Materialien 2021
München im Marianischen Regenschatten
Es passiert immer am Samstag. Immer um 19 Uhr, wenn der „Engel des Herrn“ geläutet wird. Es geschieht immer in München. Am Marienplatz, dem politischen Mittelpunkt der Landeshauptstadt und also im Zentrum Bayerns. Immer an der Mariensäule, von der aus zu Zeiten des Königs alle Entfernungen im Bayernlande gemessen wurden. Am Nullpunkt quasi, sozusagen Ground Zero. Mittiger geht’s nicht, zentraler kann es nicht mehr sein.
Ich schlendere nach der Maikundgebung entspannt durch die Altstadt, hole mir einen Kaffee „to go“ und werde gewahr, dass es leicht zu nieseln begonnen hat. Und noch etwas: Auf dem mittelsten Marienplatz trotzt eine kleine Menschenansammlung der rings umgebenden coronalen wie maifei-
ertäglichen Leere und Stille. Ich nähere mich und höre monotones Gemurmel: Gebete, mit brüchi-
ger Stimme vorgetragen und von der kleinen Gemeinde routiniert zuende geleiert. Und dann ver-
nehme ich zittrigen Gesang in aufsteigenden Quartsprüngen: „Avé, avé, avé Mariá“, ein offenbar französisches Wallfahrer-Lied, vermutlich aus Lourdes. Es klingt wie „ohweh, oweh“ oder „Auweh, auweh“. Bayrisches Französisch eben.
Als ehemals kirchengeschädigter und von der Pike auf gelernter Ex-Katholik erkenne ich sofort den abendlichen Ritus, der da vollzogen wird, als Rosenkranz. Aber welcher mag es sein? Es gibt derlei mehrere: Den glorreichen, den schmerzensreichen, den gnadenreichen, den liebreichen … Haupt-
sache „reich“ ist er. Zehn Gegrüßet-seist-du-Maria pro G’setzl, und dann das Ganze fünfmal hinter-
einander. Macht 50 Gebetseinheiten. Ich nähere mich, um zu lauschen. Und eh ich mich’s verseh‘, werde ich zum Zeugen dessen, was der Vorbeter, ein emeritierter Priester, mit brüchiger Stimme ins Mikrofon murmelt.
Jetzt betet er nicht mehr, sondern spricht vom tapferen Kronprinzen Rupprecht, der während der Naziherrschaft als Geisel „im Angesicht des Todes“ inhaftiert gewesen sei und fest im Vertrauen auf Maria „im KZ schmachtete“. Sodann erfolgt sein ganz persönliches Glaubensbekenntnis: Er wünscht, Bayern wäre nach dem Zweiten Weltkrieg wieder zu einem Königreich geworden, damit „diese gottlosen und kirchenfeindlichen Gesetze aus Berlin wie die Abtreibung unschuldiger Kinder nicht über das Land gekommen“ wären und die Gottesmutter Maria nicht davon beleidigt würde. Ich denke, ich höre nicht recht, und werde flugs vom Zeugen zum Berichterstatter. Ich wähle die Nummer eines anarchistischen Freundes, den ich kurz vorher noch auf dem Königsplatz getroffen hatte.
Ja, einen Königsplatz haben wir auch noch in München, nicht nur einen Marienplatz. Von letzte-
rem gäbe es sogar zwei, wenn der Pasinger Marienplatz nicht verortend umbenannt hätte werden müssen nach der Eingemeindung der vormals eigenständigen Vorstadt Pasing im Jahr 1938. Lei-
der springt nur der Anrufbeantworter des Freundes an. Der hat ein ausgeprägtes Faible für kuriose Geschichten, verwirrende Konstellationen und befremdliche Situationen, und in einer solchen wähne ich mich jetzt.
Beim Umrunden der frommen Schar von etwa 25 bis 30 Leuten bemerke ich etwas seltsames: Einen Regenschatten hinter jedem der Betenden, die sich offensichtlich seit einer Viertelstunde nicht von der Stelle bewegt haben. Der Nieselregen kommt von Westen, und hinter jeder Person bleibt daher ostwärts ein kleiner Flecken trocken, zeichnet sich hell ab von den zusehends dunkler benetzten Bodenplatten. Es erinnert entfernt an die menschlichen „Schatten“ nach den Atombom-
ben-Abwürfen 1945, welche die verkohlten Leichen als Körperumrisse auf dem Asphalt oder an Mauern hinterließen, vor denen sie standen oder saßen im Moment der urplötzlich hereinbrechen-
den, unentrinnbaren Katastrophe. Nur dass die Schatten hier erst ganz allmählich mit der fortdau-
ernden Berieselung heller sichtbar werden. Irgendwie geisterhaft, dieses Phänomen, fast wie eine vage Vorahnung auf eine Marienerscheinung. Würde eine solche jetzt unerwartet aufscheinen und hell erstrahlen, fiele allerdings dunkler Schatten hinter die Menschen. Doch diese Regenschatten hier wirken immer heller und heller, mit jedem Tropfen von hoch da droben.
