Materialien 1973
48 Jahre später
Am 6. November 2020 erhielt ich eine E-Mail, in der ich aufgefordert wurde, einen Artikel auf meiner Web-Seite http://protest-muenchen.sub-bavaria.de zu löschen. Diese existiert schon bei-
nahe zehn Jahre. Im Vierteljahr hat sie zwischen 8.000 und 9.000 Zugriffe. Sie schildert Konflikte der Münchner Stadtgeschichte seit 1945 bis heute.
Regelmäßig schreiben mich Menschen an, die bei der Dokumentation der Ereignisse in Texten oder Textabschnitten oder auf Bildern nicht genannt oder nicht gezeigt werden wollen. Es ist für mich selbstverständlich, dass ich Persönlichkeitsrechte achte. In allen Fällen, in denen es sich um Individuen handelte, die keine Positionen in der Gesellschaft besaßen oder keine besondere politi-
sche oder parteipolitische Rolle in der Gesellschaft beanspruchten und darauf bestanden, anonym bleiben zu wollen, habe ich sofort ihrem Wunsch entsprochen und Texte, Passagen oder Bilder ge-
löscht. Persönlichkeitsrechte sind ein hohes Gut.
Der Artikel, den ich unter der Rubrik 1973 veröffentlichte und den ich nun löschen soll, beschreibt den Konflikt zwischen einem Hausbesitzer und seinen Mietern Anfang der 70er Jahre. In dieser Zeit änderten sich in manchen Münchner Stadtvierteln die Strukturen; die Auseinandersetzungen zwischen Immobilieneigentümern und deren Mietern wurden virulent. Es finden sich eine Vielzahl von Zeitungsartikeln, Flugblättern und Broschüren, die diese Auseinandersetzungen beschreiben und dabei, wie in unserem Fall, den Hauseigentümer mit Namen nennen. So berichtet zum Bei-
spiel die Illustrierte STERN in ihrer Nummer 8/1973 auf Seite 133 unter vollständiger Nennung des Namens vom Vorgehen des Hausbesitzers.
Im Staatsarchiv finden sich Ermittlungs- und Prozessakten: Zwei Journalisten der Abendzeitung stellten 1974 Anzeige wegen Körperverletzung und Sachbeschädigung durch den Hausbesitzer. Das Archiv verwahrt die Augenzeugenbefragung im Englischen Garten. Schließlich wurde der Hausbe-
sitzer am 12. Oktober 1976 von einem Schöffengericht wegen fortgesetzten Betrugs und Nötigung zu einem Jahr Freiheitsstrafe, die gegen eine Geldstrafe für drei Jahre zur Bewährung ausgesetzt wurde, verurteilt, sein Hausverwalter bekam wegen Körperverletzung, Nötigung und Betrug eine Geldstrafe. In der Berufungsinstanz wurde der Hausbesitzer mangels Beweisen freigesprochen.
1932 erblickte der Hauseigentümer das Licht der Welt. Damit läuft die im Art. 10 Abs. 3 BayAr-
chivG geregelte Schutzfrist von 90 Jahren nach der Geburt gegen Ende des Jahres 2022 ab. Dann kann jede Staatsbürgerin, jeder Staatsbürger diese Akten einsehen.
Mir ist völlig klar, dass jeder Mensch den Wunsch verspürt, sein Renommee oder das eines Fami-
lienangehörigen wieder herzustellen. Andererseits wollen die ehemaligen Mieter oder deren Nach-
kommen, dass kein Gras über die Vorfälle der damaligen Auseinandersetzung wächst. Sie wollen, dass die Erinnerung an ihre leidvollen Erfahrungen erhalten bleibt. Was also tun?
Der Hauseigentümer hat in aller Öffentlichkeit in einer Fülle von Konflikten eine Position bezogen, die weit über das individuelle Handeln anonymer Mitmenschen hinausreicht. Er ist somit zur öf-
fentlichen Person der Münchner Zeitgeschichte geworden. Daher wird auch die Löschung nur eines Artikels seine Anwesenheit auf vielen ungedruckten und gedruckten Dokumenten nicht be-
seitigen. Prozessunterlagen und Broschüren, die seinen Namen nennen, befinden sich in Privat-
sammlungen, Bibliotheken und Archiven.
Als Dokumentarist der Münchner Zeitgeschichte lege ich zudem Wert darauf, Protagonisten der Ereignisse lebendig werden zu lassen. Zeitgeschichte wird abstrakt und uninteressant, wenn sie von anonymen Interessen und ihrer Durchsetzung berichtet. Sie ist ohne konkrete Akteure sinnlos. Mein Anliegen ist es, die Konflikte der Vergangenheit der Öffentlichkeit so zu präsentieren, dass sie nachempfunden werden können. Es ist nicht meine Aufgabe, ethisches oder unethisches Ver-
halten der Protagonisten zu bewerten. Dies können nur die Leserinnen und Leser meiner Web-Seite.
