Materialien 2022

Gegen die Dystopie der Realität

Für ein ganz anderes Ganzes
1. Mai, 13 Uhr, Rindermarkt, München – Kommt in den antiautoritären Block

Der akute Bedarf an einer Umwälzung der Verhältnisse ist angesichts des Zustands der Welt enorm. Ärgerlicherweise scheinen die Umstände ganz und gar nicht dafür bereit, die Zeichen stehen auf Regression, Armut und Krieg. Wir wollen das ganz grundsätzlich ändern und rufen auf zur revolutionären Ersten Mai Demo in München!


Eine andere Welt ist möglich. Dieser hoffnungsvolle Befund klingt heutzutage wie eine Drohung. Zeigen doch die jüngsten Entwicklungen vor allem auf, dass sich die Welt eben nicht nur zum Bes-
seren verändern kann, sondern dass in der relativen „Hölle der Gesellschaft im Überfluss“ (Marcu-
se) stets ein noch viel fürchterlicheres Potential schlummert. Eine globale Pandemie, die so schnell nicht enden wird, ein Klimawandel, der sich mit all seinen sozialen Folgen partout nicht wegigno-
rieren lässt, die Konsolidierung einer starken Rechten, die in vielen Ländern nicht nur Forderun-
gen stellt, sondern diese in konkrete Politik umsetzt: Schon für sich genommen wäre das alles Stoff genug für das eine oder andere dystopische Drama, spätestens seit die relativ realistische Gefahr eines Nuklearkriegs im Raum steht, wirkt das Drehbuch reichlich überladen.

Gleichzeitig explodieren hierzulande die Wohn- und Lebenskosten für weite Teile der Bevölkerung. Die Reallöhne sinken seit Langem, weil die Inflation die eh schon geringen Lohnsteigerungen auf-
frisst. Die meisten Leute haben heute weniger in der Tasche als vor 20 Jahren, für Etliche geht das an die Existenz. Wenn jetzt die Energiekosten durch die Decke jagen, wird das die soziale Schere noch weiter spreizen und für viele Menschen ein Leben in Armut bedeuten.

Diese Misere hat System. Auch wenn im öffentlichen Diskurs Klasse als Relikt aus Zeiten der In-
dustrialisierung vom Tisch gewischt wird und der Verfassungsschutz gleich ins Rotieren gerät, wenn jemand dieses Wort in den Mund nimmt, leben wir auch heute in einer Klassengesellschaft. Das bedeutet, dass wir eben nicht unseres „Glückes Schmied“ sind, wie es etwa Verfechter*innen liberaler Ideologie behaupten, sondern dass unser Wohlergehen in einem hohen Maße von struk-
turellen Bedingungen abhängt, die wir selbst nicht in der Hand haben. Im Kapitalismus geht ge-
sellschaftliche Macht einher mit dem Privateigentum an Produktionsmitteln. Wer das Kapital be-
sitzt, um Lebensmittel anzubauen, Boden zu erwerben, die Maschinen zur kaufen, um Bücher, Computer, Wutbälle oder Tageslichtwecker herstellen zu lassen oder die Rohstoffe, die für all das benötigt werden, kann auch darüber bestimmen, wie, für was und für wen diese Mittel eingesetzt werden. Diejenigen, die nicht über das entsprechende Kapital verfügen, derart auf gesellschaftliche Prozesse einzuwirken, sind gezwungen, ihre Arbeitskraft zu verkaufen, um sich überhaupt am Le-
ben zu erhalten. Während die einen einen Großteil ihrer Lebenszeit dafür aufwenden müssen, überhaupt essen oder wohnen zu können, profitieren die Eigentümer*innen dieser allgemein be-
nötigten Ressourcen von der Arbeit aller anderen. Diese Produktionsweise teilt die Menschen da-
her zwangsläufig in Klassen ein, je nachdem, wer welche Stellung in diesen Prozessen einnimmt. Diese Herrschaft von Menschen über Menschen muss dabei nicht direkt, also von einzelnen Indivi-
duen übereinander, passieren und sie braucht, zumindest in den kapitalistischen Zentren, für den gewöhnlichen Gang der Dinge gar keine offene Gewalt. Sie ist vermittelt über Eigentumsverhältnis-
se, Lohnabhängigkeiten und den stummen Zwang der Verhältnisse: wer nicht mitspielen kann oder will, geht unter.

