Materialien 1974

Wer auf der Strecke bleibt …

am montag, den 20. mai, wurde um 3 uhr morgens hier in münchen in der adalbertstraße 10 günter jendrian, bei freunden und bekannten calvados genannt, von beamten der mobilen ein-
satztruppe der polizei mit einem maschinengewehr niedergemacht.

DIE ERSCHIESSUNG

um 2 uhr früh kommt jendrian von seinem taxidienst nach hause und geht sofort schlafen.

um 3 uhr rücken 60 terrorspezialisten der polizei an, umstellen das haus, bringen maschinenge-
wehre in anschlag. ein trupp dringt in das haus, stürmt in den ersten stock, randaliert an der ein-
gangstür der wohnung von jendrian und seiner mitbewohner marion, wolfgang ghiman und ri-
chard lampertsberger. wolfgang ghiman geht in unterhosen bekleidet, geweckt durch den lärm der terrorspezialisten zur tür, macht licht und öffnet die tür einen spalt. im gleichen augenblick schießt ein polizist in kopfhöhe durch das holz der tür. ghiman hat glück, dass er nur 1,60 m groß ist. die polizeikugel, die später von der staatsanwaltschaft als warnschuß bezeichnet wird, verfehlt ihn um 5 cm in der höhe, ghiman flüchtet schreiend den langen flur seiner wohnung entlang. zwei weitere schüsse aus polizeigewehren, später ebenfalls als warnschüsse verstanden, schlagen durch die tür in die flurwand. kriegerisch vermummte gestalten stürzen in die wohnung: schaftstiefel, bluejeans, schwarze kugelhemden, stahlhelme, visiere mit 1 cm breitem sehschlitz, maschinengewehr im an-
schlag. ghiman vermutet hinter der maskierung alles andere als die polizei.

günter jendrian öffnet, durch lärm und schüsse geweckt, schlaftrunken die tür seines zimmers.

ein polizist des terror-sonderkommandos hechtet zur wohnungstür, löst während des sprungs eine salve aus seinem maschinengewehr, abgezielt auf günter jendrian. dreikugeln treffen jendrian, ein schuss schlägt ins herz.

calvados bricht zusammen.

calvados ist tot.

die polizei hat günter jendrian erschossen.

VORGESCHICHTE ZUR AKTION DES TERROR-SPEZIALKOMMANDOS

gejagt wird der genosse roland otto. er wurde wegen eines bankraubs zu vier jahren, vier monaten jugendstrafe verurteilt. zwei drittel seiner strafe hatte er bereits abgesessen. nach seinem dritten „urlaub auf ehrenwort“ kehrte er nicht mehr ins gefängnis zurück. soweit das einzige, was gegen diesen – so die staatsanwaltschaft – „gefährlichen anarchisten“ vorliegt. hätte die polizei ihn ge-
fasst, hätte er lediglich den rest seiner strafe absitzen müssen, ein weiteres verfahren oder ein ge-
richtsverfahren wegen seiner nicht erfolgten rückkehr lag nicht vor.

AKTIONEN DER POLIZEI, DEN „GEFÄHRLICHEN ANARCHISTEN ROLAND OTTO ZU FAS-SEN“

11 hausdurchsuchungen innerhalb drei wochen, jedesmal in voller montur, jedesmal bis an die zähne bewaffnet, jedesmal schussbereit wie bei günter jendrian. jedesmal wurde von gefundenen waffenlagern berichtet, beweise dafür wurden bisher nicht vorgelegt.

die verlobte roland ottos, gertraud will, wird in untersuchungshaft genommen, als gefährliche anarchistin streng isoliert. vorgelegte beweise wegen irgendeines vergehens: keine.

in der nacht zum 22. april findet die polizei schließlich bei dem bruder der gertraud will einen brief, aus dem hervorgeht, dass jendrian zufällig einmal in die wohnung kam, in der sich der von der polizei gesuchte roland otto aufgehalten haben soll.

DAS REICHT DER POLIZEI

als eindeutiger beweis für die „anarchistische und konspirative gefährlichkeit’“ jendrians, das ist der anlass für einsetzenden fahndung nach dem völlig ahnungslosen taxifahrer, biertrinker, jazz-
fan, der ausgezeichnet trompete gespielt hat, mädchen sehr liebte und von politik nichts wissen wollte. er ging, so sein freund günter opitz, demonstrationen aus dem weg, trat aus der spd aus, weil sie ihm zu links war.

irrwitz: er befürwortete sogar jene terroreinheit der polizei, die ihn auf dem gewissen hat.

