Materialien 1974

Politische Prozesse

Sie häufen sich, die politischen Prozesse. Die Antikriegstagstänze sind gerade in erster Instanz gelaufen, die Gasteig- und Riesenfeldsachen laufen an. Es muss ja nicht gleich bewaffneter Raubüberfall oder ein Sprengstoffanschlag in Tateinheit mit Beteiligung oder Unterstützung einer kriminellen Vereinigung nach § 119 STGB sein. Ob Beleidigung oder Verleumdung des Staatsapparates, Widerstand gegen die Staatsgewalt, Landfriedensbruch …: die Justiz ahndet wie es ihr zukommt – – mit unverhältnismäßig hohen Urteilen. BLATT berichtet über drei po-
litische Prozesse der jüngsten Zeit und über das Verhalten einer Münchner Richterin gegen einen ihr politisch missliebigen Anwalt.

Staatsanwälte und Richter tönen unisono: es gibt keine politischen Prozesse oder politischen Ur-
teile, das sind Kriminelle und deswegen werden sie angeklagt und verurteilt.

Aber es gibt:

– eine politische Abteilung der Staatsanwaltschaft, in der die Herren Emrich, Fendt, Lancelle, Schneider, Wahl u.a. äußerst aktiv sind,

– eine politische Abteilung der Kripo München und die Sonderkommission für Baader-Meinhof des Bayr. Landeskriminalamtes mit den Herren Hausmann, Roesch u.a.

– die Herren Richter Meier, Gehring, Fuchs u.a., den Herren Ministerialdirigent Mayer,

– Präzisionsschützen, Spezialeinsatzkommandos (SEK), mobile Einsatzkommandos (MEK), undsoweiterundsoweiterundsoweiter

Und alle haben sich schon bewährt, aber alle wahren den Schein. Nicht aus politischen Gründen stehen wir vor ihren Gerichten, sitzen jahrelang in Isolierhaft und bekommen diese hohen Strafen. Wir sind halt Kriminelle. Wenn aber die abgewetzten Kronzeugen und das dürftige Beweismaterial das „in dubio pro reo“ – im Zweifelsfall für den Angeklagten – in erdrückende Nähe rückt, dann müssen sie doch noch die Gesinnung aus der Kiste holen.

Also, ein Prozess jagt den anderen und die Genossen Zuschauer kommen kaum noch nach. Sie werden nicht umhin können, bald arbeitsteilig voranzugehen. Vor allen Dingen dann nicht, wenn durchkommt, was die Bayrische Staatsregierung beschlossen hat: im Bundesrat einen Gesetzent-
wurf „zum Schutz des Gemeinschaftsfriedens“ einzubringen, welcher unter anderem vorsieht, dass zur Bekämpfung von Gewalt bereits im Vorfeld ein Strafbestand „gegen Propagierung von Gewalt und gegen Anleitungen zu Gewalthandlungen“ zu schaffen sei.

8.30 UHR LANDGERICHT

Prozess gegen Werner L. wegen öffentlicher Billigung von Verbrechen. L’s Name stand unter einem Flugblatt, das die Zusammenhänge des Massakers von FFB aufzeigte und die Befreiung der Palästi-
nenser aus den bayr. Gefängnissen einen Akt der Solidarisierung nannte. Zunächst wurde L. wegen dieses Vergehes zwei Wochen in U-Haft genommen, dann musste er in erster Instanz freigespro-
chen werden. Der Staatsanwalt ging in Berufung. Die Gründe dafür gab er auf einer knappen DIN A 4 Seite an. Das ausgesprochene Recht des Angeklagten auf Aussageverweigerung (§ 52 STPO) verwandte er gegen den Angeklagten.

Dem konnte selbst der Richter nicht mehr folgen. Es sei nur möglich ein Vergehen nach § 11 Abs. 3 Bayr. Pressegesetz – eine fahrlässige Dauerstraftat zu verhandeln, weil L’s Name mehrmals unter einem Flugblatt gestanden habe.

Da hackten sie dann drauf rum. Die Erklärung L’s, warum das Flugblatt und die Hintergründe schien nie dagewesen. Die Verhandlung wurde vertagt.

