanischen Geflüchteten, die bereits in Deutschland sind, die schnelle und unbürokratische Evakuierung aller besonders gefährdeten Personen. Tags darauf beschließt die Bundesregierung, Abschiebungen vorerst auszusetzen.5

Am Montag, 16. August, demonstriert die Seebrücke München um 20 Uhr vom Mariahilfsplatz über den Gärtnerplatz (mit Zwischenkundgebung), die Klenzestrasse und Frauenstrasse zur Staatskanzlei: „Luftbrücke jetzt! Wir fordern Sicherheit für Zivilist*innen und Ortskräfte.“

Am Samstagnachmittag, 21. August, protestieren Afghaninnen und Afghanen auf dem Marienplatz gegen die Machtübernahme der Taliban in ihrer Heimat.6

Am Sonntagnachmittag, 22. August, treffen sich im Münchner Süden einige Linksradikale und solche, die sich einmal „linksradikal“ nannten. Sie sprechen über die Zustände in Kabul. Die Tali-
ban haben die Macht ergriffen, Tausende strömen zum Flughafen, um noch ausgeflogen zu wer-
den. Die Taliban schießen. Verzweifelte klammern sich an startende Flugzeuge … Silke: „Das erin-
nert mich an Vietnam. Wie die hochgerüstete Yankees Hals über Kopf das Land verließen. Unser Motto war ‚Sieg im Volkskrieg!‘ Gibt es einen Grund zur klammheimlichen Freude?“ Ernst: „Zu-
mindest sehen wir eine Zivilisationsbruch. Steinzeit besiegt Neuzeit. Schau Dir diese martialischen Technomaschinen an, die jetzt vor Ziegenhirten mit vorsintflutlichen Kalaschnikows davon laufen. Der Koloss des militärisch-industriellen Komplexes initiiert und finanziert seine Wunderwaffen, um angeblich Probleme lösen zu können. Aber er steht auf tönernen Füßen.“ Ferdl: „Klammheimli-
che Freude habe ich nicht. Jetzt müssen Frauen wieder ihr Gefängnis mit sich herumtragen und Männer haben nur dann eine Existenzberechtigung, wenn sie patriarchalische Gewalttäter sind.“ Barbara: „Was mich so wütend macht. Seit ich denken kann, haben wir gefordert, Rüstung ab zu schaffen, Krieg zu ächten. Nichts hat sich geändert!“ Silke: „Das irre ist, dieser kriegerische Wille benötigt heute nicht einmal mehr Begründungen für seine Existenz. Er ist da und expandiert. Hätte er Rechtfertigungen, könntest du dagegen argumentieren. So aber redest du nur gegen eine Wand.“ Franz hat die ganze Zeit seinen geliebten Shakespeare vor sich liegen, schlägt die Seite mit dem Einmerker auf und zitiert: „Caliban im ‚Sturm‘ zu Prospero: ‚Und ich weiß, dass eines Tages meine bloße Faust, nur meine Faust genügen wird, um Deine Welt zu zertrümmern! Die alte Jahr-
marktswelt! Sieh Dich einmal um! Du selber langweilst Dich darin! Aber Du hast Gelegenheit, jetzt Schluss damit zu machen: Du kannst abhauen.‘“ Silke: „Das ist unheimlich.“ Barbara: „Und die Leute, die jetzt abhauen wollen, können nicht abhauen. Ich finde diese archaischen Kaftanträger unappetitlich.“ Ernst: „Unsere dauergrinsenden Politiker finde ich viel unappetitlicher.“ Barbara: „Schon klar, dieser ‚moderne Westen‘ mit seinem sinnentleerten Kapitalismus hat die Taliban erst groß gemacht. Was können wir tun …“

Der Bayerische Flüchtlingsrat protestiert am Montag, 13. September, um 11 Uhr auf dem Stachus: Jetzt handeln! Solidarität, Evakuierung und Aufnahme von Afghan:innen in Bayern!

Mittwoch, 22. September: Brücken statt Mauern – Für grenzenlose Solidarität. Die Seebrücke München ruft auf zur Fahrraddemo. Los geht’s um 18 Uhr mit einer Kundgebung am Goetheplatz.7