POLIZEI UND STAATSANWALTSCHAFT VERSUCHEN DAS GESCHEHEN UM DEN TOD VON CALVADOS ZU VERSCHLEIERN UND ZU RECHTFERTIGEN

günter jendrian soll mit seinem kleinkaliber 2 schüsse abgegeben haben, bevor er niedergemäht wurde …

wie konnte er mit seinem kleinkalibergewehr, selbst wenn er es bei sich hatte, innerhalb der sekun-
de, die er noch zu leben hatte, zwei schüsse auf die mit maschinenpistolen bewaffneten polizeibe-
amten abgegeben haben. obwohl sein gewehr bei jedem schuß neu durchgeladen werden muss.

die polizei fand „beweise“: zwei einschußlöcher in der wand am ende des langen flurs. wie sich rausstellt, an einer stelle, die zu treffen günter jendrian von seiner position aus unmöglich war. stellt sich weiter raus, die einschußlöcher entstanden am 1. mai, als jendrian mit seinen freunden ivica straga, rainer und johann zielschießen auf ein von der decke hängendes stromkabel veranstal-
tete.

weiter fand man günter jendrians gewehr voll geladen: 1 schuss im lauf, 5 schüsse im 5-schuss-magazin. kein schuss fehlte, konnte auch keiner abgegeben worden sein.

statt wie üblich die einschusstellen samt umliegender mauer zu bergen, um so das alter der ein-
schusslöcher feststellen zu können, geht die polizei mit hammer und meissel vor, die geschosse aus den löchern zu klopfen. dabei entstehen, später von der polizei zugegeben, „fehlmeißelungen“, lö-
cher in der wand, die als schuß verkauft werden sollen: der zeuge ghiman wird aufgefordert, mit dem finger in eins der einschusslöcher zu langen, um so zu bestätigen, dass es nur von jendrian stammen könne, er sagt jedoch auf anhieb, dass dies nicht sein könne. Darauf ein kriminaler, er habe sich vertan, das wäre eine „fehlmeißelung“, man könne leider nichts mehr feststellen.

NACH 12-STÜNDIGEM VERHÖR

durch die staatsanwaltschaft erzählt ghiman, der die gesamte aktion als augenzeuge miterlebt hat und bereits geschildert hat, den pressevertretern plötzlich eine andere version der vorgänge um die erschießung günter jendrians. befragt, wie er dazu käme, erklärt er, der staatsanwalt habe ihm die „tatsächlichen vorgänge klargemacht“, er habe nicht richtig gesehen. weiter befragt, erklärt er, der staatsanwalt habe ihm angst gemacht.

am 24. mai gibt die staatsanwaltschaft zu: günter jendrian hat nicht geschossen. sie findet trotz-
dem eine rechtfertigung für den todesschuß: in der presseerklärung heißt es: an der notwehrsitua-
tion für die polizeibeamten braucht sich dadurch nichts ändern. ein angriff i.s. § 53 stgb ist auch dann gegenwärtig, wenn er unmittelbar bevorsteht. nach den bisherigen ermittlungen (der staats-
anwaltschaft) kam jendrian mit der waffe im hüftanschlag aus seiner zimmertür …

auf die frage nach dem todesschützen meint chefkriminaler müller: „wir wissen nicht, wer von den kameraden geschossen hat – und wir wollen es auch gar nicht wissen.“

kriminalinspektor hausmann, bekannt als „anarchisten“-jäger: „wir werden roland otto schon krie-
gen. das wird nicht ohne schusswechsel abgehen … und wer auf der strecke bleibt, ist klar.“

DER EWIGE JUDE

plötzlich ist er wieder da, allüberall, verhohlen, verstohlen, unerkannt und chaotisch konspiriert er in den finstersten winkeln und spalten unseres volkes, zersetzt es, säht zwietracht über das land.

