Materialien 1974
Die Entwicklung des Gammler- und Stadtstreicherunwesens
Die Entwicklung des Gammler- und Stadtstreicherunwesens nimmt – legt man die Zahlen der überprüften Personen zugrunde – eine leicht rückläufige Tendenz ein. Während im Jahr 1971 noch insgesamt 13.010 Gammler und Stadtstreicher überprüft wurden, waren es bis Oktober 1972 nur 9.505.
Die rückläufige Entwicklung ist gewiss auch auf das seit mehreren Jahren nachhaltige Tätigwerden der Polizei zurückzuführen. Es dürfte sich in diesen Kreisen herumgesprochen haben, dass in München Ansammlungen von Gammlern und Stadtstreichern nicht unentdeckt bleiben und die Polizei bisher trotz aller rechtlichen Schwierigkeiten – ihre Zusammenballung verhindert hat.
Die Öffentlichkeit hat sich offensichtlich mit dem Auftreten dieses Personenkreises abgefunden. Beschwerden blieben deshalb auf Einzelfälle beschränkt.
Als Brennpunkte zeigen sich nach wie vor:
a) SCHWABING
Das Künstlerviertel blieb beliebter Gammlertreffpunkt. Allein die Sommermonate machten gezielte Schwerpunkteinsätze notwendig.
b) ENGLISCHER GARTEN
Der Englische Garten genießt zur Sommerzeit eine gewisse Beliebtheit unter den Trampern.
Während der Olympischen Spiele waren hier bis zu 60 Personen anzutreffen. Allerdings handelte es sich dabei nicht ausschließlich um Gammler der bekannten Art, sondern mitunter zum großen Teil um reisende Jugendliche, die kein Quartier fanden oder es nicht bezahlen konnten.
Die Schutzpolizei führte mit den unterstellten Kräften der Bayerischen Bereitschaftspolizei und des Bundesgrenzschutzes laufend Räumungseinsätze durch, so dass der Personenkreis ständig verun-
sichert war und sich nicht festsetzen konnte.
c) HAUPTBAHNHOF
Der Hauptbahnhof mit seinen Nebenanlagen – seit jeher ein beliebtes Ziel der Nichtseßhaften – hat durch die neuen S-Bahn-Bauten erheblich an Attraktivität gewonnen. Während er nach wie fort Treffpunkt für Kriminelle und Marktplatz für Ausländer, meist Gastarbeiter ist, bevorzugen Gammler und Stadtstreicher den angegliederten S-Bahnhof.
Obwohl täglich mit gezielten Streifen und Einsätzen gegen die Obdachlosen vorgegangen wird, konnte eine befriedigende Lösung nicht erreicht werden. Ein Dauererfolg wird hier schwer er-
zielbar sein.
d) U- UND S-BAHNHÖFE
Eine bevorzugte Stellung unter diesen Örtlichkeiten nimmt das Marienplatz-Untergeschoß ein. Dort wurden zeitweise einhundert und mehr Nichtseßhafte aller Schattierungen und Altersgrup-
pen festgestellt. Sie setzen sich – bei reichlichem Konsum von Alkohol – in den Winkeln und Nischen fest und verunreinigen das Bauwerk in ekelerregender Weise.
e) FUSSGÄNGERZONE
Während der heißen Nächte des heurigen Sommers versuchten Gammler und Stadtstreicher, sich in der Fußgängerzone häuslich einzurichten. Der sofortige tägliche Einsatz von verhältnismäßig starken Kräften, jeweils in den frühen Morgenstunden, hat ihnen ein Seßhaftwerden verleidet.
Folgende rechtliche Unzulänglichkeiten stehen der endgültigen Bereinigung insbesondere entge-
gen:
1. Die meisten Verstöße – vom Hausfriedensbruch einmal abgesehen – sind Verwaltungsunrecht, also Ordnungswidrigkeiten. Daher hat die Polizei nicht nur bei der Verfolgung, sondern auch auf dem präventivpolizeilichen Sektor nur beschränkte Eingriffsrechte. So geschieht es beispielsweise immer wieder: Gammler, die aus dem Englischen Garten zum zuständigen Polizeirevier verbracht wurden, strömen noch vor Beendigung der Polizeiaktion auf ihre angestammten Plätze zurück.