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Seit der zweiten Oktoberwoche bis mindestens 28. Oktober 2021 finden Anhörungen zur Identi-
tätsklärung einer sierra-leonischen Botschaftsdelegation in der Zentralen Ausländerbehörde in München statt. Diese persönlichen Anhörungen dienen dazu, durch Befragungen über Sprach-
kenntnisse, Aussprache, Dialekt und über Kenntnisse von Traditionen herauszufinden, ob die Personen aus Sierra Leone stammen. Werden den vorgeladenen Personen von der Delegation Reisedokumente ausgestellt oder wird ihnen unterstellt, aus einem anderen Land zu kommen, be-
steht die Gefahr einer baldigen Vollziehung der Abschiebung. Verweigern die betroffenen Perso-
nen, bei der Anhörung zu erscheinen, droht ihnen eine Zwangsvorführung durch die Polizei. Die Anhörungen werden gegen den Willen der Betroffenen durchgeführt, damit wird ein enormer psy-
chischer Druck auf die ohnehin schon häufig traumatisierten Menschen ausgeübt. Allein die Vor-
ladung zu einer solchen Anhörung stellt eine extreme Belastung dar und ruft bei den Personen Ängste, Unsicherheit und Verzweiflung hervor. Daher ruft die sierra-leonische Community in Bay-
ern zu einem friedlichen Protest gegen die Anhörung auf. Seit Montag, 18. Oktober, protestieren sie mit einem Protestcamp vor der Zentralen Ausländerbehörde in der Hofmannstraße 51.

WARUM flüchten die Menschen aus Sierra Leone? Weil Sierra Leone eines der ärmsten Länder der Welt ist. Weil 76% der Menschen dort von weniger als 3 US $/Tag leben. Weil 30% der Kinder vor dem 5. Lebensjahr sterben. Weil viele der Arbeiter in den Diamantenminen unter sklavenähnli-
chen Bedingungen für Hungerlöhne schuften müssen. Weil staatliche Übergriffe gegen Protestie-
rende, sexuelle und geschlechtsspezifische Gewalt gegen queere Menschen dort an der Tagesord-
nung sind. Das auswärtige Amt der Bundesregierung nennt die politische Lage relativ „stabil“ … Wer sind die Hauptverantwortlichen? Nutznießer der zahlreichen Bodenschätze Sierra Leones (Diamanten, Bauxit u.a.) sind die reichsten Länder der nördlichen Halbkugel, darunter auch die Bundesrepublik Deutschland.

Bei einer Pressekonferenz, die am 23. Oktober um 14 Uhr vor der ZAB stattfindet, erklären die Geflüchteten und ihre Unterstützer wie Fatmata Sesay, Sprecherin des Protestcamps: „We say no to deportation! If women are deported to Sierra Leone, they are at risk to be subjected to sexual and gender-based violence in the form of domestic violence, sexual assault on adults and minors, marital rape, school-related sexual abuse, and harmful traditional practices like female genital mutilations.“ Lilian Kabah, Sprecherin des Protestcamps, ergänzt: „We have been here for ten days, they did not come to us and tell us what will happen. The people are afraid to go back to their camps, because the police will come at night, at 3am and arrest them. Come and talk to us! We are calling on the German government: Stop the hearing now.“ Johnny Parks, Pressesprecher von Black Lives Matter Munich, richtet seine Forderungen an die Stadt München: „Wir fordern die Münchner Regierung auf, ihren Worten Taten folgen zu lassen. München nennt sich stolz ‘sicherer Hafen’. Wir fordern Sie auf, Herr Reiter, diesen sicheren Hafen endlich zu schaffen.“ Auch Hama-
do Dipama, Sprecher des Migrationsbeirats der Landeshauptstadt München, unterstützt die Pro-
teste: „Wir fordern den sofortigen Stopp dieser korrupten und rassistischen Anhörungspraxis und die sofortige Erteilung eines Aufenthalts- und einer Arbeitserlaubnis für die Betroffenen.“ Kathari-
na Grote, Bayerischer Flüchtlingsrat, sagt: „Wir fordern die Verantwortlichen in Bayern auf, die menschenrechtsverletzenden Praktiken und Sanktionen, die gegen Geflüchtete aufgefahren wer-
den, sofort zu stoppen. Es braucht dringend eine Abkehr von der derzeitigen Ausgrenzungs- und Abschreckungspolitik.“ Victor Kamara, Sprecher des Protestcamps, fügt hinzu: „In Sierra Leone there is no future for them, there are no good medical facilities, the education is very poor. The people here are young guys, they want to learn, they want to work. Let them contribute to the society here.“ Hawa Cramm, Versammlungsleiterin berichtet: „Die Polizei vor Ort macht uns mo-
mentan sehr viel Stress. Wir bitten darum, zu der kooperativen Strategie der ersten Protesttage zurückzukehren.“ Sie alle sagen: „Wir sind aus unterschiedlichen Gründen aus Sierra Leone geflo-
hen, unsere Leben sind in Gefahr. Wir appellieren an alle zuständigen Behörden, die humanitäre Notlage der Menschen aus Sierra Leone anzuerkennen und von Abschiebungen abzusehen. Bei Rückkehr nach Sierra Leone drohen uns Verfolgung und Bestrafung, Folter und im schlimmsten Fall Mord.“ Die Forderungen: Ein Ende der Botschaftsanhörungen in München, einen Abschiebe-
stopp nach Sierra Leone und Aufenthaltsperspektiven für Geflüchtete aus Sierra Leone! — Am Samstag, 30. Oktober, demonstrieren Flüchtlinge aus Sierra Leone und ihre deutschen Unterstüt-zer.9 — Das Bayerische Landesamts für Asyl und Rückführungen (LfAR) unterzog die in Deutsch-land registrierten Flüchtlinge einer Identitätsprüfung. Das Ergebnis: Circa 300 Geflüchtete wurden vorgeladen. Davon seien etwa drei Viertel als Angehörige des westafrikanischen Landes identifi-ziert worden. Ihnen droht nun die Abschiebung. — Zwei Wochen campen die Flüchtlinge in Ober-sendling. Am 4. November ziehen sie vor die Feldherrnhalle am Odeonsplatz. „Wenn wir zurück nach Sierra Leone müssen, landen wir sofort im Gefängnis. Dort gibt es keine Justiz – keine Ge-rechigkeit“, betont Alvin Kamara, der vor etwa sechs Jahren mit einem Schlauchboot über das Mit-telmeer nach Europa kam – auf der Flucht vor Gewalt, einer diktatorischen Regierung und Korrup-tion.