Am 14. November 2020 habe ich nun der Firma, die mich zur Löschung des Artikels aufforderte, Folgendes geschrieben:
„Sehr geehrte Damen und Herrn, um entscheiden zu können, ob ich den von Ihnen beanstandeten Text lösche oder wieder freischalte, benötige ich von Ihnen eine Begründung, die erläutert, auf welcher Rechtsgrundlage Ihre Forderung beruht. Ich hoffe, dass sie dies mir in absehbarer Zeit mitteilen können. Selbstverständlich bleibt bis zu diesem Zeitpunkt der inkriminierte Text für die Öffentlichkeit gesperrt. M.f.G.“
Da ich keine Antwort erhielt, schrieb ich am 29. November den folgenden Brief:
„… Sie baten mich am 6. November 2020, einen Artikel auf meiner Web-Seite http://protest-muenchen.sub-bavaria.de zu löschen. Mit Schreiben vom 14. November bat ich Sie, mir die Rechts-
grundlage Ihrer Forderung mitzuteilen. Bis heute, 29. November, erhielt ich von Ihnen keine Ant-
wort. Sollte ich bis Ende diesen Jahres nichts mehr von Ihnen hören, gehe ich davon aus, dass Sie kein Interesse mehr an der Löschung des Artikels haben. Ich werde dann den inkriminierten Arti-
kel wieder freischalten …“
Am 16. Dezember erhielt ich folgenden Brief:
„… Wir können keine rechtliche Beurteilung zu Ihrem Portal und den Inhalten anbieten. Wir haben Ihnen im Auftrag unseres Kunden mitgeteilt, dass ein Inhalt auf Ihrer Webseite offensichtlich seine Reputation beschädigt und dieser deshalb die Entfernung oder Veränderung (z.B. Namensentfer-
nung) wünscht. Wir vermitteln mediativ zwischen Ihnen und unserem Kunden. Uns ist sehr daran gelegen – völlig unabhängig von etwaigen Rechtsgründen – eine Lösung in dieser Sache mit Ihnen zu finden. Sollten Sie nicht reagieren, hat unser Auftraggeber davon unabhängig natürlich die Möglichkeit, selbst einen Rechtsanwalt zu beauftragen oder direkt gerichtlich dagegen vorzugehen. Bei weiteren Fragen stehen wir Ihnen gerne zur Verfügung …“
Daraufhin schrieb ich am 18. Dezember:
„… Gestatten Sie mir folgende Stellungnahme: In meiner Anfrage an Sie bat ich Sie NICHT um eine ‚rechtliche Beurteilung zu meinem Portal und den Inhalten‘, sondern um eine Begründung mit Verweis auf die Rechtsgrundlage des Wunsches Ihres Kunden, die inkriminierte Seite auf meiner Web-Seite zu löschen. Hiermit bitte ich Sie, Ihrem Kunden Folgendes mitzuteilen: Meine Bitte um Ihre Stellungnahme, auf welcher Rechtsgrundlage Ihr Wunsch nach Löschung des inkriminierten Artikels http://protest-muenchen.sub-bavaria.de/artikel/2023 beruht, bleibt weiter bestehen. Gerne verlängere ich die Frist für eine Antwort um weitere vier Wochen. Sollte ich bis zum 1. Feb-
ruar 2021 keine Antwort auf meine Bitte erhalten, werde ich den jetzt gesperrten Artikel wieder freischalten. …“
Die Antwort kam am 31. Januar:
„… Folgende Rückmeldung hat uns der Rechtsanwalt von Herrn Dr. R. übermittelt: ‚Der Auftrag-
geber, Herr A. R. hat noch einen Bruder, R. R., den ich Sie bitte gleichfalls zu vertreten. Letztlich werden wir nur mit der Argumentation weiterkommen, dass hier Rechte von Herrn R. R. verletzt werden. Gibt man nämlich den Namen von Herrn R. R. ein, so erscheint der Artikel, dessen end-
gültige Löschung wir ja anstreben. Meines Erachtens liegt hier eine offensichtliche Verwechslungs-
gefahr vor. Der unbefangene Leser wird also davon ausgehen, dass mit R. R. der im Artikel er-
wähnte Dr. R. R. angesprochen wird. Dem Mandanten geht es ausschließlich darum, dass der Artikel durch Eingabe des Namens R. R. nicht mehr auffindbar ist. Der Artikel könnte ja anony-
misiert im Internet erscheinen. Er hätte dadurch den gleichen Informationswert wie der Artikel unter Namensnennung. Mein Mandant, Herr R. R, wird immer wieder auf den Artikel angespro-
chen und muss dann erklären, dass es nicht um ihn geht, sondern um seinen verstorbenen Vater, was aber aus dem Inhalt des Artikel nicht ersichtlich ist.‘ Bei weiteren Fragen stehen wir Ihnen gerne zur Verfügung …“
Darauf antwortete ich:
„… Ich kann gut nachvollziehen, wie lästig es ist, genötigt zu werden, Mitmenschen davon in Kenntnis setzen zu müssen, dass trotz Namensgleichheit verschiedene Personen existieren. Selbst-
verständlich ist auch, dass Söhne nicht für Taten ihrer Väter zu büßen haben. Nun denke ich, dass es legitim ist, den Namen des verstorbenen Vaters mit dem Zusatz „senior“ zu versehen. Es wäre also immer die Rede von Dr. R. R. senior. Damit ist meines Erachtens jede Verwechselungsgefahr ausgeschlossen. Bis zum 1. März lasse ich, um diesen Vorschlag mit Ihnen abzuklären, den Artikel auf meiner Web-Seite weiterhin gesperrt …“
Bis heute bekam ich keine Antwort. Deshalb habe ich jetzt den Artikel wieder freigeschaltet. Siehe „Eigennutz geht stets voran“ von Georg Eschenbeck.
Günther Gerstenberg
4. März 2021