Materialien 1976

Das Jahr der Trauer

1976 – alle Welt feiert Amerika. Die USA sind 200 Jahre alt. Im Geburtstagstaumel sind die Schattenseiten der Geschichte schnell vergessen. Doch die ersten Amerika-
ner feiern nicht mit. Für sie ist Trauer in diesem Jahr, denn erst durch die Vernich-
tung des Roten Mannes konnte Amerika zum »Land der unbegrenzten Möglichkei-
ten« gemacht werden. Claus Biegert, zwischen 1973 und 1976 dreimal zu ausführli-
chen Recherchen in den USA, schrieb folgenden Bericht über die Situation der India-
ner im Jubeljahr der USA. Fotos: Irène Stern

Im Sitzungsprotokoll der US-Regierung vom 2. Juni 1924 ist der knappe Satz nachzulesen: »Hier-
mit werden alle Indianer, die in den Vereinigten Staaten leben, per Gesetz zu amerikanischen Staatsbürgern erklärt.« Der Ureinwohner war zum Yankee befördert worden – ungefragt. Doch mit diesem Schritt US-Demokratie nach außen wurde der Indianer nicht mündig, sondern mundtot.

Denn von nun an hätte für ihn die erste Verfassung der Neuen Welt gegolten – mit allen Rechten und Freiheiten, gemäß der »Bill Of Rights« vom 15. Dezember 1791. Und darin ist folgendes zu le-
sen:

… kein Mensch soll an der Ausübung seiner Religion gehindert werden (Artikel I) … das Recht der Bürger auf Sicherheit von Personen, Häusern, Schriftstücken und Eigentum vor ungerechtfertig-
ten Durchsuchungen und Festnahmen soll nicht verletzt werden (A IV) … der Angeklagte hat das Recht auf einen baldigen und öffentlichen Prozess … muss mit den belastenden Zeugen konfron-
tiert werden … das Recht auf die Vorführung eigener Zeugen und auf Verteidigung (A VI) … überhöhte Kautionen sollen nicht aufgestellt und überhöhte Geldbußen nicht verhängt werden, noch sollen grausame und ungewöhnliche Bestrafungen angewendet werden (A VIII).


»Als ich ein Junge war, ging die Sonne auf und unter auf unserem Land« Sitting Bull, Hunkpapa Sioux, ermordet 1890

Gültig für Menschen. Nicht für Indianer. Ein Büro, jenes für indianische Angelegenheiten, sorgte dafür, dass die amerikanische Wirklichkeit für seine eingeborenen Bürger anders aussah. Das Büro (BIA) – 1824 als Abteilung des Kriegsministeriums gegründet und 1849 dem Innenministerium unterstellt – wacht bis heute über jeden Schritt individuellen und kommunalen Lebens; seine Kompetenz wurde eher erweitert denn geschmälert. So ist das BIA heute Grundstücksmakler, Ban-
kier, Lehrer, Polizist und Sozialarbeiter in einem; es leitet die Arbeitsvermittlung, Berufsbildungs-
programme, Handelskammer, Autobahnbehörde und das Wohnungsamt; es ist Elektrizitätsgesell-
schaft, Planungsbehörde, Landentwicklungsbehörde, Kunstförderer und Botschafter der Indianer. In allem bestrebt, aus den Roten gute Weiße zu machen.

Mit 16.000 Angestellten ist das Büro eine der aufwendigsten Regierungsbehörden der USA. Im Durchschnitt entfällt ein BIA-Bediensteter auf 50 Indianer. Der Griff von oben setzt für den Reser-
vatsbewohner mit dem Schuleintritt ein. Die Schulpflichtigen werden vom Elternhaus getrennt und in »off reservation boarding schools« gebracht, Internatsschulen unter bundesstaatlicher Aufsicht, die sich außerhalb der Reservate befinden. Eskimos aus Alaska wurden noch Ende der sechziger Jahre bis nach Oregon und Oklahoma in BIA-Schulen verpflanzt. Da Indianern das Leistungs-
denken fremd ist, versagen sie meist unter dem Druck der Notengebung und im Wettbewerb mit der Klasse. Oft verheerende Ergebnisse bringen Intelligenztests bei indianischen Schülern, da die Fragebögen immer nach Kriterien weißen Denkens angelegt sind. Der Lehrplan selbst zielt meist auf die Ausmerzung des kulturellen Eigenlebens. Aufsatzthema für Chippewa-Schüler: »Warum wir alle glücklich sind, dass die Pilgrims gelandet sind.« Doch der Widerstand wächst – dank der Initiative des American Indian Movement: in den letzten drei Jahren entstanden fünf Schulen, die total in indianischer Hand sind.