Er hat sich einen neuen namen zugelegt – und dennoch ist er von der uns alle schützenden obrig-
keit, dies gut mit uns meint, erkannt: der anarchist.

benno ohnesorg: ein anarchist
georg von rauch: ein anarchist
petra schelm: eine anarchistin
mac loyd: ein anarchist
thomas weißbecker: ein anarchist
erich dophard: ein anarchist
günter jendrian: ein anarchist
ich: ein anarchist
du: ein anarchist
die polizei: dein freund und helfer

… mörder, lügner, angstneurotiker, zu fachistischen trupps zusammengefasst von einem durch angstmache und waffengewalt aufrechterhaltenen klüngel machtgieriger, deren korruption und unersättlichkeit nach herrschaft über geknechtete von zeit zu zeit in heruntergespielten skandalen dem verschreckten bürger die eigene ohnmacht nur noch plausibler macht …

… zerstörungswütige wahnsinnige, von obrigkeiten mit wohlwollen und finanz bedacht, wenn sie in ihren übungscamps dem befohlenen feindbild ausnahmslos auf kopf und herz zu knallen lernen …

so spricht der anarchist – und dafür muss er sterben.

man erschießt ihn einfach: während der demonstration, beim einkaufen, wenn man ihn an die wand stellt, wenn er ein moped klaut, wenn er davonläuft, wenn er allein zu hause ist, wenn er, vom taxifahren müde, sich schlafen legt.

wie stellt die obrigkeit einen anarchisten fest?

die regeln sind einfach:

sie beobachtet jemanden, sie kann jemanden nicht beobachten, sie erfährt eine politische meinung, sie findet eine pistole, sie erhält einen wink aus dem volk, sie liest einen namen in einem brief. das reicht.

die polizei hat den namen calvados in einem brief gelesen. sie hat hinter dem namen einen anar-
chisten vermutet, sie hat calvados daraufhin nachts mit maschinengewehren umstellt, sie hat ihn aus dem schlaf gerissen und auf verdacht erschossen.

die polizei hat gelogen.

sie hat durch die presse verbreiten lassen, er wäre ein anarchist, er hätte auf sie geschossen, sie verbreitet heute noch, der todesschütze hätte in notwehr gehandelt.

lüge. ein lügner hat calvados erschossen. calvados ist tot, die verwandten von calvados möchten aus seiner erschießung durch die polizei kein politikum machen. rechtsanwalt bossi, der kläger neben jürgen arnold, sagt, die erschießung von calvados sei privatsache, die linken schlachten den fall nur aus.

die polizei erschoß jedoch den unpolitischen calvados aus politischen gründen. sie suchte in ihm einen menschen, der eine der bundesdeutschen obrigkeit mißliebige politische meinung hat, der andere vorstellungen von gesellschaft hat, als es dem bundesbürger erlaubt ist.

die polizei erschoß jemanden, den sie als anarchisten bezeichnet. ein anarchist ist ein mensch mit einer bestimmten politischen ansicht, die polizei hat selbst die erschießung politisch gerechtfertigt. die polizei hat calvados erschossen. jeder von uns kann an calvados stelle stehen.

wehr dich! Und bedenke, wer dein freund und helfer ist!

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JENDRIAN KOMITEE – zur vollen Aufdeckung der Umstände und Hintergründe der Erschießung Günter Jendrians

Aus den bisherigen Ermittlungsergebnissen wird deutlich, dass die Staatsanwaltschaft ein beson-
deres Interesse daran hat, die volle Aufdeckung der Umstände und Hintergründe der Erschießung Günter Jendrians zu verhindern.

Wir sammeln Unterschriften, allein in den ersten drei Tagen haben wir schon ca. 500 Unterschrif-
ten gesammelt.

Unterschriften und die Mitarbeit von Prominenten werden die Staatsanwaltschaft so unter öffentli-
chen Druck setzen, dass es ihr immer schwerer wird, die Verantwortung auf den Todesschützen ab-
zuwälzen oder gar die Erschießung zu vertuschen.

Eine genaue Dokumentation über die Umstände und Hintergründe bei der Erschiessung Günter Jendrians wird das Komitee der Öffentlichkeit vorlegen. Dazu sind zahlreiche Gegenermittlungen bereits eingeleitet. Um weitere derartige vollstreckte Todesurteile und die Bedrohung der Allge-
meinheit durch derartige Spezialeinheiten (Mobile Einsatzkommandos) zu verhindern, muss der tatsächliche Charakter dieser Einheiten vom Komitee aufgedeckt werden.

Wir fordern alle Münchner auf, die ebenso empört sind über das Vorgehen der Polizei und der Er-
mittlungsbehörden, sich an der Aufdeckung dieser Erschießung zu beteiligen. Arbeitet mit im Ko-
mitee. Treffpunkt: Jeden Dienstag, 20.00 Uhr, in der Kaulbachklause, Kaulbachstr. 48.


Blatt. Stadtzeitung für München 24 vom 31. Mai 1974, 4 f.

Überraschung

Jahr: 1974
Bereich: Militanz