Das begriffliche Konzept der Klasse ist dabei vertrackt. Denn obwohl soziale Unterschiede, Armut und Reichtum, in höchstem Maße real erfahrbar sind, geht die (Arbeiter*innen-)Klasse nicht voll-
ständig in empirischen Befunden auf, oder lässt sich wie auf einer Skala aus dem Produktionspro-
zess direkt ableiten. Ihr wohnte immer auch ein politisches Moment inne, Fragen von Organisati-
on, Kampferfahrungen und Kollektivität. Was sie zur Klasse macht war und ist auch verbunden mit Hoffnungen, Wünschen und enttäuschten Erwartungen. Die Verklärung bestimmter Formen der Arbeiter*innenschaft und ihre Stilisierung zum alleinigen revolutionären Subjekt ist genauso falsch, wie eine Kapitalismuskritik die meint ohne Analyse der Klassenverhältnisse auskommen zu können oder sich gar verächtlich und arrogant gegenüber Arbeiter*innen gibt.

Obwohl der Kapitalismus also immer Klassengesellschaft sein muss, bleibt die Arbeiter*innenklas-
se in der Regel ein Gespenst. Sie ist unter gegenwärtigen Bedingungen meist die unsichtbare Klas-
se, die gerade in den westlichen Industrieländern relativ befriedet und effektiv eingehegt ist, oder der schlicht eine passende Organisierungsmöglichkeit fehlt. Als wahrnehmbare und organisierte gesellschaftliche Kraft tritt sie insbesondere in Deutschland höchstens in Form von gelegentlichen Arbeitskämpfen auf. Es ist vor allem die herrschende Klasse in der man ganz genau weiß, um die eigene Position in der Gesellschaft, die Möglichkeiten, die damit einhergehen und die Interessen, die es zu verteidigen gilt. Was diese Interessen sind, zeigt sich deutlich etwa in der Pandemie oder auch der Klimakrise. Maßnahmen gegen die drohende Klimakatastrophe, die dem Kapital auch nur ansatzweise Schranken aufweisen könnten, werden mit Verweis auf den Schaden für die Wirtschaft blockiert, Klima- und Sozialpolitik gegeneinander ausgespielt.

Währenddessen wird versucht, aus der Klimakrise durch „grünes“ Marketing auch noch Profit zu schlagen. Eine kapitalistische Bearbeitung und Verwaltung der Klimakrise, etwa durch einen „Green New Deal“, ist bestenfalls getrieben von der Erkenntnis, dass die Aussicht auf einen unbe-
wohnbaren Planeten auch für die Verwertungsbedingungen des Kapitals nichts Gutes verheißt. Unter dem grünen Anstrich bleibt aber alles beim Alten: die Gesetzmäßigkeiten der kapitalisti-
schen Wirtschaftsordnung erfordern es, nach größter Kosten-Nutzen-Maximierung zu streben. Die „grüne“ Entscheidung und Handlung einzelner Unternehmen ist bestenfalls irrelevant, oft genug auch weiteres Verkaufsargument und erwarteter Marktvorteil. Der Logik von Konkurrenz und Pro-
fitmaximierung kann sich im Kapitalismus niemand individuell entziehen, menschliche Bedürfnis-
se und die Beschaffenheiten dieses Planeten werden dem immer untergeordnet sein. Dieses Wirt-
schaftssystem gehört endlich auf den Müllhaufen der Geschichte befördert.

Auch während der Pandemie mussten viele Leute weiterhin in die Arbeit gehen, bei Bullshit-Jobs antanzen oder sich in den als „systemrelevant“ entdeckten Branchen unter prekären Arbeitsbedin-
gungen dem Risiko einer Infektion auszusetzen. Vertreter*innen von Kapital und Regierung drängten zusammen schon früh wieder auf Öffnungen und auf Rücknahme der Corona-Schutz-
maßnahmen. Dabei gilt das, was im Kapitalismus immer gilt: Der Schutz der Wirtschaft wiegt schwerer als das gesellschaftliche Wohlergehen. Das Abwägen von Profit gegen Menschenleben ist wesentliches Merkmal einer Klassengesellschaft, in der die Ausbeutung der einen die Herrschaft der anderen bedingt. So ist es auch nicht verwunderlich, wenn jetzt, angesichts des Krieges in der Ukraine, ohne mit der Wimper zu zucken und mit bemerkenswerter Geschwindigkeit, gigantische Summen in die Bundeswehr und ihre Aufrüstung gesteckt werden, während etwa Hartz-IV-Emp-
fänger*innen um jeden Euro kämpfen müssen. Um den reibungslosen Ablauf des kapitalistischen Normalbetriebs und die geopolitische Sicherheit des Wirtschaftsstandortes zu gewährleisten, wird die soziale Sicherheit derer geopfert, die im Kapitalismus nur als „Eigentum des Kapitals“ von Wert sind. In den bürgerlichen Talkshows, Parlamenten und Zeitungen werden die von der Arbeiter*in-
nenbewegung erkämpften sozialpolitischen Errungenschaften erneut als dekadenter Ballast abge-
stempelt, den man sich heute nicht mehr leisten könne. Der nächste Angriff auf die sozialen Siche-
rungssysteme, der gerade vorbereitet wird, ist Ausdruck eines Klassenkampfes von oben, der die bestehenden Ungleichheiten und Nöte noch verstärken wird.

