Materialien 1974

„... das ist Faschismus“

nachdem nun günter jendrian vom polizeilichen terrorspezikommando getötet und unter die erde gebracht wurde, richtet sich jetzt der ganze wust von „anarchisten“-hetze und -verfolgung gegen den mit jovialer geste aus dem gefängnis in die freiheit entlassenen genossen roland otto: roland otto, der „anarchist“, der neue staatsfeind nr. 1, dessen verbrechen, nicht treu in die haft zurück-zukehren, so gewaltig ist, dass es für gewöhnlich nicht einmal gerichtlich geahndet wird.

alles, was die arme, verwirrte polizei an versehentlichen erschießungen, nächtlichen überfällen in wohnungen auf der jagd nach dem mit unbekanntem verbrechen behafteten roland otto anstellt, ist selbstverständlich – psychologie machts möglich – im tiefsten menschengrunde zu verstehen. – ich verstehs nicht, viele andere menschen auch nicht, roland otto entwickelt ebenfalls kein ver-
ständnis für derartige legalität. roland otto ist nach aussagen seiner bekannten ein besonnener, intelligenter kommunist, der mit seinen eltern das beste verhältnis hat. Nur ein bei staatsan-
waltschaft und polizei unverzeihlicher fehler: er bekämpft ehrlich und konsequent lüge, korrup-
tion, mord und massenmord, unterdrückung und ausbeutung. das ist zuviel, das ist gefährlich. für wen??

der hier vollständig abgedruckte brief roland ottos an staastanwalt und presse, enthält einige ausdrücke, von denen wir uns aus rechtlichen gründen distanzieren.

ERKLÄRUNG VON ROLAND OTTO ZU DER ERMORDUNG GÜNTER JENDRIANS IN MÜN-
CHEN AM 21.5.74

der „oberstaatsanwalt“ herbert FENDT „zählt zur tatortsituation auch psychologische faktoren“ („der spiegel“, nr.22/1974). in der tat gibt es diese „psychologischen faktoren“ – nur hat der pro-
fessionelle lügenbold fendt die wahren psychologischen faktoren verschwiegen. denn nicht gefun-
dene waffen und munition noch die „alte burg“ (fendt), in der günter jendrian wohnte, keine „krei-
se extremistischer art“, kein zu erwartendes feuergefecht waren es, was zum mord des killerkom-
mandos führte. vielmehr sind die „psychologischen faktoren“ – und das weiß auch der professio-
nelle lügenbold fendt – in folgenden tatsachen begründet: im mai 1973 stellte ich bei der ebracher anstaltsleitung einen antrag auf urlaub. diesem antrag wurde entsprochen. TATSACHE ist, dass diese gewährung von urlaub nichts anderes als eine PROVOKATION war und von folgenden be-
hördlichen stellen + personen betrieben wurde:

der politischen abteilung der staatsanwaltschaft beim lg münchen I, insbesondere den „ersten staatsanwälten“ dieter emmerich, lutz trancelle, wolfgang wahl, der politischen abteilung bei der „kriminalpolizei“ münchen; die „sonderkommission für baader-meinhof“ des „bayerischen landes-
kriminalamtes“ unter leitung eines gewissen achim hausmann, dem bayer. staatsministerium der justiz, insbesondere dem ministerialdirigent mayer, dem leiter der jva ebrach, regierungsdirektor ruderisch und regierungsrat gentner sowie der leitung der jva landsberg, insbesondere oberregie-
rungsrat lindinger. diese genannten behörden und personen hatten die erwartungshaltung und die dreckige Spekulation, ich würde während meines urlaubs entweder kontakt zu genossen aufneh-
men, die von der justiz auf die fahndungs- oder abschussliste gesetzt worden sind und die den be-
waffneten kampf in der praxis durchführen oder aber selbst untertauchen.