Zum Glück ruft er gleich zurück. Ich halte mein Handy hoch in die Runde. Da ist die Suada des ewiggestrigen Pfaffen leider vorbei. Nun wird wieder gebetet. Ich berichte von dem eben gehörten Unerhörten. Leise muss ich bei meiner Live-Reportage sein, um keine giftigen Blicke zu ernten. Einen habe ich mir schon eingefangen. Ein Mitbeter dreht sich unwirsch zu mir um und raunt mir verärgert seine Gestörtheit zu. Gestörtheit beim Gebet, mitten in der Andacht. Ich dürfe hier keine Aufnahmen machen. Ich trete etwas zurück, er tritt nach. Was denn das solle, hier zu stören. Ich locke ihn mit meinem Interesse an der Veranstaltung weg von dieser. Wir entfernen uns ein wenig vom Gebetszirkel, der immer weiter Rosenkränze dreht. Und dann beginne ich ein Interview mit ihm. Ja, Gebete hülfen, sonders solche zu Maria, der hilfreichen Gottesmutter. Ja, diese sei wirk-
lich vom Heiligen Geist überschattet worden, „wie vom Erzengel Michael verkündet“. „Gabriel“, korrigiere ich kenntnisreich. Der Verkündigungsengel hieße doch Gabriel. Der Michael sei der mit dem Flammenschwert, der den Luzifer in den Abgrund der Hölle gestoßen haben soll laut Bibel.
Nun ist der Bann gebrochen. Mit einem Bibelfesten mag er schon reden. Das Gebet hat er völlig vergessen, wo sich doch eine Gelegenheit zum Missionieren auftut. Ausführlich erzählt er von diversen Päpsten. Einer soll sogar bei seinem Besuch in München die Dornenkrone Jesu Christi mitgebracht haben, die in die Krone der Marienstatue integriert worden sei. Ja, der Benedikt sei‘s gewesen. Man stelle sich vor, die echte knapp zweitausendjährige Dornenkrone aus Jerusalem in der Münchner Mariensäule eingearbeitet! Und ich weiß bisher gar nichts davon, ebensowenig wie das Tourismusamt, die ansässige Hotellerie und der einschlägige Devotionalienhandel. Die in Trier könnten den Heiligen Rock an den Nagel hängen, die Turiner ihr Grabtuch einpacken und Köln seinen Dreikönigsschrein verschrotten. Wenn wir in München die Original-Dornenkrone hätten, wäre das die Krönung. Nur dieser kleine Marienanbeter mit seiner nuscheligen Stimme hinter der vorschriftsmäßigen Maske weiß davon, erzählt’s mir jedoch erstaunlich freimütig.
Die Sensation ist nicht die einzige, von der er zu berichten weiß. Er war auch schon in Gorzelesz zu Marien-Wallfahrten, mehrmals sogar, das solle ich auch mal probieren. Mit dem Arbeiter-Bus komme man für 50 Euro nach Kroatien, und die Unterkunft im Kloster sei zwar einfach, doch um-
sonst, das Essen wohl karg, aber dafür kostenlos bei den Franziskanern oder Minoriten oder sonst welchen Männerorden, alles gegen Spende, sehr günstig. Die Klosterbrüder seien die Marien-Ver-
walter, die den Andrang der Gläubigen managten. Jeden Monat einmal gebe es eine Erscheinung, die „das Herz von außen nach innen“ drücke, das habe er schon mehrfach erlebt und gespürt am eigenen Leib. Ich muss mich pietätvoll zurückhalten, ihm nicht einen Besuch beim Kardiologen an-
zuempfehlen. Er ist jetzt voll in seinem Element, als wieder Gesang anhebt.
Diesmal sind es vier Frauen verschiedenen Alters, die beidseits neben dem Altpfarrer Aufstellung genommen haben, um die Staatshymne mit allen ihren Strophen zu intonieren: „Gott mit dir, du Land der Bayern“. Ich bedanke mich also bei meinem Gesprächspartner und wende mich dem er-
baulichen Gruppenbild zu mit den stellenweise zweistimmig kirrenden Sängerinnen und dem Geistlichen, der von einem riesigen schwarzen Schirm bedacht ist. Denn der Nieselregen ist inzwi-
schen in einen veritablen Landregen übergegangen, ohne dass ich’s bemerkt hätte; so erhellend war das Gespräch. Die Nässe hat die Regenschatten diskret weggewischt, doch dämpft sie nicht den Gesang, der nun im höchsten Sopran über sich hinauszuwachsen beginnt, empor zum inkonti-
nenten Wolkenhimmel und zur Statue hinan, wo die Dornenkrone liegen soll, deren Geheimnis niemand kennt. Aber ich jetzt. Hoffentlich hat‘s mein mithörender Freund nicht gleich mitge-
schnitten und irgendwohin gesendet. Das muss ein Geheimnis bleiben.
