Materialien 1986

D’ Menschen san halt immer no Vierbeiner

„Der Krieg kommt immer näher, und keine Partei hat das bis jetzt verhindert. Die Friedensbewe-
gung selbst ist nur eine halbe Sache. Zwar ist man gegen Waffen, aber nicht gegen den, der den Krieg führt, den Staat. Es liegt in seiner Natur, immer Gewalt anzuwenden, nach Innen und nach Außen; er kann sich nur mit Gewalt halten. Wer den Krieg aufrichtig ablehnt, müsste eigentlich alle autoritären Gebilde ablehnen. Zur Zeit reden alle vom Frieden, und nie war der Krieg so nah. Der Zwang, vom Frieden reden zu müssen, ist der Beweis, dass der Kriegszustand in Wirklichkeit bereits herrscht. Darum: Weg mit dem Staat, weg mit dem Militär. Die Leute in Costa Rica haben schon lange kein Militär mehr, und es gibt sie noch immer. I dad alle Politiker – es san ja nur a paar Hansel – auf a lnsel aussetzen und dann dad i sogn: Jetzt machts euern Krieg unter eich aus!“

Das meint Benno Scharmanski, den wir, Claudia und Günther, besuchten. Scharmanski ist Anar-
cho-Syndikalist. Der bald 80jährige gehört also zu der politischen Richtung, die meist ausgespart wird, wenn von der Münchner Arbeiterbewegung gesprochen wird. Dabei haben nicht wenig anar-
cho-syndikalistisch organisierte Arbeiter besonders vor dem Ersten Weltkrieg in München oft ge-
streikt und demonstriert. Zum Beispiel 1905 auf dem Sendlinger-Tor-Platz: Die Münchner Arbeits-
losen – ein Großteil von ihnen Anarcho-Syndikalisten – forderten im Januar Brot und Arbeit. Dem Gewerkschaftsverein gelang es nur mit Mühe, die Protestbewegung zu kanalisieren. Während sich der sozialdemokratische Landtagsabgeordnete Müller von den „von anonymer Seite in Szene ge-
setzten Arbeitslosendemonstrationen, die geeignet waren, die Gemütlichkeit der Bierstadt Mün-
chen zu stören“ distanzierte, rief der Gewerkschaftsverein zu eigenen Protestversammlungen auf.

Herrschaftsfrei

Die Anarchisten des 19. Jahrhunderts, das heißt antistaatlich, antiparlamentarisch und antibüro-
kratisch eingestellte Sozialisten, deren Zielvorstellung eine herrschaftsfreie Gesellschaft hier und jetzt war, fanden sich in Bayern vor allem auf dem Land bei ungelernten Arbeitern, bei Saisonar-
beitern und in München nach der Jahrhundertwende besonders in den Berufen der „jungen“ che-
mischen Industrie. Sie bekämpften den Klerus, waren gegen das „Opium des Parlamentarismus“ und wandten sich vor allem gegen eine Einbindung der Arbeiterbewegung in den Staat.

Der zierliche Mann mit dem vollen weißen Haar erzählt uns: Geboren ist er am 28. Juli 1906 in Bogenhausen in der Trogerstraße. Schon der Vater, Jahrgang 1878, Schreiner und von Polen nach München zugewandert, ist Anarchist. Im Ersten Weltkrieg wird er eingezogen und nach Danzig versetzt. Die Familie zieht mit. Benno Scharmanski erinnert sich noch gut, wie oft im Religionsun-
terricht der Rohrstock auf seinem Rücken in Stücke zerbricht, weil er wieder nichts „gelernt“ hat. Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges kehrt die Familie nach München zurück.

Am 26. Februar 1919 erlebt der Bub staunend die fünf Kilometer lange Demonstration anlässlich der Beerdigung des ermordeten Ministerpräsidenten Kurt Eisner, und er erinnert sich noch an den Doppeldecker, der über München kreiste und ein langes Spruchband hinter sich herzog mit der Aufschrift (den Eisner-Mörder betreffend): „Verschonet Graf Arco nicht!“

1921 wird er nach Abschluss einer Schreinerlehre in einen kleineren Betrieb übernommen. „Am 1. Mai 1924, in meinem letzten Lehrjahr, habe ich mit den Gesellen gestreikt. Auch zwei weitere Lehrbuben erschienen nicht zur Arbeit, nachdem ich sie dazu aufgefordert hatte. Später haben sie mich dann beim Meister als Anstifter denunziert. Am anderen Tag wurde ich vom Meister mit wüsten Beschimpfungen empfangen, ein Streit entstand, und der Meister schlug mich nieder.“ Später weigert er sich, über die Zeit hinaus zu arbeiten, denn laut Arbeitsvertrag ist um fünf Uhr Schluss. Scharmanski wird entlassen’