Am 19. November findet vom neuen Protestcamp auf dem Königsplatz ausgehend eine Demon-
stration der Geflüchteten aus Sierra Leone und ihrer Unterstützer Seebrücke, Fridays for Future, die Linke und AK Aktiv gegen Rechts in ver.di München statt.10

Am 1. Dezember fordert die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschi-
stinnen und Antifaschisten
, Landesverband Bayern vor dem bayrischen Innenministerium zum 75. Jahrestag der Annahme der Bayerischen Verfassung: „Das Flüchtlingselend an Europas Grenzen mahnt zur Verwirklichung der Bayerischen Verfassung: Geflüchtete Menschen aufnehmen!“

Anfang Dezember setzt die EU-Kommission das Asyl-und Migrationsrecht für geflüchtete Perso-
nen an der polnisch-belarussischen Grenze aus: Ein Ort, an dem Menschen seit Wochen festsitzen, erfrieren, sterben und erneut lediglich als Spielbälle politischer Mächte benutzt werden. Das Münchner Friedensbündnis hält am Freitag, 10. Dezember, am Tag der Menschenrechte, von 13 – 14 Uhr eine Mahnwache auf dem Stachus ab.







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Susanne Tidow und Günter Wangerin, beide vom Arbeitskreis gegen Rechts in ver.di München, werden am Freitag, 10. Dezember, auf dem Odeonsplatz, dem Stachus, dem Marienplatz und am Sendlinger Tor aktiv. Ihre Inszenierung dient der Unterstützung der Geflüchteten aus Sierra Leone. Sie halten den Passanten einen Spiegel vor. „Wie die drei Affen hört Ihr nichts, seht Ihr nichts und Ihr schweigt. Dass Corona alles überlagert, ist keine Entschuldigung. Kommt am Samstag, den 18. Dezember, zum Gärtnerplatz um 14 Uhr zu unserer Protestdemonstration!“ 12


1 https://www.fluechtlingsrat-bayern.de/corona-pandemie-wuetet-in-bayerischen-unterkuenften/

2 Ausreisepflichtige Afghanen sollten dringend eine Beratungsstelle oder eine:n Rechtsanwält:in aufzusuchen. Siehe https://www.fluechtlingsrat-bayern.de/themen/abschiebungennachafghanistan/#themenmaterial.

3 Siehe die Bilder der Demonstration „keine abschiebung“ vom 7. März von Günther Gerstenberg.

4 Siehe die Bilder der Demonstration „afghanistan is not safe“ vom 5. Juni von Günther Gerstenberg.

5 Siehe die Bilder der Kundgebung „keine abschiebungen nach afghanistan“ vom 10. August von Peter Brüning.

6 Siehe die Bilder der Kundgebung „widerstand gegen die taliban“ vom 21. August von Peter Brüning.

7 Siehe https://www.seebruecke-muenchen.org/.

8 Fotos des sierra-leonischen Protestcamps vom 23. Oktober 2021: Richy Meyer

9 Siehe die Bilder der Demonstration „keine abschiebungen nach sierra leone!“ vom 30. Oktober von Günther Gerstenberg.

10 Siehe die Bilder der Demonstration „stop deportation to sierra leone!“ vom 20. November von Günther Gerstenberg.

11 Fotos: Wolfgang Smuda

12 Siehe die Bilder der Demonstration „keine abschiebung für niemand“ vom 18. Dezember von Günther Gerstenberg.

Überraschung

Jahr: 2021
Bereich: Flüchtlinge