Materialien 2019

Erinnerung an einen unbequemen Mitstreiter

Als Wolfgang Graf gegen Ende des vorigen Jahrtausends im Archiv der Münchner Arbeiterbewe-
gung erschien und vorschlug, ihn als Aktiven in den engeren Zirkel des Vereins aufzunehmen, ahnten einige, dass sie schon bald auf herkömmliche Routinen verzichten mussten. Wolfgang war mit schnellen Entscheidungen nicht einverstanden und stellte regelmäßig scheinbare Übereinkünf-
te in Frage. Einige von uns sahen sich ob seiner differenzierten Argumentation überfordert, andere waren froh, dass er auf ungeklärte Widersprüche hinwies.

Eines Tage meinte er, der Name des Archivs müsse gegendert werden. Ansonsten repräsentiere das Archiv patriarchale Strukturen, die längst auf den Müllhaufen der Geschichte gehörten. Sein Vor-
schlag wurde mit der Begründung abgelehnt, nicht eine formale Bezeichnung sei entscheidend, entscheidend sei, dass das Archiv von Anfang an eine Frau als Vorsitzende gehabt habe. Wolfgang ließ nicht locker. Wir müssten doch wissen, dass Sprache immer auch Herrschaftstechnik sei. Eine Umbenennung sei von Nöten. Die etwas hilflose Antwort darauf war, der Name habe sich einge-
bürgert und wir hätten nicht die Manpower, eine Namensumbenennung auf Briefköpfen, im Tele-
fonbuch, beim Vereinsregistergericht und auf weiteren Feldern in Angriff zu nehmen. Wolfgang wies darauf hin, dass allein schon die Begriffe „eingebürgert“ und „Manpower“ zu hinterfragen seien.

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Wenn Wolfgang sich zu Wort meldete, sanken manche Mitglieder des Vereinsvorstands in sich zu-
sammen. Sie wussten, jetzt wird es anspruchsvoll und anstrengend. Schließlich setzte sich die BASTA-Fraktion gegen alle Argumente durch: Der Name des Archivs werde, wenn wir Wolfgang folgten, zu lang. Was Wolfgang nicht daran hinderte, einmal im Jahr die Aufnahme der Arbeiterin-
nen in die Namensgebung des Archivs mit immer differenzierteren Begründungen, aber vergeblich zu fordern.

Nicht alles, was Wolfgang Graf anstrebte, wurde umgesetzt. In einem Punkt hatte er Erfolg. Immer wieder forderten verschiedene Initiativen oder Parteien das Archiv auf, an Solidaritätsaktionen als Verein teilzunehmen. Von Anfang an hatte das Archiv den Anspruch, nicht nur alles das zu sam-
meln, was für die Münchner Arbeiterbewegung relevant war. Es beanspruchte, strömungsübergrei-
fend das ganze Spektrum der sozialen, ökonomischen und ökologischen Bewegungen wahrzuneh-
men. Dazu gehörte selbstverständlich Feminismus, Antirassismus, Internationalismus, Aktionen gegen Gentrifizierung etc.

Graf meinte, wenn wir als Archiv eine Aktion zum Beispiel der SPD oder des Arbeiterbundes oder der Autonomen unterstützen, werden wir in der Öffentlichkeit mit dieser Gruppierung identifiziert. Andere Parteien oder Initiativen werden uns dann ihr Material nicht mehr zu treuen Händen ge-
ben. Jedem einzelnen Mitglied im Archiv sei es ja unbenommen, sich in der einen oder anderen Organisation zu engagieren. Das Archiv selbst dürfe aber auf keinen Fall als Unterstützer welcher Gruppe auch immer auftreten.

Diese Argumentation fand bei einer breiten Mehrheit Unterstützung. Schon bald sahen auch die Politaktivisten ein, dass die Arbeit des Archivs sich nicht in tagespolitische Konflikte einzubringen habe, sondern langfristig zu sichern sei.

Sehr schnell wurde Wolfgang zu einem unverzichtbaren Mitstreiter. Er verzeichnete Archivgut, plante Projekte und wurde zum begehrten Interviewpartner. Er wies darauf hin, dass die Wider-
ständigkeit seiner Eltern in der Nazizeit nicht nur höchst anerkennenswert war, sondern auch ver-
heerende Kollateralschäden mit sich brachte. Eine glückliche und unbeschwerte Kindheit hatte Wolfgang nicht. Der Druck war enorm. Bis ins hohe Alter litt er unter Albträumen. Eine Geschichte der Kinder von Antifaschisten ist bis heute nicht geschrieben.

