Flusslandschaft 2021

Kapitalismus

Am Mittwoch, 14. April, demonstrieren über 300 Menschen von der Ecke Fraunhofer-/Baaderstra-
ße um 22 Uhr über den Gärtnerplatz und das Isartor zu den Museum Lichtspielen. Die Parole lau-
tet: „Nicht auf unserem Rücken: Ausgangssperre für das Kapital!“ Aus einem Redebeitrag von Zu-
kunft erkämpfen
: „Ab morgen gilt in München eine Ausgangssperre. Wieder mal. Und Schulen und Betriebe? Bleiben offen. Völlig frei von jeder Sympathie für Querdenken und Corona-Leug-
nung nehmen wir diese Maßnahmen schlicht nicht mehr hin. Wissenschaftlich ist längst bewiesen, dass das Virus sich in erster Linie in geschlossenen Räumen überträgt. Also: In Schulen, in der U-Bahn und am Arbeitsplatz – nicht draußen auf der Straße. Aber um die Wirtschaft nicht ein-
schränken zu müssen, konzentriert sich die Politik auf Schein-Maßnahmen wie die Ausgangssper-
ren. Das Ergebnis: Isolierung und psychischer Druck steigen – aber die Infektionszahlen sinken nicht. Menschen, die den gesamten Tag neben Dutzend anderen in der Arbeit stehen, können in ihrer Freizeit nicht einmal mehr ein oder zwei Freunde treffen, weil zwischen Arbeitsschluss und Ausgangssperre die Zeit nicht reicht. Familien werden auf engstem Raum zusammengedrängt, Jugendliche zuhause eingesperrt, der Aufenthalt ausgerechnet an der freien Luft verunmöglicht. Gleichzeitig bleiben die U-Bahnen und Busse voll, die Schulöffnungen in Kraft und die Betriebe geöffnet. Dazu kommt: Die Maßnahmen treffen nicht alle gleich. Während die Reichen in ihren Gärten entspannt auf ein Ende der Pandemie warten können, werden all jene, die in kleinen Woh-
nungen wohnen und den ganzen Tag arbeiten müssen, in den psychischen Zusammenbruch getrie-
ben. Geflüchtete bleiben weiter in Massenunterkünften kaserniert, Obdachlose bleiben ohne Un-
terkunft. Pandemieschutz sieht anders aus. Wir sind bereit, uns einzuschränken, um die Pandemie zu bekämpfen. Aber das permanente, vollkommen wirkungslose Abschieben aller Verantwortung auf unsere Freizeit wollen und können wir nicht mehr hinnehmen. Deswegen protestieren wir ge-
gen die Ausgangssperren und fordern die sofortige Schließung aller nicht gesellschaftlich nötigen Arbeitsstätten bei voller Lohnfortzahlung. Es ist nicht hinnehmbar, dass unser aller Gesundheit dafür gefährdet wird, dass beispielsweise BMW und VW weiter SUVs produzieren und Milliarden an Dividenden ausschütten können, anstatt die Produktion auszusetzen, bis die Zahlen weit genug gesunken sind. Wir wollen nicht mehr für die Profite von anderen unsere Gesundheit gefährden! Diese Krise darf nicht auf unserem Rücken ausgetragen werden. Das „harte“ Vorgehen gegen unser Freizeit soll nur Aktionismus vortäuschen, wo in Wirklichkeit alle wirksamen Maßnahmen verhin-
dert werden, um die Profite nicht zu gefährden. Wir sind bereit, uns einzuschränken – aber nicht, wenn es nur dem Zweck dient, die Profite der Großkonzerne zu sichern. Wir fordern außerdem die sofortige Freigabe der Patente für den Impfstoff! Pfizer enteignen! Die Patente auf den Impfstoff bedrohen das Leben von hunderttausenden Menschen in den Ländern des globalen Südens. Und auch hier in Deutschland bedeuten die Patente eine reale Gefahr. Denn so lange nicht alle Men-
schen weltweit geimpft sind, ist die Pandemie nicht vorbei und besteht die Gefahr einer Mutation, gegen die bisherige Impfstoffe nicht oder nicht ausreichend schützen. Mitten in einer globalen Pandemie den Profit eines Pharmakonzerns über Menschenleben zu stellen ist ein Verbrechen."1

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In der neuen Unterführung an der Tegernsee Landstraße von der Okkerstraße kommend, Foto vom 21. April

