Flusslandschaft 2022

Zensur

Eines der Blätter in der Stadt, das mich, den Verantwortlichen für diese Web-Seite, interessiert, ist in MÜNCHEN. Da äußern sich in einem Panorama, das das Stadtleben in vielen Facetten zeigt, Autorinnen und Autoren, die mir etwas sagen, was ich so noch nicht gesehen oder gedacht habe. Einer von ihnen ist Michael Sailer, der mit seiner Sprachakrobatik ganz weit oben ohne jede Absi-
cherung durch die Zirkuskuppel fliegt. Wenn ich seine Kolumne „Belästigungen“ lese, frage ich mich beinahe immer, ist das jetzt richtig oder ein grandioser Blödsinn, ist da was dran oder nicht? Sailer polarisiert. Mit Witz und Selbstironie, haut manchmal daneben, aber immer auch dorthin, wo es sich lohnt.

Am 1. März erscheint die Nummer 3 des Blatts. Da steht unter Sailers Überschrift „Was ist das ‚eigentlich’ für ein dummer Krieg?“:

„‚Am Mittwoch‘, raunt es aus dunklen Kanälen, ‚marschieren die Russen in der Ukraine ein!‘ Ob sie das getan haben, kann ich nicht wissen – es ist Mittwoch, aber noch zu früh für Kriege. Obwohl früher ja gerne um 5 Uhr 45 ‚zurückgeschossen’ wurde; der Mensch ist bequem geworden. Oder ist der ‚gefrorene Boden’, den russische Panzer Leitmedien zufolge zum Einmarschieren unbedingt brauchen, noch nicht gefroren genug? Hat die CIA mal wieder eine geheime Geheimmeldung falsch übersetzt? Steht da gar nicht ‚Mittwoch‘, sondern ‚Sanktnimmerleinstag‘?

… Wenn der russische Einmarsch ausbleibt, wird dann die westliche Propaganda behaupten, man habe Putin zwar erfolgreich ,abgeschreckt’, der Konflikt ,verschärfe’ sich aber weiter? Das wären so Fragen, die ich da hätte.

Wo ist eigentlich diese ,NATO-Ostflanke’, die Frau Baerbock so eisern verteidigen möchte? Und den ,hohen Preis’, den die Deutschen ihr zufolge dafür zahlen möchten, hat sie den mit den Deut-
schen ausgehandelt oder wenigstens mitgeteilt, ob darin die atomare Bombardierung deutscher Großstädte enthalten ist? Was hat eigentlich die NATO, was haben die USA in der Ukraine verlo-
ren, abgesehen davon, daß sie die Scherben zusammenkehren könnten, die der cracksüchtige, verwahrloste Sprößling eines nicht immer gänzlich anwesenden Präsidenten als Verwaltungsrat eines der korruptesten Konzerne der Welt (zufällig eines ukrainischen) hinterließ, während sein Daddy und der deutsche Außenminister Steinmeier irgendwelche Drähte beim Putsch gegen die Regierung in Kiew zogen?

Das wird kompliziert, zumal die meisten historischen Dokumente aus Social-Media-Posts bestan-
den, die Löschungskampagnen zum Opfer fielen.

Aber wieso erinnern wir uns so selten daran, daß Adolf Hitler im Januar 1941 dem Oberkommando der Wehrmacht verkündete, man müsse die Sowjetunion angreifen, weil Stalin ,vom Drang nach Westen beseelt’ sei und ansonsten ganz Westeuropa überrollen werde? Weshalb fragen wir uns nicht, warum Stalin von seinem ,Drang’ nichts wußte, sondern weiterhin Öl und Getreide nach Deutschland lieferte? Bis am 22. Juni 1941 wieder mal ,zurückgeschossen’ wurde – diesmal ganz früh, vor 4 Uhr! – mit der Begründung, die Rote Armee sei an ihrer eigenen Grenze aufmarschiert und manövriere dort herum!

Kann man Militärmanöver irgendwo in der Welt für ebenso idiotisch und überflüssig halten wie in Rußland? Oder ist irgendwo festgelegt, wer sein Territorium durch die Bereitstellung von Tötungs-
gerät schützen darf und wer nicht? Mußten die USA sich öfter gegen Invasionen verteidigen als Rußland? Wenn man von Rußland verlangen kann, daß es seine Kampftruppen von der eigenen Grenze fernhält, wieso schwirren dann US-Kampftruppen in der ganzen Welt herum?

Was wäre los, wenn Rußland in Mexiko Raketen stationierte, verbunden mit der Aufforderung an die USA, endlich zu ,deeskalieren’, die ,Schlinge um den Hals’ von Quebec oder Chihuahua zu lockern, sich aus den ,abtrünnigen Gebieten’ (Texas, Kalifornien, New Mexico, Arizona, Nevada, Utah, Colorado) zu verzupfen und die Unterstützung der dortigen pro-US-,Separatisten’ einzustel-
len? Hatten wir nicht schon mal so einen Fall in Kuba?

Kann es sein, daß der finstere Diktator Putin kein solcher ist, sondern ein schlauer Fuchs, der in dieser seltsamen Kriegskrise die Möglichkeit erspäht, die Widersinnigkeit des gesamten Unterneh-
mens NATO so deutlich vorzuführen, daß es ihm dadurch gelingen könnte, nicht nur seinem Land ein bißchen mehr Sicherheit zu verschaffen, sondern das Zeitalter zu beenden, in dem die Weltpoli-
tik auf der ständigen Bedrohung des ganzen Planeten durch die NATO und ihre Gier nach noch mehr Macht beruht?