Mehrdeutigkeiten, Widersprüche und nicht zu Ende gedachte Fragestellungen interessierten ihn mehr als abgerundete Geschichtsschreibung. Was er nach 1945 erfolgreich in die Wege geleitet hat, tat er mit einer lässigen Handbewegung ab. Es erschien ihm wenig erwähnenswert, dass er von 1950 an bis 1967 als Lehrkraft (Neuphilologe) und ab da bis 1969 als stellvertretender Schulleiter an der Abendrealschule, der heutigen Franz-Auweck-Abendschule und anschließend bis 1987 als Studiendirektor und stellvertretender Schulleiter am Abendgymnasium München tätig war. Zu-
sätzlich war er von 1960 – 1967 als freier Mitarbeiter in der Zeitschrift „Schule und Jugend“ des Schulreferats beschäftigt und von 1960 – 1983 für dessen Abteilung Lehrer- und Schüleraustausch aktiv, für die er durch Jahre Lehrergruppen vor allem in Israel und Ägypten begleitete. In den Jahren 1970 – 1985 war er Mitglied im Vorstand des Rings der Direktoren der Abendgymnasien der Bundesrepublik und hier stellvertretender und geschäftsführender Vorsitzender. 1951 trat er der GEW bei und leitete die Münchner GEW von 1955 – 1970. Er erinnerte sich vergnügt daran, wie der verschworene Kern der Münchner Gewerkschaft in ihren Anfängen die einzelnen von Ma-
trizen abgezogenen Seiten der DDS auf einen Tisch legte und dann wie bei einer Prozession um den Tisch wanderte, um die Seiten zusammenzulegen und schließlich zu heften.

Alle Veränderungen aufzuzählen, die Graf oft gegen heftigste Widerstände durchzudrücken ver-
stand, reicht hier der Platz nicht aus. Um nur ein unscheinbares Beispiel zu nennen: Die Stadt München hatte ihren Beschäftigten, die eine weiterführende Schule besuchten, Stundenermäßi-
gung bei der Arbeitszeit gegeben. Graf war der Meinung, die könnte man dadurch einsetzen, dass die Berufschülerinnen und -schüler schon am Samstagnachmittag die Schulbank drücken, so dass sie nicht jeden Tag, Montag mit Freitag, nach dem Beruf erst in die Schule gehen müssen, dann um zehn heimkommen, dann zu Abend essen, um dann in aller Frühe aufstehen, um wieder zu arbei-ten. Graf erreichte so, dass die Berufsschülerinnen und -schüler wenigstens einen Abend in der Woche frei hatten.

Einmal verwies er doch auf einen seiner Erfolge. Vor etwa fünf Jahren erwähnte er in einem Ge-
spräch: „Ich bin ein Gerechtigkeitsfanatiker als Pauker gewesen. Mich hat es maßlos aufgeregt, als ich festgestellt habe, dass scharfe Lehrer Arbeiten schlecht bewerteten, arbeitsökonomisch einge-
stellte Lehrer aber bessere Noten gaben. Das hat mich stocknarrisch gemacht. Und in Folge dessen habe ich auf einen Tag gewartet, als der Schulleiter nicht da war. Da habe ich ein ‚Abitur‘ durchge-
zogen, bei dem zehn Neuphilologen für jede Stufe nachmittags eine Schulaufgabe erarbeitet haben, die mit zwei Aufsichten im ganzen Haus dann zu einer bestimmten Zeit am Abend, 18 Uhr bis 19.30 Uhr, gehalten und gemeinsam korrigiert worden ist. Die ganzen Arbeiten. Und da war natür-
lich das drin, was ich ja immer behauptet hatte, dass die Noten um zwei Grade auseinander gehen. Daraufhin habe ich über den DGB-Kreis bei der Stadt bewirkt, dass die Schule für jedes Fach einen Fachbetreuer bekommen hat, der eine Stunde Ermäßigung hatte und dafür alle Schulaufgaben durchschauen musste, ob es da zu weit auseinander gehende Bewertungen gab. Diese Geschichte ist dann von der GEW weitergetrieben worden und hat auf die Tagesschulen übergegriffen. Das ist später ein sozialpolitisches Element geworden, indem die Fachbetreuer eine Stufe rauf gerutscht und eigens bezahlt worden sind. Damit ist nicht alles gesichert, aber jetzt herrscht wesentlich grö-
ßere Gerechtigkeit in den Klitschen, seit jedes Fach einen Fachbetreuer oder eine Fachbetreuerin hat, bei der die Schulaufgaben alle abgegeben werden … Das hat mich immer mit großer Genugtu-
ung erfüllt.“

Am 19. September verstarb Wolfgang Graf. Die heutige Geschäftsführerin der Münchner GEW Siri Schultze betont zu Recht: „Er hat die Anfangsjahre der GEW München und Bayern entscheidend mitgeprägt. Bildungs- und schulpolitisch hat er im Bildungswesen in München Maßstäbe gesetzt, vor allem im Aufbau und Ausbau von Einrichtungen des zweiten Bildungsweges.“

Günther Gerstenberg

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1 Wolfgang Graf am 22. November 2006 bei einer Sitzung des Archivs der Münchner Arbeiterbewegung, im Hintergrund: Heinz Huber, Foto: Gerstenberg

Überraschung

Jahr: 2019
Bereich: Gedenken