Materialien 1976

Die merkwürdige Renaissance des Komikers Karl Valentin

Karl Valentin wurde am 4.6.1882 in München geboren und starb 1948, sinnigerweise für einen Ko-
miker, am Rosenmontag. Sein Vater stammte aus Hessen, die Mutter aus Zittau. Eigentlich hieß er Valentin Ludwig Fey, den Valentin hat er sich selbst »ausdenkt«. Als ihm Wilhelm Hausenstein er-
klärte, daß sein Vorname vom Zeitwort »valeo« komme und »Staatskerl« bedeute, quittierte er das mit großer Skepsis. Wie er selbst erzählte, erlernte er das Schreinerhandwerk, entwendete in der Werkstatt einen Nagel, um den erlernten Beruf daranzuhängen und aus »gesundheitlichen« Grün-
den den Komikerberuf zu ergreifen. Tatsache war, daß er sein Leben lang von Asthma gequält wur-
de.

Seine künstlerische Anfangszeit war nicht sehr rosig. Eine Karte aus Halle an seine Mutter teilt uns mit, daß er seit Wochen nur von Butterbrot lebt und nicht weiß, wie es weitergehen soll. Er brach eine Tournee als Musical-Clown mit einem selbstkonstruierten Orchestrion ab, zerschlug das In-
strument, um sich die Kosten des Transportes zu ersparen und kehrte nach München zurück. Hier logierte er bei einem Wirtsehepaar Greiner und schuberlte (Geldsammeln nach Auftritt) in Münch-
ner Wirtschaften. Erst sein Couplet »Das Aquarium« machte ihn bekannt. Bald darauf vereinigte er sich mit einer Sängerin einer Münchner Volkssängergruppe, Liesl Karlstadt, und trat nunmehr erfolgreich in allen großen Münchner Vergnügungsstätten auf.

Zu den wohlwollenden Zeitungskritiken meinte er einmal zu seiner Tochter Bertl, »i woaß gar net, was de allwei schreibn! Mir is doch d’Hauptsach, daß d’Leut lacha!« Diese naive Einstellung zu seinen vertrackten Szenen, Couplets und Theaterstücken, übrigens an die 400! – kann man sie einem so fruchtbaren Autor abnehmen? Zeitgenossen Valentins wie Tucholsky, Roda Roda, Tho-
mas und Heinrich Mann, Polgar, Kerr und Brecht hatten eine andere Meinung. Sie alle schätzten ihn sehr, bezeichneten ihn als ein Phänomen, das schwer aufzuschlüsseln sei. Polgar sagte treffend von ihm: »Valentin ist ein Gespenst und doch ein Münchner«. Oskar Maria Graf: »Wäre er als jun-
ger Mensch nach Hollywood gekommen, hätte er Chaplins Ruhm erreicht«. Brecht gestand offen, er habe viel von Valentin gelernt. Hausenstein bestätigt ihm, ein Künstler von säkularer Bedeutung zu sein. Die jetzige Popularität Valentins bestätigt diese Behauptung.

Das Münchner Künstlerpaar Valentin-Karlstadt erlebte in Berlin, im Kabarett der Komiker, seinen künstlerischen Durchbruch. Allerdings gastierte der reiseängstliche Valentin sehr selten auswärts. Wien und Zürich können ein Lied davon singen. Der Legende nach verlangte Valentin ein eingleisi-
ges Bahngleis nach Augsburg, um einen Zugzusammenstoß zu verhindern; die Straßenbahn be-
nützte er nur per »hinterer Plattform«, aus Sicherheitsgründen. Sein Vortrag vom Hausverkauf ahnt in grotesker Form das Grauen der Luftangriffe auf Großstädte voraus – er will aus Sicher-
heitsgründen in ein Bergwerk umziehen!