Die Folge davon ist eine verschärfte Krise der Reproduktion, in der nicht nur diejenigen, die ihre Arbeitskraft verkaufen müssen zu kämpfen haben, sondern auch all jene, die zusätzlich noch dafür sorgen müssen, dass die Mehrwertproduktion überhaupt am Laufen gehalten werden kann. Das Klassenverhältnis zeigt hier seine geschlechtliche Dimension, denn es sind vor allem Frauen, de-
nen die Reproduktion, das Private und das Sich-Kümmern als angeblich natürliche Sphäre zuge-
teilt ist. So sind es der strukturellen Logik der kapitalistischen Produktionsweise insbesondere Frauen, die trotz aller gesellschaftlichen Öffnungsprozesse und Debatten um Geschlechterrollen, immer noch den Großteil an unbezahlter Hausarbeit, Kinderziehung und Sorgearbeit verrichten. Insbesondere in der neoliberalen Variante des Kapitalismus wird versucht, diese Reproduktionsar-
beit selbst marktförmig zu organisieren und auch diesen Bereich einer Profitlogik zu unterwerfen. Auch wenn diese Tätigkeiten in Form von Lohnarbeit im öffentlichen Bereich stattfinden, wie etwa im Krankenhaus oder Kindergarten, vermag es der Kapitalismus nicht, diese zu sinnvoll, also aus-
gerichtet an gesellschaftlichen Bedürfnissen, zu organisieren. Denn auch Menschen, die diese Ar-
beitsformen ausüben, müssen sich auf dem Markt behaupten und sind etwa gezwungen, Pati-
ent*innen, Bettenbelegung etc. als bloße Kostenfaktoren zu betrachten, die am Ende des Tages noch Profit abwerfen sollen. Die schlechte Bezahlung und die belastenden Arbeitsbedingungen sind in den letzten Jahren, nicht zuletzt verstärkt durch die Pandemie, erneut in den Fokus politi-
scher Konflikte geraten. Nicht nur im Krankenhaus gibt es vermehrt Arbeitskämpfe und Streiks, auch im Bereich der unbezahlten Sorgearbeit werden Aktionsformen wie etwa feministische Streiks diskutiert und erprobt. Gerade hier zeigt sich, wie krisenhaft die kapitalistische Produktion und Reproduktion organisiert ist und wie eine organisierende und kollektiv kämpfende Arbei-
ter*innenschaft die Herrschenden in Bedrängnis bringen kann.

Das ganze Elend der kapitalistischen Klassengesellschaft kann nicht durch eine „bessere“ Herr-
schaft, eine vermeintlich grünere oder diversere Verwaltung des Ganzen überwunden werden. Jeglicher Versuch dabei an den Staat zu appellieren, ist zum Scheitern verurteilt. Der bürgerliche Staat ist kein leeres Vehikel, das sich je nach dem was das soziale Kräfteverhältnis zulässt mit be-
liebigen Inhalten füllen ließe. Dabei ist es nicht nur die fatale Geschichte der Versuche von Links die Staatsgewalt zu erobern, die all jene Leute, die es ernst meinen mit der Aufhebung des Klassen-
verhältnis, in dieser Beziehung höchst skeptisch machen sollte.

Der Versuch durch die Institutionen zu marschieren hat zur Einhegung widerständiger Potentiale und letztlich zu Absicherung und Ausbau kapitalistischer Herrschaft geführt. Nicht ohne Grund waren es Sozialdemokrat*innen und Grüne, die die letzten Bollwerke des fordistischen Sozialstaats unter Beschuss nahmen und die Deutschland ganz offiziell wieder Krieg führen ließen. Die aktuelle Regierung wird mit noch so manch anderer Schweinerei aufwarten, so viel ist sicher. Wer darauf setzt innerhalb der bestehen Ordnung zu handeln, wird immer gezwungen werden sich an die Spielregeln zu halten – das vielzitierte Gerede von Sachzwängen und begrenzten Möglichkeiten ist nur allzu bekannt.

Der andere Weg des Setzens auf den Staat meint seine Zwangsmittel zum Zwecke der Befreiung einfach umwidmen zu können. Das Abschaffen der Herrschaft durch die Herrschaft ist nicht nur widersprüchlich an sich. Historisch bescherte uns dieses Konzept den Realsozialismus und seine verwandten Spielarten. Diese Pervertierung linker Hoffnungen auf eine bessere Welt, dieser Verrat an der linken Idee umfassender Befreiung, ist eine Hypothek, die auch heutige Linke mit sich he-
rumtragen müssen und um deren (selbst-)kritische Auseinandersetzung niemand herumkommt.