Wäre das eine hoffnungsvolle oder schreckliche Vorstellung? So viele Fragen, so wenige Antwor-
ten. Es ist früh, legen wir uns noch mal hin.“

Soweit der Artikel (hier ein Auszug), der am 1. März erscheint. Am 22. Februar erkannte die Russi-
sche Föderation die abtrünnigen ukrainischen Provinzen Luhansk und Donjezk an. Der Einmarsch Russlands in die Ukraine begann.

Sailers Artikel löst Empörung aus. In der Nummer 4 vom 1. April schreibt die Redaktion: „Auch wenn sein Text deutlich vor dem Angriffskrieg in Druck gegangen war, so bedauern wir sehr, wenn er Gefühle verletzt haben sollte. Wir haben uns dazu entschieden, die Zusammenarbeit zu been-
den.“

Daraufhin schreibe ich: „Hallo IN-Redaktion, jetzt staune ich wirklich. Ihr setzt den Sailer vor die Tür. Einen der wenigen, der in dieser aalglatten Stadt stört, aneckt, irritiert, belästigt und sich et-
was traut. Mit der Begründung, er habe Gefühle verletzt. Da musste ich mich richtig kneifen. Dass Ihr den Sailer raus schmeißt, ist nicht nur Euer Eigentor, sondern verletzt auch meinen Verstand. Was ist schlimmer: Gefühle zu verletzen oder den Verstand? Naja, wo keiner ist … Schade! Es grüßt Günther Gerstenberg“ Mit einer Antwort rechne ich nicht.

War es nicht immer gute Tradition, wenn sich Verleger und Herausgeber schützend vor ihre Auto-
rinnen und Autoren stellten? Wo wäre Kurt Tucholsky geblieben, wo Carl Amery, Herbert Achtern-
busch oder Upton Sinclair? Die Liste ist unendlich.

Vermutlich hätte Sailer, wenn er noch schreiben würde, jetzt darauf hingewiesen, dass Putin nie-
mand anderes ist als ein Klon, der in einem Labor in Oregon mit der einzigen Aufgabe gezüchtet worden ist, den von Macron diagnostizierten Hirntod der NATO rückgängig zu machen. Ich ver-
misse Sailer. Wenn ich heute das Blatt in die Hand nehme, denke ich, es ist austauschbar und fad geworden. Und dann lege ich es ungelesen weg.

Anfang Oktober hat die Inszenierung „Die Vögel“ von Intendant Jochen Schölch im Metropolthea-
ter
in Freimann Premiere. Peter Jungblut schreibt am 7. Oktober im BR Kultur-Newsletter: „Insge-
samt knapp drei Stunden so lohnendes wie poetisches, manchmal sogar groteskes Drama über einen der folgenreichsten Konflikte unserer Gegenwart und seine lange, lange Geschichte, und zwar gänzlich ohne politische Botschaft, ohne Zeigefinger und ohne unangebrachte ‚Aktualisierun-
gen’, etwa auf den Krieg in der Ukraine, wo sich ja auch zwei Völker zunehmend unversöhnlich ge-
genüber stehen.“ — Das bereits in mehreren Ländern (auch in Israel) erfolgreich und mit großer Beachtung aufgeführte Stück wird nach einer Intervention vom Verband jüdischer Studenten in Bayern und der Jüdischen Studierendenunion Deutschland für die weiteren Vorstellungen gecan-celt. Vorwurf: Antisemitismus der schlimmsten Sorte. Unterstützung erhalten sie von der Präsi-dentin der Israelitischen Kultusgemeinde München, Charlotte Knobloch. – Die Uraufführung des Stücks des libanesischen Autors Wajdi Mouawad erfolgte 2017 in Paris, das Cameri-Theater in Tel Aviv übernahm die Uraufführungs-Inszenierung, die deutsche Erstaufführung fand 2018 am Staatstheater Stuttgart statt. Insgesamt gab es bisher 22 Inszenierungen im deutschsprachigen Raum, am Berliner Ensemble, am Thalia Theater in Hamburg, am Schauspielhaus Graz, am Burg-theater Wien, dem Schauspiel Köln oder dem Theater Krefeld Mönchengladbach. Bisher gab es nie den Vorwurf des Antisemitismus – bis jetzt in München, wo das Metropoltheater sofort einknickt und das Stück absetzt, obwohl es Unterstützung angeboten bekommt: Mirjam Zadoff, Direktorin des NS-Dokumentationszentrums, und Bernhard Purin, Direktor des Jüdischen Museum Mün-chen, geben folgendes gemeinsames Statement ab: „Wenn Kultureinrichtungen diese Themen zu-künftig meiden, wäre das für eine lebendige Erinnerungskultur aber auch für die demokratischen Kräfte auf beiden Seiten des Nahostkonfliktes ein falsches Signal. Das Jüdische Museum München und das NS-Dokumentationszentrum München unterstützen deshalb das Metropoltheater und bieten für alle weiteren Gespräche ihre Expertise an.“ Daraufhin kommt es zu einer Solidaritätsak-tion: Am Sonntag, 4. Dezember, wird „Vögel“ vom Schauspiel Köln in einer Inszenierung des Stücks von Stefan Bachmann gestreamt.

Überraschung

Jahr: 2022
Bereich: Zensur