Bei der Vereidigung eines Zeugen, des Kripo-Beamten Schneider, war es dann aus mit der Arbeits-
teilung: die vier Zuhörer hoben die Faust, „zum Rotfrontgruß“, wie der Richter in seiner Urteilsbe-
gründung angab, und schon wanderten sie für einen Tag in den Knast.

MAIKE GEGEN BMW

Der Prozess gegen Maike R (Aktion gegen den Lkw-Lärm bei BMW in der Riesenfeldstraße) be-
gann mit einem Hammer: Maike R‘s Anwalt hatte das Mandat niedergelegt, weil seine Mandantin nicht zahlungsfähig war. Den Antrag auf Pflichtverteidigung wies man 4 Tage vor Prozessbeginn,(Donnerstag) ab, weil „keine Schwere der Tat“ vorläge (im ersten Riesenfeldprozess hat der Staatsanwalt 10 Monate beantragt). R’s Beschwerde gegen diesen Beschluss konnte natürlich vor Prozessbeginn nicht bearbeitet werden. Der Prozess fing an, ohne dass Maike R. einen Verteidiger hatte.

Der Richter macht in lustig. „Sie meinen son Zeiserlwagen?“ fragt er den Zeugen Polizeibeamten Klaus Becker (2. Zeuge: Polizeibeamter Gerhard Althammer). In diesem Zeiserlwagen soll Maike R „Sie Sau“ zu ihm gesagt haben, weil er sie an die Brust gefasst haben soll. – Beleidigungsklage

Außerdem wird sie noch angeklagt des Landfriedensbruchs, der Körperverletzung und des Wider-
stands gegen die Staatsgewalt. Die Polizeibeamten hatten vom Einsatzleiter den Befehl, das Tor bei BMW „in nördlicher Richtung“ zu räumen. Das sah dann so aus, dass sie einen Genossen auf der anderen Straßenseite festgenommen haben und Maike R. 10 bis 12 Meter von der Toreinfahrt ent-
fernt in einer Gruppe, die gerade diskutierte. Der Polizeibeamte Becker hat bei der Festnahme einen „gezielten Tritt“ bekommen. – Körperverletzung und Widerstand

Den Landfriedensbruch mussten sie fallen lassen, die Beleidigung auch. Urteil 450.– Geldstrafe.

ERSTER GASTEIG-PROZESS

Im ersten Einzelprozess gegen die 150 Leute, die am 15. Februar das leerstehende Gasteig-Spital besetzt haben, ist jetzt der 20jährige Hans H. zu 6 Tagen Jugendarrest und Zahlung der Prozess-
kosten verknackt worden.

Hans H. schilderte vor Gericht, dass er am Tag der Besetzung im Ansbacher Schlössl zufällig von einem Fest im Gasteig erfahren habe. Als er hingekommen sei, habe er die Eingänge offen und drinnen viele Leute vorgefunden. Wie berichtet, kam damals die Polizei mit einem großen Aufge-
bot an und riegelte den ganzen Komplex ab, so dass niemand mehr das Gebäude verlassen konnte. Wie alle andern bekam Hans H. vom Hausherrn, dem OB Kronawitter, eine Anzeige wegen er-
schwerten Hausfriedensbruchs.

Hans war einer der beiden Festgenommenen, die nicht nur – wie die andern 148 – über Nacht in der Ettstraße, sondern regelrecht in U-Haft festgehalten wurden. Begründung: kein fester Wohn-
sitz. Zwei Wochen lang saß Hans in Stadelheim. Diese 14 Tage wurden ihm jetzt von der Richterin Lenz-Frischeisen großzügtgerweise auf seine 6-Tage-Strafe angerechnet.

Die Richterin Lenz-Frischeisen meinte in ihrer Urteilsbegründung, dass man in ein Haus, das in einem so erkennbar guten Zustand sei, nicht einfach hineingehen könne, auch wenn die Tür offen sei. Man müsse da annehmen, dass der Besitzer, die Stadt nämlich, nicht damit einverstanden sei.

