Flusslandschaft 2021
Militanz
Zwischen Oktober und Dezember des letzten Jahres wurden in München neun Anlagen der Tele-
kom zerstört. Im Februar diesen Jahres beschädigen Brandsätze mehrere Verteilerkästen eines Funksendemasten in Unterhaching; an zwei S-Bahn-Haltestellen werden im April einige Kabel der Deutschen Bahn beschädigt. Freitagmorgen, 21. Mai: Ein Kabelbrand in einer Baugrube vor einem Umspannwerk der Stadtwerke in der Grafinger Straße bedeutet für 20.000 Haushalte den Black-
out in Ramersdorf, Berg am Laim und Haidhausen. Für einige Mitmenschen wirds eng, so für die, die, um ihre Sauerstoffgeräte betreiben zu können, Strom benötigen. Kühltruhen in Lebensmittel-
geschäften und Apotheken fallen aus. Später heißt es in einer Kommandoerklärung, man habe dem Rüstungszulieferer Rohde & Schwarz „für 24 Stunden den Saft abdrehen können“. Zudem sei die Tat eine Antwort auf den Stadtratsbeschluss, Forst Kasten im Münchner Südwesten abzuholzen. Nicht zuletzt betreibe die Stadt immer noch ein Kohlekraftwerk und sei am Atommeiler Isar 2 beteiligt. – In einem Zirkel im Münchner Westen wird heftig gestritten: „Um etwas zu erreichen, muss auch zu härteren Bandagen gegriffen werden. Wenn Gewerkschaften streiken, gibt es immer auch Leidtragende, die mit dem Konflikt nichts zu tun haben. Klar, dass man sich damit auch Sym-
pathien verscherzt.“ „Aber Leute in Gefahr zu bringen, geht nicht.“ „Wenn wir eine unangemeldete Straßenblockade durchziehen, blockieren wir den Verkehr. Das heißt aber nicht, dass wir nicht Krankenwagen und Feuerwehr durchlassen. Das ist doch selbstverständlich.“ „Was ich schwierig finde: Die Kommandoerklärung kam erst hinterher, der Firmenname war falsch geschrieben, die Argumentation war seltsam. Es sieht so aus, als ob wer den Kabelbrand, der zufällig ausbrach, nur instrumentalisiert. Das ist verheerend. Als ob wir es nötig haben, Heldentaten zu erfinden.“ „Dem schließe ich mich an. Wenn wir anfangen zu lügen, können wir einpacken. Das heißt nicht, dass ich militante Aktionen ablehne. Ganz im Gegenteil.“ „Aber Leute, das ist nicht der Punkt. Lasst uns doch diejenigen verwirren, deren Job es ist, hier Ruhe und Ordnung durchzusetzen. Nebelwerfer sind hilfreich.“ Auf dem Heimweg vom Meeting geht die Auseinandersetzung zwischen zwei Älte-
ren weiter: „Das ist furchtbar, diese Naivität, als ob wir damit die Zustände ändern könnten! Damit wird alles nur noch schlimmer! Jeder Brandanschlag schafft Hundert neue AFD-Mitglieder.“ „Nein! Denk daran, was wir vor fünfzig Jahren gemacht haben. Erstens haben wir etwas GETAN, zweitens wurden wir damals mantramäßig gewarnt, das würde nur der NPD helfen – immer das gleiche bescheuerte Argument – und drittens hat jede Jugend auch ein Recht auf Irrtum.“ „Ja, aber nur zeitlich begrenzt!“1
1 Auf das Nennen der Namen der Diskussionsteilnehmer wurde bewusst verzichtet.