Die rechtliche zulässige Platzverweisung erfüllt also ihren Zweck nicht; der Sicherheitsgewahrsam ist aus Verhältnismäßigkeitsgründen in aller Regel unzulässig.
2. Den Nichtsesshaften wird wegen eines Verstoßes gegen Verordnungen oder Satzungen (Engli-
scher Garten, Landschaftsschutzverordnung) ein Verwarnungsgeld angetragen und eine Verwar-
nung mit Zahlungsaufforderung ausgehändigt. Die wenigen Unwissenden zahlen das Verwar-
nungsgeld ein, die übrigen lassen es bei der Entgegennahme der Zahlungsaufforderung bewenden. Ein Bußgeldbescheid ist in den meisten Fällen unzustellbar. Nur etwa 10 % der Bußgeldbescheide sind einbringbar.
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STRASSENMUSIKER
mit leierkasten + quetsche spielten sie in hinterhöfen, auf dem rummelplatz oder in den straßen. ein kleiner affe sorgte dafür, dass sich genügend kinder um den wagen scharten, + das geld kam dann in papier verpackt, aus den fenstern geflogen.
heute ist der leierkasten tot. die jungen haben das feld erobert, mit guitarre + gesang, sitar, flöte + bongos.
sie spielen, wenn sie geld brauchen. Nicht aus not oder mangel an arbeitsplätzen: sie wollen aus-
steigen, sich nicht einpassen lassen, wenigstens so frei sein, das nicht mitzumachen, was man ihnen so gerne schmackhaft machen möchte: sichere ausbeutung + kostenlose krankheit.
joe, 19, an der münchner freiheit, war früher automechaniker. jetzt lebt er von strassenmusik. im sommer keine schwierigkeiten, + im winter? geht er in die fussgängerzone.
die zigarette in den guitarrenhals geklemmt spielt er die alten dylan- + donovan-sachen: „gängige stücke, die eben ziehen.“ zum zupfen ist es zu laut.
bernhard (27, flöte) in der u-bahn am sendlinger torplatz, braucht gute akustik. er spielt barock-
musik nach noten. seit einem jahr ist er unterwegs, mit schlafsack und bar. aber seitdem die zahl der gammler zurückgeht und die allgemeinheit sich an sie gewöhnt hat, weiß die polizei, dass sie letztenendes harmlos sind, werden sie ziemlich in ruhe gelassen. protest kann das system ohne mühe verkraften.
bernard wird wieder nach frankreich gehen + dort mit einem guitarristen zusammenspielen. joe will eine gruppe aufmachen. über die leute, die vorbeigehen: bernard sieht nicht hin + weiß nicht, warum sie geld geben.
„leute geben geld + gehen weg. leute geben nicht viel geld + bleiben da.“ es sind nicht viele die schimpfen. aber: „stehenbleiben traun sich die wenigsten.“
wenig gepäck. wohnt überall. für geld allein kann er nicht gut spielen. er muss lust dazu haben. wenn er einen musiker sieht mit einem instrument, spricht er ihn an, + vielleicht spielen sie zu-
sammen.
in frankreich hat er orgel gespielt. aber mit einer orgel kann man nicht reisen, + bernard will nicht an einem platz bleiben. Er war in der schweiz, hat im wald gelebt + bäume gefällt. er schreibt mär-
chen, will manchmal saufen:
„viele leute, die sagen: ja die jungen, mit haschisch + alles, sind ganz verrückt. Aber sie selber saufen viel, + saufen ist noch viel schlechter als haschisch.“
ärger mit der polizei?
joe + bernard haben keine angst. „direkt ärger mit der polizei habe ich nicht. wenn welche kom-
men, muss ich halt abziehen. sie kontrollieren den ausweis + sagen: ‚du musst gehen.‘ wenn ich spiele, spiele ich – keine paranoia.“
bernard war schon einmal für einen tag in der ettstraße. er weiß: „polizei ist polizei, überall + polizei ist eigentlich schlecht. aber in der ettstraße waren sie sehr nett.“
klar: joe, bernard + die paar anderen können ihnen nicht gefährlich werden. auf die gammler haben sie früher noch jagd gemacht. ihr protest sah ihnen zu gefährlich aus, zu unkontroltierbar.
Blatt. Stadtzeitung für München 26 vom 28. Juni 1974, 5 f.