Mittlerweile hat die Stadt das Haus abreißen lassen – wegen „BaufäIligkeit“. Inzwischen steht fest, dass dort vor 1978 nichts Neues gebaut wird. Das heißt, der Bürgerverein Haidhausen, der sich mit konstruktiven Vorschlägen für das Gasteig eingesetzt hat, hätte das weitläufige Gebäude vier Jahre lang im Sinn der Haidhauser Bevölkerung nutzen können.

Zum Erfahrungsaustausch und zur Klärung der juristischen Fragen finden jeden Donnerstag um 19 Uhr in der Kellerstraße 19 (Laden) regelmäßig Besprechungen statt. Jeder, der von seinem Ober-
bürgermeister in dieser Sache verklagt wurde, kann sich dort Rat holen.

Haidhauser Ladenkollektiv

##########################################################################

VERTEIDIGER IM ABSEITS

Rechtsanwalt Lang nannte in seiner Funktion als Verteidiger (in einem Verfahren zum „Antikriegs-
tag“ – während der Olympischen Spiele – den Vertreter der Staatsanwaltschaft einen „Rechtsver-
dreher“. Das trug ihm einen „Scharlatan“ des Staatsanwaltes und einen Strafbefehl wegen Beleidi-
gung ein. Lang legte Einspruch ein, seine Klage gegen den Staatvertreter wurde abgewiesen.

8 Münchner Rechtsanwälte nahmen daraufhin (am 27. Juni 74) die Verteidigung Langs auf, da „er in diesem Zusammenhang nicht als Einzelperson, sondern als engagierter Vertreter eines Rechts-
pflegeorgans“ zu sehen sei.

Bald nach Prozessbeginn bekam die sonst als Scharfmacherin gefürchtete Vorsitzende Vollmer einen Befangenheitsantrag der Verteidigung auf den Tisch.

Sie hatte einen Antrag auf einen (dringend nötigen) größeren Raum abgelehnt, obwohl nicht ein-
mal für jeden der Verteidiger ein Arbeitstisch zur Verfügung stand und aus anderen Städten ange-
reiste Interessenten aus der Verhandlung ausgesperrt werden mussten.

Frau Vollmer musste sich auch den Vorwurf gefallen lassen, im vorausgegangenen Ermittlungsver-
fahren nur Beleidiger und Beleidigten gehört zu haben – weder Zeugen noch Aktenmaterial wurde herangezogen.

Die Verhandlung wurde schließlich zum 1. Juli, 14 Uhr, neu angesetzt.

Zu diesem Termin warteten der Angeklagte, Anwälte und Zuschauer eineinviertel Stunden vergeb-
lich auf das Erscheinen des „Hohen Gerichts“.

Mit einer schriftlichen Erklärung über ihren erreichbaren Aufenthaltsort zogen sich Verteidigung und Angeklagter zurück.

Als Frau Vollmer – die offensichtlich wohl nicht befangen ist – erschien, stellte sie schlicht fest: der Einspruch gegen den Strafbefehl an Lang ist abgelehnt. Begründung: Abwesenheit der Verteidi-
gung.

In Bonn wird ein Gesetzentwurf diskutiert, der in bestimmten Fällen den Ausschuss der Anwälte (Verteidiger) vorsieht.

Der Gesetzentwurf sieht vor, dass Rechtsanwälte, die in einem Teilnahmeverdacht stehen, von der weiteren Verteidigung ausgeschlossen werden können. Das kann ein schöner Gummiparagraph in politischen Prozessen werden: Aus der Wahrnehmung der Interessen des Mandanten wird sich leicht ein Teilnahmeverdacht konstruieren lassen, wenn ein Verteidiger politisch auf der Linie sei-
nes Mandanten und nicht auf der des Richters liegt. Das Verhalten der Richterin Vollmer gegen-
über RA Lang zeigt an, wie heute schon ein politisch missliebiger Anwalt ins Abseits gedrängt wer-
den kann.

Für die nächste Zeit:

24.7., Amtsgericht, Pacellistr., Zi. 118, 8.15 Uhr „Gasteig-Prozess“
1.8., Amtsgericht, Pacellistr., Zi. 112, 8.30 Uhr „Riesenfeldstraße“


Blatt. Stadtzeitung für München 27 vom 12. Juli 1974, 5 f.

Überraschung

Jahr: 1974
Bereich: Prozesse