Materialien 1974
Die Laienbauern von München
oder:
das äußerst merkwürdige Rollenspiel von mehr als 30 – wie man so sagt – Münchner Volkstheatern in einem recht notwendigen Disput (am 1. Oktober im Fraunhofer, Fraunhoferstr. 9)
38 sogenannte Volkstheater bieten in den 2 Monaten vom 28.9. (Attenham) bis 22.11. (Kolping-
haus Au) rund 400 Auftritte an. In Stadt und Landkreis München leben rund 3 Millionen nicht mit der Landwirtschaft befasste Inwohner. Nimmt man die Suburbs im S-Bahn-Bereich dazu, in denen viele Pendler wohnen, gilt das Angebot der Münchner Volkstheater für rund 8 Millionen Volksge-
nossen.
Das Zitat
„Unser bisher meistgespieltes Stück ist WENN DER TONI MIT DER VRONI mit 13 Aufführun-
gen.“ Fritz Niedermeier jun., „Weiß-blaue Bühne München“, gegründet 1952. (Die Weiß-blaue Bühne spielt ab 12. Oktober jeden Samstag um 20 Uhr im „Gasthof zum Schützengarten“, Lerche-
nauer Str. 168. Der Saal fasst 100 Besucher.)
Die Behauptung
Ich wage die Wette, dass die absolute Mehrheit dieser (weil ich die Suburbians dazurechnen will) 8 Millionen „Münchner“ nie einen Heissn vor den Pflug gespannt hat. Aber die Volkstheater spielen nichts wie Bauernschwänke. Gegen die rührigen Münchner Laienbauern sind Millowitsch-Bühne und Ohnsorg-Theater geradezu fortschrittlich. Die spielen nämlich schon im bürgerlichen Milieu, während die Münchner ausschließlich ländliches Schwanktum einstudieren.
Gewiss wird durch die Umsätze der Großagrarier Baron Finck, Baron Feury, Fürst Waldburg-Zeil und Fürst Thurn und Taxis wesentlich bewirkt, dass noch immer Bayerns Sozialprodukt überwie-
gend in der Landwirtschaft produziert wird – aber was geht es Arbeiter, Angestellte und Beamte an. Weder die Junker noch die Nebenerwerbs-Landwirte, deren Stimme für die Agrarier-Lobby in Bonn gebraucht wird, spielen im Münchner Volkstheater eine Rolle. In den Hochzeitssälen der Wirtshäuser in München-Stadt & -Land spielen sich Beamte (erstaunlich viele) und Angestellte (die am meisten) als freie Bayern auf eigener Scholle auf. Damit ich nicht ungerecht bleibe: in keinem Stück fehlt der listige alte Asoziale, der alle Unterschiede des Standes (hier die Hände von Erbbauern und Findelkindern ineinander legend) missachtet. Er ist dem Alkohol zugeneigt und wird in den Münchner Volkstheatern immer am meisten beklatscht. Er agiert nicht, er intrigiert. Das mag die Wunschträume der Volkstheater-Fans porträtieren. Dann sind sie folglich nicht von der schlauesten Sorte.
Zur Hälfte schätze ich dieses Publikum auf Studenten. Ich habe keinen wirklich darauf befragt, wenn man aber in den Pausen zwischen den Akten die Ohren so nach anderen Tischen peilen lässt: es sind schon viele Studenten. Solche, denen der Papa zum Examen einen Porsche schenkt. Und die manchen mit den Franz-Joseph-Bärten, die aussehen wie die berühmten Graphiker der Münchner Werbe-Agenturen, sind öfters sogar diese berühmten Graphiker selbst. Der alte Pierre nennt diese Blase „Die Gschnasigen“. Ihnen gefällt es, den Darsteller der Schurkenrolle nachher auszupfeifen. So naiv sind die. Der Rest im Saal sind angeheiterte Ehepaare mit grauen Haaren, die Verwandten (zu denen sich die Schauspieler nachher an den Tisch setzen).
Die Zweifel:
Wer wählt die Stücke aus? Außer dem Spielleiter hat kaum irgendeiner mitzureden. Obwohl so eine Spielschar in München nicht wenig Akteure hat. Zur größten, der Lochhamer Laienbauern-Bühne, zählen sich 47 Schauspieler. Sogar bei der jungen Volksbühne Lehel bestimmt der Regis-
seur Arthur Loibl allein, was gespielt wird.
Es liegt natürlich an der Größe des Podiums, ob ein Stück mit 5 oder 20 Akteuren auf die Bühne gestellt wird. Da spielen sie halt Drei-Akter mit weniger als 10 Personen am liebsten. Auch gibt es einen Theater-Verlag, der den Volksbühnen Bauernschwänke gratis zur Auswahl leiht. Allerdings mit einer Bestseller-Liste. Damit weiß der Spielleiter dann schon, welche Stücke volle Säle bringen. Nimmt der Spielleiter das Stück auch, steigen in der Bestseller-Liste die Besucherzahlen noch höher.
An der Spitze stehen die Stücke von Max Neal und Maximilian Vitus. Das Ressort Bayern-rustikal-antik verwaltet der Georg Lohmeier im Fernsehen. Ins Ressort Bayern-rustikal-realistisch trat Martin Sperr ein, aber es ist verwaist und vom Thoma spielen sie nur die lustigen Einakter.
So ist das Münchner Volkstheater ungetrübt sonnig in seiner naiven Darstellung von Bauernstolz und Knechtschlauheit.
Kroetz schreibt Stücke, die klein genug sind für die Geduld des Volkstheater-Publikums. Dass er als Mitspieler der Ludwig-Thoma-Bühne in Rottach-Egern selbst Applaus als Lederhosen-Seppel erspielt hat, verleugnet der nicht bei seinem Handwerk. Aber über die kroetzigen Proleten gibt es nichts zum Lachen. Und über Faßbinder schon zweimal nicht, weil der sich uns als Klassiker ge-
naht hat. Wenn ich bei einem Faßbinder etwas Komisches finde, darf ich nicht lachen. Dann habe ich es nur missverstanden, was das Schrecklichste wäre. Mit einem Haiku von Fitzgerald Kusz übersetzt: „Kultur. Da passn mir net hii, dees is was für die Bessern.“
Das Weltbild der Münchner Volkstheater bluboisiert. Es kennt nur den fröhlichen Landmann einerseits und den dumpfen Städter andererseits. Gespielt wird fröhlicher Landmann.
Die Diskussion:
Warum finden die Münchner Volkstheater kein Stück, in dem einmal ein pfiffiger Prolet seinen Chef aufs Kreuz legt? Kommen möchte bitte, wer in „München“ Mitglied eines Volkstheaters sein will. Ein paar Autoren werden sich schon zur Debatte stellen (im Fraunhofer, am 1. Oktober um 8 Uhr).
Blatt. Stadtzeitung für München 28 vom 12. Juli 1974, 6 f.