Auf die amerikanische Verfassung angesprochen, haben Indianer von Ost bis West einen Spruch parat: »When they say justice, they mean just us.« Rechtsprechung nach zweierlei Maß, wie die folgenden Beispiele zeigen:

Kein Mensch soll an der Ausübung seiner Religion gehindert werden. Bis 1936 war den Prärie-
stämmen verboten, den Sonnentanz, Höhepunkt ihres spirituellen Lebens, abzuhalten. Indianer-
kinder wurden – bis in die sechziger Jahre –, sobald sie im schulpflichtigen Alter waren, von ihren Eltern getrennt und in weiße Schulen außerhalb der Reservate gebracht. Zuwiderhandlungen ge-
gen das christliche Erziehungsprogramm der Missionare, einschließlich dem Sprechen der eigenen Sprache, wurden dort mit Arrest, Handschellen, Kopfrasur und Prügel bestraft. Als die Arbeit an diesem Buch abgeschlossen wurde, saß der junge Brulé-Sioux Leonard Crow Dog im Gefängnis, weil er als spiritueller Führer seines Volkes sich kompromißlos zum Kampf des American Indian Movement gegen kulturelle und politische Unterdrückung bekannt hatte.

Sicherheit … gegen ungerechtfertigte Durchsuchungen und Festnahmen. Wer sich heute als Indi-
aner gegen die Integrationspolitik des BIA wendet oder mit dem American Indian Movement sym-
pathisiert, dessen Telefon wird abgehört. Mit Hausdurchsuchungen ist täglich zu rechnen. So bei Crow Dog: Er wurde im September 1975 morgens um 3 Uhr von 120 FBI-Beamten in Panzerwagen, Hubschraubern und Schlauchbooten, bewaffnet mit Schnellfeuergewehren, aus seinem Haus ge-
holt und gefesselt. Grund: Tätlicher Angriff. Crow Dog hatte Tage zuvor nächtliche Eindringlinge von seinem Grundstück vertrieben. Von weißen Journalisten, die sich mit Indianern befassen,legt das FBI Akten an.

Überhöhte Kautionen sollen nicht festgesetzt, überhöhte Geldbußen nicht verhängt und unge-
wöhnliche Bestrafungen nicht angewendet werden.
Als Dennis Banks, Mitgründer des American Indian Movement, nach Rückkehr aus seinem politischen Exil in Kanada in die Staaten im Januar dieses Jahres in San Francisco vom FBI gefasst wurde, betrug die Höhe der geforderten Kaution 100.000 Dollar. Wer als Indianer betrunken gefunden wird, verbringt die Nacht in der Zelle – daran hat sich in den letzten fünfzig Jahren nichts geändert. Leonard Crow Dog wurden beim Verhör Haare ausgerissen. Drei Wochen seiner Haft verbrachte er ohne Pause in einer kopfhohen Zelle ohne Fenster.

Wie der amerikanische Durchschnittsbürger heute über die Indianerfrage denkt, drückt am besten die Äußerung eines populären Durchschnittsbürgers aus: »Ich denke nicht, dass wir im Unrecht waren, als wir ihnen dieses große Land weggenommen haben. Es gab eine Unmenge von Leuten, die Land brauchten, und die Indianer waren so eigennützig, zu versuchen, es für sich behalten zu wollen.« So John Wayne 1971 in einem Interview mit dem »Playboy«.

1976. Ein »Freedom Trail« fährt quer durchs Land und zeigt – neben einem Wachsmodell Präsi-
dent Fords und einer Jacke des 1968 ermordeten schwarzen Bürgerrechtsführers Martin Luther King – historische Dokumente, Antiquitäten und was immer von den letzten 200 Jahren erinne-
rungswürdig erscheint.

San Francisco will der Nation einen Geburtstagskuchen backen, der 32.000 Pfund schwer, 60 Meter breit und neun Meter hoch werden soll. Skulpturen aus Buttercremetorte werden Episoden der Stadtgeschichte darstellen, während 200 brennende Kerzen als Krönung der Spitze gedacht sind. Man hat sich ausgerechnet, dass bis zu 25.000 Personen in den Genuss eines Kuchenstücks kommen könnten. Als soziale Tat plant man, ein paar Tortenproben an Hospitäler und Altersheime abzugeben. Der Preis des Gebäcks entspricht der Kautionssumme von Dennis Banks: 100.000 Dollar.