Erst jetzt fällt mir auf, dass einige der älteren Frauen ehrfürchtig am Boden knien, die langen Rök-
ke durchweicht, und ein Mann steht barfuß in der Lache. Andere haben nun doch ihre Schirme aufgespannt, denn nicht alle sind so abgebrühte Büßer wie der Mann, der direkt vor der die Mari-
ensäule umgebenden roten Marmor-Balustrade kauert oder die Frau auf der anderen Seite, die ihren Kopf dagegen gelehnt hat, als wolle sie die Umzäunung eindrücken, um ihrer Maria näher zu sein. Als der Gesang endet, spendet der gebrechliche Vorbeter noch einen Segen „im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes“ und wünscht den Versammelten einen gesegneten Monat Mai, der bekanntlich der „allerheiligsten Jungfrau Maria“ gewidmet ist mit so vielen weite-
ren Maiandachten überall, und dann suchen fast alle augenblicklich das Weite.
Nicht so der Pfaffe, der nun erstaunlich behänd auf mich und meinen Interviewpartner zukommt, immer noch die weiße Stola um die Schultern, assistiert von einem Begleiter, der sich als „Schirm-
herr“ andient, und verärgert zu mäkeln beginnt: „Sie stören das Rosenkranzgebet“. Damit meint er gar nicht mich, sondern das kleine Männchen, das immer noch wie angewurzelt stehen geblieben ist, und ganz verdattert ist. „Ja Sie, Sie haben mit Ihrem Gerede die Andacht gestört. Sie sind überhaupt nicht autorisiert, hier irgendwelche Interviews zu geben“, und dann wendet er sich mir zu: „Und wer sind Sie?“ Ich nenne kurz meinen Namen und bedeute ihm, dass ich per Live-Schal-
tung mit meinem Redakteur beim Lokalradio verbunden bin. Bevor er weiter nachfragen kann, bringe ich die Rede schnell noch einmal auf den bayrischen Kronprinzen und auf seine Sehnsucht nach einem Königreich. „Ja, ich bekenne: Ich bin kein Demokrat, ich bin Monarchist“.
Er wiederholt auch seine vorige Begründung, nämlich die schändlichen und kirchenlehrewidrigen Gesetze aus Berlin. Einen Hinweis auf die jahrzehntelange Bundeshauptstadt Bonn verkneife ich mir. Berlin klingt halt einfach mehr nach traditionell bayrischem Ressentiment gegen „die Preu-
ßen“ da oben. Ich frage auch nicht, was er vom Freistaat Bayern hält oder von Kurt Eisner, dem ersten Ministerpräsidenten. Ich frage nur, wen er sich denn als König vorstellen könne, etwa Mar-
kus Söder? Nein, den auch nicht. Dabei sieht er zum Himmel in den Regen hinauf und blinzelt schelmisch. Vermutlich denkt er eher an Franz Josef Strauß. Oder gleich direkt an Gott selbst?
Er meint, mit seinen 82 Jahren sei das eh nicht mehr so wichtig, da warte schon das Himmelreich. Na, dann viel Glück! Nicht dass da am Ende nur ein Nichts wartet! Nun packen sie auch noch die Lautsprechersäule zusammen und den inzwischen verwaisten Rollator, und ich finde endlich die Gelegenheit zu überprüfen, ob die Leitung überhaupt noch steht oder ob mein einziger Hörer nicht etwa eingeschlafen ist. Mein Arm mit dem hochgehaltenen Handy ist es beinahe. Doch unsere Be-
geisterung über diese unverhoffte Übertragung lässt uns noch eine längere Nachbesprechung an-
geraten sein. Insgesamt eine Stunde und 52 Minuten hat das gedauert, und war vergnüglicher als jeder Tatort. Wir müssen jetzt aber unsere spontanen Überlegungen zur künftigen Inszenierung einer realen Marienerscheinung doch erst noch auf Trockeneis legen, sonst fällt mir der Arm ab.
Doch irgendwann an einem Samstag Abend mitten in München könnte es tatsächlich passieren: Aus einer wabernden Dunstwolke erhebt sich unter Sphärenklängen über den Marienplatz eine Madonna, angetan mit einem weißblauen Gewand, stehend auf einer liegenden Mondsichel, die fiese Schlange der Versuchung mit nackten Füßen zertretend und mit der direkt von Golgatha aufgelesenen Dornenkrone bekränzt. Die Menge erstarrt, der Pfarrer bricht zusammen. Nur der kleine, wundergewöhnte Wallfahrer greift sich ans Herz und fühlt den wohligen Schauer. Er wird bloß eine leichte Irritation verspüren, denn seine Marienerscheinung vom westlichen Balkan trägt gewöhnlich einen weißen Umhang. Das ginge bei einer bayrischen Himmelskönigin freilich gar nicht, die müsste schon in den Landesfarben auftreten, und das könnte ihn eventuell im Glauben leicht erschüttern, so wie mich damals der Nikolaus, welcher im Kindergarten ein gänzlich anderer war als der dann abends bei mir zuhause.
Wolfgang Blaschka
Zugeschickt am 3. Mai 2021