Materialien 1999

Die Bombe im Bürgerbräukeller

FR 260 vom 8.11.1999

13. November 1999

An die
Frankfurter Rundschau
Große Eschenheimer Straße 15 – 18
60266 Frankfurt

Sehr geehrte Damen und Herrn,

ein Privatdozent fällt ein Urteil. Er beklagt unschuldige, unbekannte Dritte, deren Tod – so sieht es aus – der Attentäter billigend in Kauf genommen habe, und meint, Georg Elser sei moralisches Versagen vorzuwerfen.

Nun sagt mir mein gesunder Menschenverstand, den akademische Erörterungen hoffentlich noch nicht paralysieren konnten, dass ein Mensch, der mit dem Flugzeug fliegt, nicht damit rechnet, ab-
zustürzen, aber sicher schon davon gehört hat, dass Flugzeuge vom Himmel fallen können. Und dass ein Mensch, um es drastischer auszudrücken, wenn er bei ROT über die Straße geht, Gefahr läuft, überfahren zu werden. Oder um es endlich eindeutig zu sagen: Wer sich in die Nähe von Ge-
waltmenschen begibt, kann auch als Aushilfskassiererin und Angestellte im Falle des Tyrannen-
mordes verletzt oder getötet werden.

Mitopfer gab es immer in der Geschichte von Gewalt und Gegengewalt, und das weiß wirklich JEDE UND JEDER.

Herr Fritze meint, Georg Elser habe „seine politische Beurteilungskompetenz überschritten“. Herr Fritze gesteht damit indirekt ein, dass auch er damals zu denen gehört hätte, die die Nazis und ihre Politik nicht haben einschätzen können, Ich vermute: Er kann sie heute noch nicht einschätzen.

Dabei haben die apostrophierten „Durchschnittsbürger“ schon Anfang der dreißiger Jahre auf Pla-
katen und in Zeitungen die zutreffende Prognose lesen können: „Hitler bedeutet Krieg.“ Später konnten die „unbeteiligten Durchschnittsbürger“ jeden Tag in Zeitungen lesen und im Volksemp-
fänger hören, was die Nazis planten. Wer war da noch „unbeteiligter Dritter“?

Am 10. März 1933 war in allen Münchner Zeitungen zu lesen: „Am Mittwoch wird in der Nähe von Dachau das erste Konzentrationslager mit einem Fassungsvermögen für 5.000 Menschen errichtet werden. Hier werden die gesamten kommunistischen und, soweit dies notwendig ist, Reichsban-
ner- und sozialdemokratische Funktionäre, die die Sicherheit des Staates gefährden, zusammenge-
zogen …“ Schon Wochen danach gab es niemanden in der Stadt, der nicht wusste, wie in diesem Lager gefoltert und gemordet wurde. Der Satz „Halts Maul, sonst kommst nach Dachau“ wurde zur stehenden Redewendung. Das alles unter Ausschluß der Öffentlichkeit?

1935 und l936 kam es im ganzen Reich aufgrund der verschlechterten Arbeitsbedingungen zu großen Streiks. Von Anfang 1935 bis Ende 1937 wurden über 18.500 Kommunisten und mehr als 2.000 Sozialdemokraten verhaftet und verurteilt. Zwischen 1933 und 1939 waren es mehr als 230.000 Männer und Frauen, die sich wehrten und dafür verurteilt, eingesperrt, gequält und er-
mordet wurden.

Die Archive der Republik sind voll von Dokumenten, in denen die Gestapo über Oppositionelle berichtet. Und Elser war einer dieser Oppositionellen, die die Augen und Ohren aufgemacht und hingesehen haben, dann konsequent gedacht und schließlich konsequent gehandelt haben.

Herr Fritze glaubt, Elser habe mit seinem Attentat „ein besonders hehres und großartiges Ziel zu erreichen“ versucht. Nein! Elser hatte es nicht nötig, sich ein Denkmal zu setzen. Er hat sich „nur“ gewehrt, und dies auch stellvertretend für alle die, die schon ermordet oder gequält worden sind, und für die Millionen, die noch zum Morden anstanden.

Wenn Herr Fritze ein Urteil fällt, dann ist jede Diktatur froh. Ja, sie ist sogar darauf angewiesen, auf weltfremde Privatdozenten zurückgreifen zu können, die sich nicht wehren, aber dafür im ent-
scheidenden Moment ihre private Moral spitzfindig in die Waagschale werfen.

Mit freundlichen Grüßen

Günther Gerstenberg

Überraschung

Jahr: 1999
Bereich: Gedenken