Materialien 1978
Brecht-Debatte in München
Die Münchner Ortsvereinigung „Kultur und Volk“ hatte aus Anlass des 80. Geburts-
tages Bert Brechts für den 26. Februar eine Podiumsdiskussion vorbereitet, auf der über die aktuelle Brechtrezeption in beiden deutschen Staaten debattiert wurde. Vor über 200 interessierten Besuchern diskutierten: Rolf Parchwitz (Theater in der Krei-
de, München), Wolf Siegert (Schauspiel Frankfurt, Dramaturg der jüngsten Insze-
nierung der „Tage der Commune“), Klaus Völker (Dramaturg in Basel und Brecht-Biograph) und Gerhard Zwerenz (Schriftsteller, Offenbach). Magnus Reitschuster, Mitglied unserer Münchner Ortsvereinigung und Diskussionsleiter, schickte uns den folgenden ersten Bericht (Ein ausführliches Tonbandprotokoll der Diskussion wird als Broschüre herausgegeben werden):
Die Mehrheit der 250 Besucher ging nachdenklich nach Hause. Im zweiten Teil der Diskussion waren Fragen aufgerissen worden, die an den politischsen Nerv gingen und schroff im Raum stehen blieben. Gerhard Zwerenz hatte sie formuliert:
„Brecht bietet nie primäre Wahrheiten, er bietet stets vermittelte Wahrheiten … Das gefällt dir, weil du ein vorprogrammiertes theoretisches Bewusstsein hast … Und jetzt findest du das ganz prima vorformuliert, und, deswegen fährst du auf der Formulierung ab.
So kannst du, wenn du anpolitisiert, wenn du anintellektualisiert, wenn du antheatralisiert bist, auf Brecht immer wieder abfahren. Du findest immer wieder großartig formulierte Weisheiten; nur: Du findest nie eine Primäranalyse der Situation draußen. Du findest sie nicht nur nicht von jetzt – das kann gar nicht sein, weil er tot ist –, du findest sie auch nicht zu seinen Lebzeiten. Er hat zu seinen Lebzeiten seine Realität, seine Umwelt ignoriert. Und das muss man sowohl als Stärke als auch als Schwäche sehen. Denn in dieser Ignoranz ist mit drin: Unmenschlichkeit gegenüber Tausenden, Hundertausenden oder auch Millionen, die im Archipel Gulag gesessen haben. Das heißt, hier stoßen wir auf eine Ungeheuerlichkeit in diesem Marxismus und in einem der größten marxistischen Posten, in Brecht selbst. Hier ist ein Ende des Humanismus bei Brecht.“
Als Essenz der Differenzen, nachdem man sich über die Pervertierung und Entschärfung Brechts in beiden Teilen Deutschlands (zu?) problemlos einig geworden war, blieben zwei Punkte, die in die-
sem Beitrag von G. Zwerenz deutlich, aber etwas kurzschlüssig aufeinander bezogen werden:
Da ist zum einen der Realismusstreit der dreißiger, vierziger und fünfziger Jahre. Haben die „ver-
mittelten Weisheiten“ Brechts, seine des zufälligen und des historischen Milieus entkleideten künstlerischen Verallgemeinerungen einen höheren oder niedrigeren Realitätsgehalt als Konzepti-
onen, die näher bei der unmittelbaren Wirklichkeit und somit näher beim Naturalismus hleiben? Ist – die Genialität Brechts einmal beiseite – seine dialektische Methode eine „Sackgasse“ (so Er-
penbeck in der Brechtdiskussion der frühen DDR)? Ist sie gar, so Zwerenz, ein schönes „Gefängnis“ voller Weisheiten, in das man zwar mal hinein, aus dem man aber wieder heraus muss will man die Massen erreichen und nicht zu einer inhumanen Negierung der Wirklichkeit kommen? Oder ist so die andere Position – die Brecht’sche Methode nicht nur eine Waffe gegen den Kapitalismus, son-
dern auch gegen die Entartung des Sozialismus? Eine Waffe, die Ende der zwanziger Jahre wirk-
sam wurde, dann ein wenig rostend in der Ecke stand und schließlich im hoffnungs- und wider-
spruchsvollen Prozeß der frühen DDR bedingt zum Einsatz kam, aber nicht zum Sieg führte. Die heute von den „Erben“ verbogen und abgestumpft wird – verwendbar gemacht gegen das Volk und oder, um den herrschenden Klassen in Ost und West wohlig den Gaumen zu kitzeln. Auch in der Münchner Diskussion erklang der alte Schlachtruf: hie episch, dort dramatisch, auch hier immer verbunden mit: hie Fortschritt, dort Reaktion, oder andersherum: hie das reiche Leben, dort die dünne Abstraktion. Diese in der Tat unterschiedlichen Realismuskonzeptionen müssen zwar aus-
diskutiert werden, jedoch läuft hier keine politische Scheidelinie: „Jeder, der nicht in formalen Vorurteilen befangen ist, weiß, dass die Wahrheit auf viele Arten verschwiegen werden kann und auf viele Arten gesagt werden muss.“
So Brecht himself.
Damit zur entscheidenden inhaltlichen Frage: War es richtig von Brecht – auch nach „Archipel Gulag“ und den Moskauer Prozessen , in die DDR (bzw. damals SBZ) zugehen, auf den Sozialismus zu setzen und dort für eine Entwicklung sich einzusetzen, wie er es getan hat? Klaus Völker bejahte dies. Oder hätte Brecht, um Humanist zu bleiben, Marx, statt ihn dialektisch zu betrachten, über Bord werfen müssen? Und Hegel und natürlich Lenin dazu, wie es die von Zwerenz angeführten neuen französischen Philosophen um Glucksmann fordern?
Und damit waren die Diskutanten auf dem Podium und im Saal mitten in einer zentralen Frage des politischen Kampfes heute: Dass eine breite demokratische Einheitsfront vonnöten ist, war als all-
gemein sich stellendes und drängendes Problem bewusst. Dass die Kräfte, die die Unterdrückung im anderen Teil Deutschlands unterstützen, nicht zu den demokratischen Kräften gezählt werden können, war ebenfalls breiter Konsens. Wie steht es aber mit jenen, die das „Farbewechseln“ der SU erst nach 1956 ansetzen, mit den Kommunisten also, die sich theoretisch auf Mao Tse-tung und in der Praxis auf China berufen?
Das Verhältnis von Demokratie und Sozialismus und die damit verbundenen Grundfragen einer Aktionseinheit, nicht nur verstanden als taktisches Mittel, muss in der von G. Zwerenz aufgeworfe-
nen Schärfe weiterdiskutiert werden. (Auch unsere kommunistischen Freunde von der „Roten Fahne“ sollten sich dem mit offenerem Visier stellen, als sie es in ihrem Bericht über die Brecht-
diskussion getan haben; siehe Rote Fahne Nr. 9, 1978 v. 1.3.78)
Denn der 80. Geburtstag Brechts ist keine Gedenkfeier, sondern ein Anlass zum dialektischen Denken und politischen Handeln. Brecht hat dies gemeint, als er mit dem Gedicht „Die Teppich-
weber von Kujan Bulak ehren Lenin“ schrieb:
„So nützten sie sich, indem sie Lenin ehrten und ehrten ihn, indem sie sich nützten und hatten ihn also verstanden.“ Aber das muss sich erst noch zeigen.
Magnus Reitschuster
Spuren. Zeitschrift für Kunst und Gesellschaft 1/1978, Köln, 51.