Am Vorabend des Ersten Mai findet um 19.30 Uhr eine Demonstration auf dem Marktplatz in Grünwald statt. Die Beweggründe der Aktivistinnen und Aktivisten erläutert der Sprecher des Demo-Bündnisses „Meet the Rich – 1. große Umverteilungsparade“, Elia Linde: „Während viele Menschen in Deutschland und weltweit Angst um ihre Jobs und ihr Einkommen haben, trotz Infektionsgefahr in Großraumbüros, Schlachtfabriken u.Ä. arbeiten müssen, FLINTAs unbezahlte Reproduktions-/ Hausarbeit leisten und vermehrt von häuslicher Gewalt betroffen sind, (migran-
tische) Jugendliche aus dem öffentlichen Raum vertrieben werden und unter Polizeikontrollen leiden, Geflüchtete trotz Corona in enge Gemeinschaftsunterkünfte eingesperrt werden, sofern sie nicht direkt abgeschoben werden – während all dieser Misere verdienen u.A. in Grünwald sesshaf-
te Firmen weiter gut, bspw. an überteuerten Immobilien oder staatlich subventionierter Impfstoff-
produktion (Dermapharm AG). Darauf wollen wir aufmerksam machen und gleichzeitig zeigen, dass autoritäre Krisenlösungen, die auf individuelle Lösungen zielen, die Coronakrise nicht bewäl-
tigen, sondern deren Auswirkungen nur verschärfen. Noch weniger helfen uns Coronaleugner*in-
nen und andere Verschwörungsideolog*innen, deren antisemitisches und rechtes Potential von den wahren Problemen ablenkt sowie Unterdrückung und Sozialdarwinismus fördert. Stattdessen wollen wir für Impfstoff für alle eintreten, für Enteignungen bspw. von Immobilien, für die Kämpfe der Unterdrückten – kurz: Für eine solidarische Gesellschaft, in der Krisen nicht mehr auf dem Rücken der Schwächsten ausgetragen werden und im besten Fall gar nicht mehr entstehen!“

Im Polizeibericht heißt es am Tag danach: „Bei der fortbewegenden Versammlung waren in der Spitze 150 Teilnehmer vor Ort. Hier war es den Teilnehmern zunächst nicht möglich, die erforder-
lichen Abstände untereinander und zwischen den Seitentransparenten einzuhalten. Nach mehre-
ren Aufforderungen und Gesprächen mit dem Versammlungsleiter konnte sich der Demonstrati-
onszug schließlich gegen 19.45 Uhr in Bewegung setzen. Nach ca. 50 Metern musste die Versamm-
lung wieder angehalten werden, da erneut die erforderlichen Abstände nicht eingehalten wurden. Daraufhin wurde von polizeilicher Seite eine beschränkende Verfügung mit der Reduzierung auf eine stationäre Versammlung auf dem Markplatz ausgesprochen. Dies führte in der Folge dazu, dass der Versammlungsleiter die Versammlung um kurz nach 20.00 Uhr beendete. Bei der Ab-
wanderung vom Marktplatz wurde von der Polizei aus daraufhin gewirkt, dass sich die Versamm-
lungsteilnehmer nicht gesamt, sondern in Kleingruppen bewegen. Der Großteil begab sich dabei zur dortigen Trambahnhaltestelle. Hierbei und an der Haltestelle vor Ort mussten die Polizeibeam-
ten immer wieder eingreifen, um die öffentliche Sicherheit und Ordnung aufrechtzuerhalten (u.a. ständiges Drängen gegen die Einsatzkräfte, die die Abfahrt der Trambahn zu gewährleisten hat-
ten). Dabei kam es immer wieder zur Anwendung von unmittelbarem Zwang durch Schieben und Drücken, auch unter Zuhilfenahme des Schlagstockes. Dazu musste auch einmal das Pfefferspray eingesetzt werden. Unter Begleitung der Polizei fuhren die Versammlungsteilnehmer mit mehreren Trambahnen in die Münchner Innenstadt. Von dort aus verstreuten sie sich schließlich. Im Rah-
men des Gesamteinsatzes kam es zu vier vorläufigen Festnahmen und entsprechenden Strafanzei-
gen (dreimal tätlicher Angriff und Körperverletzung und einmal Beleidigung jeweils zum Nachteil von Polizeibeamten). In sechs Fällen kam es zu Anzeigen nach dem Infektionsschutzgesetz. Drei Polizeibeamte wurden bei dem Einsatz leicht verletzt.“

