Materialien 1974

Das Fernseh-Journal Negativ-Porträt

Man müßte einmal die westdeutschen und die internationalen (westlichen wie sozialistischen) Zeitungen eines Tages, und die Nachrichtensendungen der Fernsehanstalten desselben Tages miteinander vergleichen – man würde interessante Aufschlüsse wahrscheinlich nicht nur daraus erhalten, wo was wie mit welchem Akzent und Stellenwert berichtet wird, sondern auch aus dem, das nicht berichtet wird. Die Liste der von ARD (einschließlich der Hörfunkprogramme) und ZDF verschwiegenen Ereignisse, Fakten, Zusammenhänge, würde, da bin ich ganz sicher, ein eigenes Programm füllen können, ein Negativ-Programm sozusagen. Allein das täglich betriebene Manö-
ver, Links-Extremisten und Kommunisten in einen Topf zu tun, damit man mit dem von den einen betriebenen Terror die anderen belasten kann, bezeichnet ja schon politische Absicht; und macht im übrigen den vielberedeten Pluralismus zu einem scheinbaren. Gleiches gilt natürlich auf inter-
nationaler Ebene: wie selten wird in den Fernsehnachrichten zwischen Arabern und Arabern, zwi-
schen Palästinensern und Palästinensern unterschieden, wie schnell wird die Palästinensische Be-
freiungsorganisation PLO zumindest zwischen den Zeilen zur Terror-Organisation, wie beschä-
mend schnell wird dem chilenischen Widerstand der Mantel des Nicht-Legalen umgehängt. Der nächste Schritt ist konsequent: imaginäre Gleichheitszeichen zu setzen zwischen links und rechts, in der Geschichte (NSDAP, KPD) wie in der Gegenwart (NPD, DKP) – die sogenannten Radikalen, schön unter einem Hut. Das wohl bekannte Argument vom Kommunismus als rotem Faschismus ist dumm, aber es verfehlt seine Wirkung noch immer nicht, nicht jedenfalls in einem Medium, das täglich von Millionen konsumiert wird. Man achte einmal darauf, in wieviel Gesichtern dieses „Ar-
gument“ täglich auftaucht, in wieviel Chiffren, Andeutungen, Anspielungen, indirekt. Und immer mit der Aura des Objektiven umgeben; der Objektivismus ist eine der wesentlichen Methoden ge-
genwärtiger SPD-Kulturpolitik.

Aber kommen wir zur Taktik des Verschweigens zurück. Nehmen wir einige Brennpunkte weltpoli-
tischen Geschehens der letzten Monate: Chile, der Nahe Osten, Südafrika, Vietnam. Welche Kor-
respondenten von ARD oder ZDF, welche westdeutschen Reporter, Dokumentaristen, Kamera-
männer haben ihren angestammten Korrespondentenplatz verlassen, haben sich, zum Teil unter Riskierung ihres Lebens, an diesen Ereignissen engagiert; wirklich engagiert, und nicht bloß eine journalistische Pflichtübung abgeliefert? Es gibt solche Chronisten, aber die wenigsten von ihnen haben einen westdeutschen Paß, und was sie filmen, erreicht unsere Bildschirme nicht, oder allen-
falls Monate und Jahre später, zur Kunst geronnen und in die Kulturgettos am späten Abend ver-
bannt.

Welche Fernsehanstalt hat sich, zum Beispiel, für den Wiederaufbau des zerstörten Vietnam inter-
essiert, fürdie menschliche, die moralische Leistung eines Volkes, dessen Häuser, Felder, Dämme, Familien zerbombt wurden, und das dennoch die Energie zum Neubeginn findet? Der Sender Frei-
es Berlin und der Bericht „Vietnam zwischen Krieg und Frieden“, in der Tat ein hervorragendes Beispiel fernsehpublizistischer Arbeit – aber der Autor und Regisseur dieses Berichts heißt Angel Wagenstein, ist Bulgare und hat den Film im Auftrag des SFB gemacht. Oder das sensible Porträt der jungen Bürgermeisterin eines kleinen, besonders schwer beschädigten Dorfes – die DDR-Do-
kumentaristin Gitta Nickel hat ihren Bericht „Tay Ho, das Dorf in der 4. Zone“ für das Fernsehen der DDR gemacht. Der erste Bericht aus Vietnam nach dem Friedensabkommen stammt von dem Polnischen Regisseur Andrzej Brzozowski. Der sowjetische Dokumentarist Roman Karmen, einer der berühmtesten Chronisten der Filmgeschichte, dessen erste Filme im Spanien des Bürgerkriegs aufgenommen wurden, hielt sich im Sommer letzten Jahres im Rahmen einer mehrteiligen Fern-
seh-Serie über den lateinamerikanischen Kontinent im Chile Allendes auf. Nach dem Putsch be-
trachtete er voller Trauer die früher aufgenommenen Bilder einer Vergangenheit gewordenen Zu-
kunft, fügte diese Bilder zu einer Rekonstruktion der Ereignisse und zu einer Analyse der Hinter-
gründe zusammen. Santiago Alvarez (Kuba), den ich für einen den bedeutendsten Dokumentari-
sten der Gegenwart halte, artikulierte seine traurige Wut über den Putsch in einem kurzen Film-
essay. Die DDR-Dokumentaristen Ulrich Makosch und Hans Andersohn beogleiteten Freiheits-
kämpfer der FRELIMO auf einem beschwerlichen Marsch durch von portugiesischen Söldnern besetztes Gebiet Mozambiques. Der syrische Regisseur Faisal Al-Yassiri filmte in Damaskus, als israelische Bomben fielen – keineswegs nur auf militärische Objekte, wie die israelische und die westdeutsche Propaganda uns das vormachen wollten, sondern auf Wohngebiete, Krankenhäuser, Schulen, kulturelle Institutionen. Und so weiter: diese Liste wahrhaftiger Dokumente ließe sich lange fortsetzen.

Dokumente engagierter Zeitgenossen, mit der Kamera festgehalten und notiert. Aber unser Fern-
sehen nimmt diese Dokumente nicht zur Kenntnis. Auch aus dem, das nicht gezeigt wird, lassen sich Aufschlüsse über unser Fernsehen gewinnen, und über die Interessen und Absichten derjeni-
gen, die es verwalten.

Klaus Eder


tendenzen 94 vom März/April 1974, 48.

Überraschung

Jahr: 1974
Bereich: Medien