Materialien 1970

Schwierigkeiten mit Happenings

von Jürgen Morschel

Seit ungefähr einem Jahr besteht nun in München der „Aktionsraum 1“ (siehe auch „Kunst-Nach-
richten,“ 6. Jahrg. Heft 4, Dez. 69), eine private Einrichtung abseits vom kommerziellen Kunstbe-
trieb, die Künstlern die Möglichkeit zur Durchführung von Aktionen, Happenings usw. bietet. Aus den regelmässigen, hektografierten lnformationen über die Veranstaltungen im „Aktionsraum 1“ bringen wir im folgenden zwei Zitate, die besonders pointiert verbreitete Verhaltensweisen, Denk-
gewohnheiten, illustrieren. Das erste Zitat ist ein Auszug aus einem Bescheid des Münchner Amtes für öffentliche Ordnung, mit dem der Einspruch des Aktionsraums gegen das Verbot einer von der Behörde als sittenwidrig und grober Unfug eingestuften Aktion des Österreichers Nitsch (bekannt geworden durch sein „Abreaktionstheater“ der Grausamkeit) abgelehnt wird. Der Einspruch hatte sich auf die einer Theateraufführung zuzubilligenden sogenannten höheren Interessen der Kunst berufen, die eine Aufhebung des Verbotes erfordert hätten.

Das zweite Zitat ist eine Aufzeichnung über BLACK OUT, eine Aktion von Eckart Moshammer, die nicht zustande kam, aber dieses bemerkenswerte Gespräch zwischen Moshammer und Vertretern der Kohlenindustrie – den Herren Giesel und Nikola von der Firma Raab Karcher, Maybohm, Oberrheinische Kohleunion, Schulte, Ruhrkohlen-Beratung Essen – als sehr gelungenes Ergebnis erbrachte.

1. Belehrung durch das Amt für öffentliche Ordnung über Theater, Happening, Mitspiel des Publi-
kums – oder: Wo die Kunst ein Ende hat.

Der in der Ausnahmevorschrift des § 7 Nr. 1 VergnAusnV verwendete Begriff „Theateraufführung ist nach allgemeinen Auslegungsregeln eng auszulegen. Sogenannte „Happenings“, bei welchen nach der Absicht des Veranstalters das Publikum nicht auf die Rolle des Zuschauers beschränkt bleibt, sondern in erheblichem Umfang selbst am Spielgeschehen mitwirken soll, fallen nicht mehr unter den Begriff der „Aufführung“. Unter „Aufführung“ versteht man ein Agieren „vor“, nicht „mit“ dem Publikum. Von dieser Vorstellung geht jedenfalls der Verordnungsgeber aus, der auch in anderen Ausnahmetatbeständen die Befreiung von der Erlaubnispflicht davon abhängig macht, dass sich das Publikum – abgesehen von Beifallskundgebungen – im wesentlichen einer aktiven Mitwirkung am Spielgeschehen enthält. (vgl. § 1 Nr. 3, 5 und 7 VergnAusnV, die jeweils voraussetzen, dass bei den betreffenden Veranstaltungen nicht getanzt wird). Liegt aber schon eine Theateraufführung vor, so bedarf es keiner weiteren Überlegung mehr darüber, ob ein hö-
heres Interesse der Kunst gegeben ist. Die vom Antragsteller zu dieser Frage vorgelegten gut-
achtlichen Äußerungen sind daher für die Entscheidung ohne Bedeutung.



Aktion Blackout

2. Dokumentation über BLACK OUT.

Hier die chronologische Aufzeichnung über BLACK OUT, eine Aktion, die als solche nicht stattge-
funden hat, welche als Dokumentation aber als gelungen zu bezeichnen ist und welche ohne freundliche Mitwirkung der umseitig genannten Vertretern der Kohlenindustrie nicht möglich gewesen wäre.

Moshammer (Aktionist):
Für die Aktion progressiver Kunst ist geplant, einige Halden Eierbriketts ME 3 – von der Koh-
lenindustrie leihweise zur Verfügung gestellt – zu verwenden.

Vertreter der Kohle:
Fungiert die Kohle nur als nebensächliches Requisit? In diesem Fall hätten wir kein Interesse.

M.:
Sie ist Hauptakteur. Sogar ich selbst lasse mich von ihr verschütten, um ihr den gebührenden Platz einzuräumen.

V.d.K.:
Gut.

M.:
Erfahrungsgemäß zeigen die Massenmedien an gemeinsamen Unternehmungen von Industrie und Kunst grosses Interesse. Dies dürfte u.a. zu einem verbesserten Image der Kohle beitragen.

V.d.K.:
Von einer positiven Berichterstattung seitens der Presse sind wir keineswegs überzeugt. Was haben Sie denn vor?

M.:
Eierbriketts werden auf einem Fließband in den Aktionsraum befördert. Der dabei anwachsende Kegel führt zur immensen Veränderung des Raumes.

V.d.K.:
Aha.

M.:
Ein elegant gekleideter Herr in weißem Smoking und Lackschuhen gleitet auf demselben Förder-
band auf die Kohlen und wird unter den nachfolgenden Massen begraben.

V.d.K.:
Das ist aber gefährlich!

M.:
Wieso haben sie Lengede vergessen?

V.d.K.:
Was ist der Sinn?

M.:
Elegante Herren in weißem Smoking werden gewöhnlich mit Eisrevuen, Operettenbühne und Zirkusauftritten assoziiert – die Assoziation zu Kohle ist eine andere: Schwarz, düster, unheim-
lich – oder gar: Angst.

