Materialien 1971
Olympia-Glosse
Nach all den ehrgeizigen Bemühungen der Münchner Olympiade-Gewaltigen, ihren Sportsommer nicht nur zur Muskelparade, sondern auch zu einer gigantischen Kulturschau auswachsen zu las-
sen, bietet ihnen der Künstler, der ihrer „Aufgeschlossenheit“ ein Denkmal setzen sollte, ein Loch an: eine Erdröhre, die den Münchner Schuttberg neben dem Olympia-Gelände senkrecht hätte durchschneiden und mit der Mutter Erde verbinden sollen. Das unsichtbare Werk Walter de Mari-
as mit dem Titel „Erd-Skulptur“ erregte, kaum hatte man es am 16. August 1971 vorgestellt, die Ge-
müter, die eingedenk vertrauten Geschütztarnwerks gerade noch das teure Olympiadach zu bezah-
len bereit waren. Als „Denk-Loch“ verschrien Boulevardblätter die progressivste Tat innerhalb des olympischen Kunst-Kalenders, und als Zumutung verwarfen die zuständigen Stellen das Bohrvor-
haben, von dem schließlich nur noch eine Bronzeplatte hätte künden können.
Dabei ist klar, dass nicht gebohrt werden darf, wo die Parole „Aufbau“ heißt . . . Und an Olympia-
den heißt die Parole immer „Aufbau“. Oder wie kann man denn heilige Flammen lodern lassen, Fahnen aufziehen, Fanfaren und Chöre erklingen lassen, ohne an „Aufbau“, vor allem nationalen, zu denken. Oder wie kann man Sportler in nationalen Farben auftreten lassen und die besten von ihnen im Stile des Sacra-Conversazione-Schemas auf gestuften Podesten feiern, ohne hehre Ideale, ohne aufbauende Gesinnung, ohne Glaube an die zentral komponierten Bilder eines ewigen Huma-
nismus?
De Marias Verdienst und Verbrechen zugleich ist es, mit einem Bohrloch – wenn es auch nur Pro-
jekt geblieben ist –, im Schutt einer Zeit gewühlt zu haben, die die olympische Euphorie und ihre Ästhetik erst geprägt hat (die olympische Flamme zum Beispiel geht auf Goebbels zurück). Der Berg, den de Maria durchstechen wollte, ist aus den Trümmern des letzten Krieges entstanden. Jetzt setzt das olympische Zeltdach die ondulierende Bewegung seiner Silhouette fort. Man hat also eine formalistische Lösung gefunden für das Unaussprechliche, für die Zynik, die der Tatsache in-
newohnt, dass man die Replik des Olympiade-Typus, der im Dritten Reich entwickelt wurde, am Fuße der Trümmer, die das Dritte Reich hinterlassen hatte, abhält. Was der Architekt des Berliner Olympia-Stadions, Werner March, 1936 sagen konnte, dass ihm der „Einklang von Bauwerk und Landschaft“ am Herzen lag, bleibt auch für München 1972 gültig. Das wäre auch noch zu verste-
hen. Weil man den Schuttberg jedoch nur mehr als Aussichtspunkt und Bereicherung des flachen Geländes betrachtet, obwohl er zur Reflexion über die Vergangenheit anregen könnte; weil man weder die vermutlichen Gerippe, die dieser Berg enthält, noch die Lebenden, die den Berg besu-
chen, stören will, könnte auch leicht ein anderes Motto Werner Marchs auf die Olympiade zutref-
fen: „Aus deutschem Geiste wurde eine Anlage geschaffen, die in ganz ähnlicher Weise wie das alte Olympia Geistiges, Erzieherisches, Kämpferisches und Vaterländisches miteinander verbindet.“
Werner Jehle
Kunst-Nachrichten 8 vom April 1972, Luzern, unpag.