Die Demonstrantinnen und Demonstranten sehen die Ereignisse naturgemäß anders: „Gestern Abend, am 30. April um 19 Uhr, fand die Demonstration des ‚Meet-The-Rich’-Bündnisses in Grün-
wald statt. Geplant war ein ausdrucksstarker, antikapitalistischer Protestzug durch den Nobelvor-
ort. 200 Teilnehmer*innen hatten sich hierzu in der Ortsmitte eingefunden. Doch pöbelnde Schau-
lustige und eine von Anfang an eskalative Polizeistrategie verhinderten den angemeldeten Protest und setzen die Demonstrant*innen zudem einem unnötigen Infektionsrisiko aus. ‚Unseren Protest bewerten wir als erfolgreich, viele Leute konnten bzw. mussten sich unsere Forderungen nach Um-
verteilung und sozialer Gerechtigkeit anhören. Dass die Polizei aber unser Recht auf Versamm-
lungsfreiheit derart einschränkt ist nicht hinnehmbar. Wir sind wütend und wir können jetzt schon sagen: Ihr seht uns wieder!‘ sagt Elia Linde, Pressesprecher des ‚Meet-The-Rich’-Bündnisses. Be-
reits vor Beginn der Versammlung wurden die ersten Demoteilnehmer*innen ohne Angabe von Gründen kontrolliert und durchsucht. Auch auf der Auftaktkundgebung kam es zu Diskussionen mit den verantwortlichen Einsatzleitung wegen angeblich nicht eingehaltener Mindestabstände. Wiederholt wurde sich bemüht, den Forderungen der Polizei nachzukommen. Aber ohne Erfolg: Keine 50 Meter weit kam der Demozug, bevor dieser wieder aufgehalten wurde. Nachdem keine Kooperationsbereitschaft seitens der Polizei bestand und wir uns dieser Schikane nicht weiter aus-
setzen wollten, sahen wir keine andere Möglichkeit, als die Kundgebung aufzulösen. Die Polizei blockierte daraufhin die Abreise der Teilnehmer*innen und fing an, wahllos Leute zu schubsen und zu bedrängen. Dies setzte sich fort bis zur Tramhaltestelle Derbolfinger Platz. Dort setzen Polizi-
st*innen Pfefferspray und Schlagstöcke gegen friedliche Demonstrierende ein, es kam zu mehreren brutalen Festnahmen. Als sich die Situation beruhigte, beschloss die selbe Polizei, der wenigen Mi-
nuten zuvor der Infektionsschutz wichtiger als die Versammlungsfreiheit war, sich gemeinsam mit den Demonstrierenden für 30 Minuten in eine überfüllte Tram zu drängen. Am Grünwalder Marktplatz hatten sich zuvor Dutzende Gegendemonstrierende und Bier oder Sekt trinkende Schaulustige versammelt, welche die Demonstration teilweise anpöbelten und physisch angingen. Die meisten trugen dabei keine Schutzmasken und hielten die Abstände nicht ein. Die Polizei schritt hier jedoch nicht ein. ‚Der heutige Abend hat gezeigt, dass der Staat vor allem dem Schutz von Kapitalinteressen dient. Hinter ihm steht eine Melange aus ängstlichen Bürger*innen, kon-
servativen Scharfmachern und Rechtsradikalen. Das zeigte sich bereits in der antidemokratischen Haltung in den Tagen vor der Demonstration, als die angemeldete Demonstration delegitimiert und völlig überzogene Ängste geschürt wurden. Ich habe das ungute Gefühl, dass die Einsatzlei-
tung nie vorhatte, uns demonstrieren zu lassen und dass die polizeiliche Eskalation bei der Abreise eine Art Bestrafung darstellen sollte’, so Elia Linde, Pressesprecher des ‚Meet-the-Rich‘-Bündnis-
ses.“3

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„Die Überwindung der kapitalistischen Ökonomie muss zu den Zielsetzungen der Sozialdemokratie gehören.“5 So der stellvertretende Juso-Vorsitzende Olaf Scholz Ende der 80er Jahre, seit dem 8. Dezember ist er Bundeskanzler.


1 Siehe https://zukunfterkaempfen.noblogs.org/.

2 Foto: Hans Joachim Proft

3 Zugeschickt am Ersten Mai 2021

4 Grafik: Bernd Bücking. In: Roland Charles Pauli, Die Macht der EZB. Geldpolitik, Staatsfinanzierung und die Rolle der Zentralbank, isw-Report Nr. 125, Institut für sozial-ökologische Wirtschaftsforschung München e.V., Juni 2021, 7.

5 https://www.deutschlandfunk.de/scholz-retten-was-gerettet-werden-kann-100.html

Überraschung

Jahr: 2021
Bereich: Kapitalismus