allein deswegen wurde mir 3 x urlaub gewährt. Tatsache ist, dass man, um urlaub zu bekommen, gewisse voraussetzungen erfüllen muss, die in der urlaubsordnung des bayer. justizministeriums festgehalten sind. der gefangene muss beispielsweise „erkennen lassen“, dass er gewillt ist, an „sei-
ner resozialisierunq mitzuwirken“, das war bei mir nie erkennbar. folgende ereignisse beweisen das; sie beweisen weiterhin, dass mir 3 x urlaub nur aus den oben erwähnten gründen gewährt wurde:

1.) als ich mich im juni 72 am bundesweiten hungerstreik von gefangenen wegen des ausschlusses des ra’s schily von der verteidigung der genossin gudrun ensslin beteiligte, ließ ich sicherlich kei-
nen willen erkennen, an meiner resozialisierung mitzuwirken. trotzdem wurde mir urlaub gewährt.

2.) als ich im dezember 72 wegen der massenbombardierung nordvietnams durch die us-imperia-
listischen schweinetausendschaften und gleichzeitiger herstellung von kinderkriegsspielzeug durch jugendliche gefangene in der jva ebrach in den hungerstreik trat, ließ ich sicherlich keinen willen erkennen, an meiner resozialisierung mitzuwirken. trotzdem wurde mir urlaub gewährt.

3.) als ich im märz 73 bei der ebracher anstaltsleitung beantragte, in einem innenbetrieb der jva arbeiten zu können, wurde dies von der anstaltsleitung wegen „gefahr der agitation“ abgelehnt, obwohl ich mich damals seit nahezu 2 jahren in einzelhaft befand und davon 8 monate einer iso-
lierfolter ausgesetzt war. trotzdem wurde mir 3 monate später von derselben anstaltsleitung urlaub gewährt.

4.) als ich, ein „bankräuber“, während meines ersten urlaubs im mai/juni 73 mit rudolf putnik ein längeres telephonat führte, wurde dies von den bullen mitgeschnitten. putnik wurde kurze zeit später wegen teilnahme an einer bankenteignung verhaftet, das mitgeschnittene telephonat wurde ihm von den bullen vorgespielt. trotzdem wurde mir im september/oktober 73 und im januar 74 wiederum urlaub gewährt.

5.) obwohl ich in allen meinen briefen die notwendigkeit des bewaffneten kampfes gegen die herrschaft der internationalen kapitalistenkonsorten artikuliert hatte, wurde mir urlaub gewährt.

6.) als im juni 73 eine angebliche „arbeitsverweigerung“ von mir von der anstaltsleitung mit 7 tagen bunker quittiert wurde, konnte die anstaltsleitung daraus sicherlich nicht den schluß ziehen, dass ich gewillt wäre, an „meiner resozialisierung mitzuwirken“, trotzdem wurde mir urlaub gewährt.

7.) im september/oktober 73 wurden innerhalb von vier wochen 9 briefe und 1 karte von meiner verlobten gertraud will nicht ausgehändigt, weil sie die „sicherheit und ordnung der anstalt und die ziele des strafvollzugs gefährdeten“. das konnte die landsberger anstaltsleitung allerdings nicht da-
ran hindern, mir im november 73 urlaub zu gewähren, wobei ihnen klar war, dass ich die durch-
schläge von den angehaltenen briefen während des urlaubs lesen konnte und überhaupt meine ver-
lobte treffen würde, die verlobte, die mit ihren briefen die ziele des strafvollzugs und die sicherheit und ordnung der anstalt gefährdte.

8.) als ich während des urlaubs im oktober/november 73 die von den oben genannten behördli-
chen stellen und personen gestellten auflagen missachtete, indem ich beispielsweise nicht immer in wertheim bei meinen eltern blieb – es war eine auflage dies zu tun –, sondern zwei tage in mün-
chen war, wurde dies von den eingesetzten ohservierungseinheiten des bayer. landesamtes für ver-
fassungschutz und des lka’s sowie durch abgehörte telephonate zur kenntnis genommen. trotzdem wurde mir im januar 74 zum dritten mal urlaub gewährt.