Die Front der Widerstandskämpfer ahnte derartiges voraus: Bereits 1974 verkündete AIM-Mit-
gründer Clyde Bellevourt: »Wenn die Vereinigten Staaten von Amerika ihren Geburtstagskuchen anzünden, werden wir da sein und die Kerzen ausblasen.« Mit rund zwei Millionen Dollar versuch-
te das offizielle Bicentennial-Komitee den dunkelsten Flecken der US-Geschichte zum Jubiläum zu übertünchen. Doch sie überzeugten nur 26 Stämme – von rund 345 – »dass das Bicentennial eine großartige Gelegenheit für Indianer ist, ihre Geschichte aus eigener Sicht zu erzählen«, wie Festlei-
ter John Warner im Herbst 1975 in Oregon 1.200 Indianer zu beschwören versuchte. Als er vor-
schlug, im Rahmen der historischen Freiluftinszenierungen solle eine Horde berittener Krieger einen Planwagenzug überfallen, der nach Philadelphia fährt, wurde er sogar von den loyalen In-
dianern ausgelacht. »Einen Wagenzug, der nach Osten fährt, haben wir noch nie überfallen«, war die Antwort.

Der perverseste Beitrag zum Festprogramm wurde Anfang April aus Baltimore gemeldet: Der Vorsitzende des Stadtrats hat die Stadt zur »Ethno-City-USA« erklärt und vorgeschlagen, einen Indianerstamm aus Arizona nach Maryland zu importieren, um ihn im örtlichen Zoo auszustellen. Von Journalisten gefragt, was Indianer im Tiergarten zu suchen hätten, sagte ein Sprecher der Stadt: »Sie sollen das indianische Erbe vorführen. Sie sollen ihre Waren verkaufen, ihre Zeremo-
nien aufführen und ihrer Arbeit nachgehen, also Körbe flechten und mit Perlen sticken.«

Schließlich ist noch eine Geschichtskorrektur hinter den Kulissen anzumerken: Zu Silvester des letzten Jahres, am Vorabend der Feier sozusagen, nahm das Verteidigungsministerium noch einen Schönheitsfehler aus den zwei Jahrhunderten USA und erklärte das Massaker von Wounded Knee 1890, bei dem über 200 Männer, Frauen und Kinder, sämtliche unbewaffnet, von der 7. US-Ka-
vallerie niedergemetzelt wurden, nachträglich zu einer regulären Schlacht. Happy Birthday!


Sid Mills, ein Indianer aus dem Staat Washington – in Wounded Knee aus Solidarität


Traditioneller Tanz in den Hügeln von Wounded Knee – historischer Boden der Vernichtung, Ort des neuen Widerstands.

200 Jahre ohne Verfassung. Die Ureinwohner Amerikas kämpfen inzwischen nicht mehr um Bür-
gerrechte und Chancengleichheit – welche sie nach fast vollzogener Assimilation noch rechtzeitig als Fallen des »american way of life« entlarvten. Sie kämpfen schlicht ums Überleben in einer Zeit, in der Indianermord vielerorten noch immer ein Kavaliersdelikt ist, in einem Land, in dem Rassis-
mus und Kommunistenhetze die öffentliche Meinung bestimmen, in einem System, das ein Volk kriminalisiert, weil es um seine Identität kämpft. »Sie« – das sind immer mehr, bis jetzt gut ein Viertel der indianischen Gesamtbevölkerung. Spätestens seit Wounded Knee II sind die Konturen des Widerstands klar zu erkennen. Die symbolische Besetzung des historischen Fleckens im Früh-
jahr 1973 hat die indianischen Völker in ihrer Zielsetzung geeint: Selbstbestimmung und bedin-
gungslose Freiheit; nicht Bürger der Vereinigten Staaten zu sein, sondern Bürger der eigenen indi-
anischen Nation; nicht die Verfassung soll gelten, die seit 200 Jahren nicht eingehalten wurde, sondern die eigene, indianische. Die ersten Amerikaner geben 1976 – auch in Gedenken der Cu-
sterschlacht 1876 – einen eigenen Namen: das Jahr der Trauer.

RELIGION UND POLITIKDIE HEILIGE PFEIFE UND MILITANTE AKTION: FÜR AIM EINE EINHEIT IM KAMPF GEGEN UNTERDRÜCKUNG.


Eastside. Ein Magazin 1 vom Herbst 1976, München, 18 ff.

Überraschung

Jahr: 1976
Bereich: Internationales