Die Geschichte des Scheiterns der linken Staatsfixierung ist kein Ergebnis falscher Umsetzungen oder schlecht ausgeführter Pläne, es hat inhaltliche Gründe. Der Staat ist eben keine Draisine auf der Strecke zur Freiheit, wo es nur gälte sich genügend anzustrengen, um ans verheißungsvolle Ziel zu gelangen. Der Staat als institutionelles Arrangement der Herrschaft ist keine politisch neutrale Form, die der kapitalistischen Ökonomie übergestülpt würde. Der bürgerliche Staat ist auf Engste verwoben mit der Produktionsweise, die bürgerliche Herrschaft herbringt: dem Kapitalismus. Es ist keineswegs seine Funktion ein Gemeinwohl durchzusetzen, er verhindert vielmehr, dass gesell-
schaftlicher Reichtum allen zu Gute kommt. Er ist Absicherungsinstanz der Eigentumsverhältnisse und Garant dafür, dass der Laden läuft und sich die Prozesse der Kapitalakkumulation vollziehen können. Darüber hinaus ist die Unsinnigkeit kapitalistischer Ökonomie, ihr instrumentelles Ver-
hältnis zur Welt und den Menschen, in seine Apparate und inhärenten Logiken eingeschrieben. Eine Linke, die es ernst meint mit dem Projekt radikaler Emanzipation, kommt nicht umhin, sich gegen den Staat zu organisieren. Dazu braucht es die Selbstorganisierung und Selbstverwaltung von unten, die die Hegemonie der Herrschenden radikal in Frage stellt und die Verhältnisse, die fortwährend Herrschende und Habenichtse hervorbringt, angreift.

Erste Schritte, um aus der Misere kapitalistischer Vergesellschaftung rauszukommen wären neue Mitstreiter*innen finden, versuchen alte wieder aufzupäppeln, dafür zu sorgen, dass Orte linker Auseinandersetzung, Debatte und Begegnung mit Leben gefüllt werden so wie zu schauen, dass linke Praxis in Kombination mit adäquaten Inhalten wieder anläuft. Mittelfristig gilt es wieder fähig zu werden gesellschaftliche Auseinandersetzungen zuzuspitzen und als radikalisierender Faktor auf die revolutionäre Abschaffung der bestehenden Ordnung hinzuwirken. Unter den gege-
benen Bedingungen ist das ein weiter Weg. Zunächst gilt es als Linke überhaupt wieder mehr aus-
richten zu können, als auf den Zuschauerrängen gesellschaftlicher Entwicklung abgestellt zu sein. Als Linke stehen wir zu sehr mit dem Rücken zur Wand, als dass wir uns die völlige Vereinzelung noch leisten könnten, wir müssen uns zusammentun. Strategisch heißt das linke Politik zu machen, die Breite sucht aber sich nicht für jeden Scheiß hergibt, eine gesellschaftliche Bewegung anzustre-
ben, aber Masse nicht zum Kriterium des Erfolgs machen.


Unser Vorschlag ist es materialistische Kritik der Verhältnisse auf Höhe der Zeit zu liefern, eine klar antistaatliche, antirassistische und feministische Position zu beziehen. Das ist nicht immer einfach und schon gar nicht widerspruchsfrei – die Verhältnisse sind es auch nicht. Die Komplexi-
tät kapitalistischer Gesellschaft sollte weder Grund zum desillusionierten Kopf-in-den-Sand-Ste-
cken, noch zur vereinfachten Agitation mit zweifelhaften Feindbildern sein. Der schlaue Teil der Linken war immer in der Lage die Widersprüche kapitalistischer Gesellschaften und die Vielstim-
migkeit der Widerstände gegen sie in die eigene Analyse miteinzubeziehen. Um das Ziel einer Assoziation der Freien und Gleichen verwirklichen zu können, gälte es das gesellschaftliche Zu-
sammenleben vom Standpunkt der Reproduktion aus zu denken und dementsprechend die Pro-
duktion sinnvoll zu organisieren, das heißt an den tatsächlichen Bedürfnissen der Menschen orientiert und nicht nach den Prämissen der Kapitalakkumulation. Grundlage hierfür ist die per-
manente und basisdemokratische Einbindung Aller. Diese radikale Transformation der Produk-
tions- und Lebensweise wird vieles verändern, wie wir arbeiten, was wir produzieren, wie, wo und mit wem zusammen wir leben. So dystopisch wie die Welt gerade anmutet muss sie nicht für im-
mer sein. Lasst uns das gemeinsam angehen.

Für die befreite Gesellschaft!


zugeschickt am 26. April