Materialien 1958

Über den Zorn

Hinter der Szene wird heftig eine Tür zugeschlagen. Man hört die zornige Stimme eines jungen Mannes.

Was Sie da eben hörten, war mein Sohn,
er ist erst achtzehn, der Kleine,
und schon so zornig auf unsere Generation –
natürlich auch auf die seine.
Er ist ein potentieller, existentieller Individualanarchist
Tja, ich weiß auch nicht, was das ist,
Aber er wird es schon wissen, mein zorniger Sohn.
Auf jeden Fall ist er für Rebellion
und ein strikter Verneiner jeglicher Autorität.
Und du hattest doch erst die Masern, mein Kleiner – –
Nein, wie die Zeit vergeht!

Sei nur zornig, mein Junge, und sind die andern auch schockiert,
ich freue mich, mein Junge, daß dir so leicht nichts imponiert.
Und wenn du mir das Leben auch erschwerst
mit deiner ewigen Opposition –
ich möchte gar nicht, daß du anders wärst,
sei nur zornig, mein Sohn!

Er geht mit dem Fortschritt und knallt mit den Türen,
doch seine »Schrei-wenn-du-kannst-Manieren«
machen mir wirklich nichts aus.
Er schreit, weil er glaubt, daß ihn keiner versteht,
dabei ist er doch kaum aus dem Stimmbruch heraus.
Nein, wie die Zeit vergeht!

Sei nur zornig, mein Junge, du darfst die Welt ruhig provozieren.
Schlag um dich, mein Junge, du hast ein Recht zu revoltieren.
Wenn man bei dir auch den Respekt vermißt –
mir ist noch nie sehr viel daran gelegen.
Du weißt noch nicht, warum du zornig bist,
doch ich, mein Junge, weiß genau, weswegen.

Die Nacht, mein Kind, in der ich dich geboren,
war eine Vollmondnacht und sternenklar.
Man schoß Salut fur dich aus tausend Rohren.
und trotzdem gar nicht Heiliger Abend war,
brannte ein Christbaum über unserm Haus,
im Keller ging die letzte Kerze aus.
Vom Himmel hoch fiel Schwefel dir zu Ehren,
du lagst in deinem Luftschutzpappkarton.
Ich konnte deinen ersten Schrei nicht hören,
denn die Sirene pfiff – den Schlager der Saison.
Du sahst die schöne Welt, in die ich dich geboren,
und da hast du vor uns wohl den Respekt verloren.

Sei nur zornig, mein Junge!
Dein Vater war es früher auch.
Doch jetzt hat er höchstens heimlich mal eine Wut im Bauch.
Was wollte der nicht alles für die Menschheit tun!
Vor allem wollte er niemals ein Unrecht decken.
Heut’ tut er nur noch das, was opportun,
sonst tut er nichts, um ja nicht anzuecken.
Laß dich nicht auch so wie die andern zähmen
aus lauter Angst um deine Position!
Laß dir nicht die Zivilcourage nehmen
und bleib du zornig nur, mein Sohn!


Klaus Budzinski (Hg.), So weit die Scharfe Zunge reicht, Frankfurt am Main/Hamburg 1968, 283 f.

Überraschung

Jahr: 1958
Bereich: Kunst/Kultur