diese unter 1 – 8 aufgeführten tatsachen zeigen das ganze ungeheuerliche ausmass des verbrechens und das dreckige vorgehen der oben genannten stellen und behörden und personen. diese behörd-
lichen stellen und personen – allein sie – haben die verantwortung dafür zutragen, was auch im-
mer in zukunft geschieht. die behördlichen stellen und personen, die ich oben nannte, haben ferner und unzweideutig die verantwortung für den mord an günter jendrian zu tragen, und zwar aus zwei gründen:

a.) sie haben mir dreimal urlaub gewährt, obwohl ich in keinster weise die voraussetzungen, wie sie in der urlaubsordnung des bayerischen staatsministeriums der justiz genannt sind, erfüllt habe. sie gaben mir dreimal urlaub, weil ich mittel zum zweck für ihre verbrecherischen machenschaften sein sollte. ihre verbrecherischen machenschaften waren die, dass sie durch mich auf genossen, die sie auf ihre fahndungs- und abschussliste gesetzt hatten, stoßen wollten. sie tragen die verantwor-
tung dafür, weil sie wollten, dass ich untertauche, um mittels eines wahnwitzigen observierungs-
aufwandes und einsatz modernster technischer geräte meine spur in die illegalität zu verfolgen. sie tragen die verantwortung, weil sie mir die gelegenheit zum untertauchen gaben.

b.) die bezeichneten behördlichen stellen und personen tragen die verantwortung für den mord an günter jendrian, weil sie nach meiner flucht im januar 1974 drei wochen lang wussten, wo ich mich aufgehalten habe, und mich trotzdem nicht verhaftet haben. selbst als es mir gelungen war, tat-
sächlich unterzutauchen, d.h. dass sie nicht mehr wussten, wo ich war, sie mich aber nach zwei wochen durch einen zufall wiedergefunden hatten, veranlassten die späteren mörder von günter jendrian nicht meine verhaftung, sondern „observierten“ mich weiterhin vier tage, um dann end-
gültig meine spur zu verlieren und heute zu jammern, sie wüssten nicht, wo ich sei. hätten die für die ermordung günter jendrians verantwortlichen und oben bezeichneten behördlichen stellen und personen damals meine verhaftung veranlasst – wozu sie übrigens verpflichtet waren – würde günter jendrian heute noch leben. den beweis, dass man damals wusste, wo ich mich auf hielt, werde ich jederzeit antreten können.

es ist also nochmals festzuhalten: oben aufgeführte behördliche stellen und personen wussten ins-
gesamt vier wochen von meinem aufenthalt, ohne dass sie mich verhaften und obwohl ein haftbe-
fehl des amtsgerichts bestand. die unter 1 – 8 und a. und b. Festgestellten tatsachen sind in wahr-
heit die „psychologischen faktoren“, die eingangs erwähnt wurden. sie sind der grund für den sturmangriff auf günter jendrians wohnung, den faschistischen terror, die hinrichtung günter jen-
drians, den versuchten mord an wolfgang ghiman, für die 11 hausdurchsuchungen in münchen und anderswo. das ist faschismus. unter diesen umständen müssen sie einer interessierten öffentlich-
keit die hintergründe der ermordung von günter jendrian und die hintergründe meines dreimali-
gen urlaubs zu verschweigen versuchen. angesichts der jetzt bekannten hintergründe ist es klar, warum der professionelle lügenbold fendt als sprachrohr der bekannten verantwortlichen für die ermordung jendrians erst dann zugegeben hat, dass jendrian nicht geschossen hat, als es nicht mehr zu vertuschen war, als sich die öffentlichkeit nicht mehr betrügen ließ.

es ist bezeichnend, dass in jener mordnacht des 21. mai 1974 ein gewisser und oben genannter achim hausmann eines der kommandos führte, hausmann, der eine woche vor der ermordung von günter jendrian vor zeugen verlauten ließ: „den otto erwischen wir in zwei oder drei monaten so-
wieso, und wenn dann geschossen wird, ist wohl klar, wer auf der strecke bleibt!“

der stein, den sie aufgehoben haben, wird weiterhin auf ihre eigenen füße fallen! der kampf geht weiter!

Roland Otto


Blatt. Stadtzeitung für München 25 vom 14. Juni 1974, 7.

Überraschung

Jahr: 1974
Bereich: Militanz