Organisiert ist er in der anarcho-syndikalistischen Holzarbeiter-Föderation, die sich wie auch die Metallarbeiter- oder Bauarbeiter-Föderation in den 20erJahren regelmäßig im „Fraunhofer“ trifft. Man diskutiert über die Lohnfrage, und wie man sich vor den Übergriffen der Unternehmer und der Handwerksmeister schützen kann. Schließlich landet Scharmanski bei AGFA, einem damals schon größeren Betrieb, und bekommt dort als einziger Anarchist die schmutzigste Arbeit zugewie-
sen. „Die anderen Kollegen, die Sozis, des war a Spezlwirtschaft, da hat sich a jeder gegenseitig das Beste zugschobn!“

Am 8. März 1933 stürmen die Nazis das Münchner Gewerkschaftshaus. Ähnlich wie die Kollegen des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes (ADGB) denken die Anarcho-Syndikalisten nicht an organisierten Widerstand; die Lage ist hoffnungslos, und sie sind zu wenige. Die Verhaf-
tungswelle rollt an. – Seit 1927 war Scharmanski Mitglied des Gesangsvereins „Freie Sänger Mün-
chen“. Anfang Juni 1933 wird das Lokal des inzwischen verbotenen Vereins von den Nazis ge-
stürmt und die „freien Sänger“ verhaftet. Mit seinen Genossen wird Scharmanski ins KZ Dachau abtransportiert; am 16. Dezember wird er entlassen.

Am 18. Juli 1936 putschte General Franco gegen die spanische Republik. Scharmanski versucht sich über den Bodensee mit dem Faltboot in die Schweiz und dann nach Spanien durchzuschlagen, um für die Republik zu kämpfen. Er wird in der Schweiz verhaftet. Nach drei Tagen Gefängnis wird er nach Deutschland zurückgebracht.

Bei Kriegsausbruch wird er zum Bodenpersonal der Luftwaffe eingezogen. Es gelingt schon mal, beim Laden großer Kerosin-Fässer diese mit leicht geöffneten Verschlüssen so zu stapeln, dass diese nach unten weisen und das wertvolle Kerosin ausläuft. Scharmanski „kämpft“ in Charkow/ Ukraine, später in Frankreich und gerät dort in amerikanische Gefangenschaft – es versteht sich von selbst, dass er während des gesamten Kriegsverlaufs keinen „Feind“ erschossen, sondern nur in die Luft gefeuert hat. Über seine Gefangenschaft sagt er: „Der Fraß, den wir im Lager Male Le Camp bekommen haben, war genauso zum Speiben wie im KZ!“

Nach der Entlassung schlägt er sich im Sommer 1945 auf Lastwägen und per Bahn nach München durch. Hier trifft er sich wieder mit den Überresten der anarchistischen Föderation. Regelmäßiger Treffpunkt der 15 bis 20 Genossen ist das Hinterzimmer einer Eckkneipe in der Heimeranstraße.

Bis heute wurden immer wieder Versuche unternommen, eine schlagkräftige starke anarchistische Organisation aufzubauen. Nur sind Anarchisten eben auch große Individualisten, die sich nicht gerne Gruppenzwängen unterordnen. Benno Scharmanski: „Mei, die Menschen wollen halt eine neue Wohnung, ein neues Auto, eine neue Einrichtung, neue Kleider, und wenn diese Forderungen erfüllt sind, dann sind sie zufrieden. Nur eine neue Gesellschaft, die wollen sie nicht. Da halten sie an der alten fest, die schon 2000 Jahre besteht. Und die oben, die die Regierung bilden und be-
haupten, die Interessen aller zu vertreten, vertreten doch erst mal ihre eigenen Interessen. Die Leute sind lethargische Hornochsen. Und die Intellektuellen, wenn sie wirklich aufrichtige Men-
schen wären, dann würden sie die Bevölkerung aufklären über ihre erbärmliche, unmenschliche Lage, in der sie sich befinden. Ja, wenn der Taubenkogel brennt, und ma jagt die Taubn auf der einen Seitn raus, fliagns bei der andern Seitn wieder nei. D’ Menschen san halt immer no Vierbei-
ner.“

C.B./G.G.


wir. Informationen für Münchner Gewerkschafter. DGB-Kreis München, 2/1986, 13.

Überraschung

Jahr: 1986
Bereich: Alternative Szene