V.d.K.:
Da haben wir’s. Das können wir uns nicht leisten. Das Image der Kohle ist ohnehin schon schlecht genug. In manchen Presseveröffentlichungen wird sie bereits als Schmutz oder Dreck bezeichnet. Wir können uns eine weitere Diffamierung nicht erlauben. Eine ironische Berichterstattung in den Zeitungen würde uns schaden; bei der Presse weiß man nie genau, wie derartiges kommen-
tiert wird. Wir haben unsere Erfahrungen. Außerdem ist die Kohlenbewegung mit außerordentli-
cher Staubentwicklung verbunden. Aktionist und Zuschauer werden schwarz – der ganze Raum wird sich verdüstern und schwarz werden.

M.:
Ganz ausgezeichnet! Wir werden Eintritt nehmen.

V.d.K.:
Wir müssten uns vertraglich absichern, dass Regressansprüche seitens schwarz gewordener Zuschauer an uns nicht gestellt werden. Die Verantwortung läge in jeder Hinsicht bei Ihnen. Es gibt allerdings auch Antistaubkohle – die ist präpariert.

M.:
Das Ganze wird mit ultraviolettem Licht angestrahlt – der Effekt ist umwerfend. Sie sehen, es sind alle Komponenten vorhanden, die auch zu einem abstrakten Bild gehören; hinzu kommen noch Dynamik und Akustik – selbst olfaktorische und taktile Empfindungen werden aktiviert. Das Werk ist für den Augenblick konzipiert und damit einmalig. Da der ästhetische Ablauf öf-
fentlich stattfindet, ist Kontrolle gewährleistet. Der Konsument wird schwarz – er ist beteiligt. – Diese Art Kunst bleibt vor musealer Mumifizierung verschont.

V.d.K.:
Von moderner Kunst verstehe ich nichts; mir liegt was anderes. Nach unserem Dafürhalten ist Kohle in erster Linie zum Heizen da.

M.:
Aber bedenken Sie, welche PR das für Sie wäre.

V.d.K.:
Was ist PR?

M.:
Public Relations – bedeutet Werbung.

V.d.K.:
Ja, Natürlich! – Also wir sehen die Bedeutung der Kohle in erster Linie zum Heizen. Im übrigen, auch wenn wir uns an dem Happening beteiligen, verkaufen wir deshalb kein Gramm Kohle mehr.

M.:
Werbung zielt nicht auf unmittelbare Absatzförderung.

V.d.K.:
Es geht nicht. Am Ende schreibt die Presse: wegen mangelnden Absatzes versucht die Kohle jetzt ihre Schwierigkeiten mit Hilfe neuer Kunst und Aktionisten zu meistern.

M.:
Das wäre nicht schlecht!

V.d.K.:
Nein, es bleibt dabei. Bedauerlicherweise müssen wir eine Unterstützung unsererseits ablehnen. Das Risiko ist zu groß. Stellen Sie sich vor, der Kumpel im Ruhrgebiet liest in der Bild-Zeitung, dass mit seiner Kohle, an der er praktisch Mitinhaber ist, in München ein Happening veranstaltet wird – stellen Sie sich vor, wie sich das auf seine Moral auswirken würde!

M.:
Wie meinen Sie das, dass er Mitinhaber ist?

V.d.K.:
Ich meine: er, der Kumpel, der die Kohle fördert, der sie ‘rausholt aus der Grube, der sich abrak-
kert unter Einsatz seines Lebens – das ist doch seine Kohle, verstehen Sie?

M.:
Ja, ich verstehe. – Stellen Sie uns die Kohlen leihweise anonym zur Verfügung. Keine Firmen-
nennung, keine Werbung – kein Risiko für Sie. Wirken Sie als Mäzen! Die Kosten sind gering.

V.d.K.:
Herr Moshammer, Geld spielt keine Rolle. Aber wie schon gesagt – es tut uns leid.

M.:
Sie haben recht. Wenn ich die Kohlen gekauft hätte, könnte ich damit machen, was ich wollte, aber dieses sehr aufschlussreiche Gespräch hätte nie stattgefunden. Ich danke Ihnen. Hiermit betrachte ich die Aktion BLACK OUT, die eine Dokumentation über fruchtbare Zusammenarbeit zwischen Kunst und Kohle darstellt, als erfolgreich abgeschlossen.

V.d.K.:
Was haben Sie jetzt vor?

M.:
Ich habe von der französischen Kohlenindustrie die Zusicherung über Lieferung von zwei Wag-
gon Eierbriketts.

Eckart Moshammer, München


E.M: Konzept Bewohner. – In dem neungeschossigen Häuserblock Sipplingerstraße 5 in München bitte ich alle Anwohner der W-Seite, von ihnen ein Kopffoto machen zu dürfen. Die Fotos vergrö-
ßere ich auf Fenstergröße (90 × 100 cm). An einem bestimmten Tag werden die Bewohner aufge-
fordert, ihre Fotos ins Fenster zu geben.


E.M.: Aktionsraum 1 — Ich werde eine Aktion ausführen, die 15 bis 20 Tage dauert. Ich werde ein Holzbrett in die Zeit zurückbringen, in der es ein Baum war, und zwar in eine Zeit des Baumes, die ich an Ort und Stelle festsetze. Jeden Tag werde ich 2 bis 4 Stunden daran arbeiten auf einem Raum von ungefähr 12 × 4 m. An dem Tag, an dem der Baum wieder jung geworden ist, werde ich abreisen.


Kunst-Nachrichten 2 vom Oktober 1970, Luzern, unpag.

Überraschung

Jahr: 1970
Bereich: Kunst/Kultur