Hypochondrisch veranlagt, von wirklichen und eingebildeten Krankheiten gepeinigt, verbrachte er sein Leben in seiner Stadt. Raubritter vor München: »Unser Stadt? Dö ghört ja gar net uns! Aber man sagt halt so!« Er liebte sie, er sammelte alles, was sich aus ihrer Vergangenheit auffinden ließ, und er schaute den Münchnern aufs Maul, seine Stücke sind ebenso münchnerisch wie sie interna-
tional sind. Victor Mann hat Recht, wenn er feststellte, daß Valentins Publikum zu seiner Zeit nur aus Studenten und einer Handvoll treuer Anhänger bestand. Heute ist es erstaunlich, wie seine Werke Kinos füllen, wie seine Bücher zu Bestsellern werden, wie die Schallplattenindustrie sich be-
müht, das Rennen mitzumachen – mit Erfolg: der »Buchbinder Wanninger« ist Plattenmillionär. Man ist daran, Stücke Valentins in Englische zu übersetzen, man spielt ihn in Paris und auf italie-
nischen Bühnen, und sein gesamtes Filmmaterial besitzt das Moskauer Film-Museum.

Es ergeht ihm wie weiland Nestroy, dessen Stücke uns nach 150 Jahren noch unverstaubt vorkom-
men und an deren achtundvierziger Glanz man sich noch heute erfreut. Wird auch Valentin eine Schlüsselfigur? Wird er zum Gleichnis dieser sehr anzweifelbaren »Goldenen zwanziger Jahre«? Jedenfalls freut man sich über seinen Witz, der festgefügte Meinungen und zweifelhafte Einrich-
tungen kritisch zernagt, durch blödsinnig-tiefsinnige Fragerei durchlöchert und ihrer Hohlheit überführt. Kommt sein Witz, aus Tagen, die doch längst vorüber sind, bei jungen Menschen des-
halb so an, weil sein todernster Humor die Widersprüche unserer heutigen Gesellschaftsordnung entdecken hilft?

Die klassische Literatur Spaniens gebar den Don Quichote. Der idealistisch-überspannte Held wird von seinem Sancho Pansa immer auf den Boden der Wirklichkeit zurückgeholt, immer zu spät, weil er unbelehrbar ist. Valentin hat viele ähnliche Figuren auf die Bretter gestellt. Liesl Karlstadt, alias Sancho Pansa, hat alle Hände voll zu tun, um ihren Ritter vom traurig-schönen Text aus dem Ge-
dankendschungel heraus zu führen. Er kann sich mit der behördlich genehmigten Vernunft nicht abfinden, er rüttelt an den morschen Piedestalen festgefügter Meinungen, bis sie umstürzen. Selbstverständlich liegt er unter den Trümmern. Alles ist unsicher, was diese Gesellschaft betreibt! Warum, so fragt Valentin, fährt man nicht gleich mit dem Rettungsboot, wenn es schon Schiffsun-
tergänge gibt? Valentins Gestalt ist es nicht allein, was ihn mit Don Quichote vergleichbar macht. Nur die Wachsnase macht ihn noch nicht komisch. Die Abseitigkeit seines Humors ist es. Und die bringt ihn auch in die Nähe eines anderen spanischen Romantyps, des Lazarillo. Der Schelm, der »Picaro« (: Specht) – er pickt alles auf, was für ihn als Hungerleider erreichbar ist. Auch ihn gibt es unter den Figuren, die Valentin erfand.

Klägliche Bittsteliler, die nach mißglücktem Pumpversuch beim Herrn Millionär noch Kostenrech-
nungen zu erwarten haben. Armselige Musiker, die durchlöcherte Hosen und sonst nichts haben (»das Löcherl ging schon heraus, mit Benzin«). Kleine Handwerker die er davon träumen läßt, daß eine Zeit kommt, in der man kein Geld mehr braucht (»i kenn scho oa, de heut schon keines mehr haben«). Wie Lazarillo, so Valentins Figuren: Erbärmlich bis niederträchtig, unfein, tapfer und feige (»tat’s de Du fürchten, wenn Raubritter kämen? I net, außer sie kammatn!«).

Valentin, der negative Held, hatte in den Jahren des Faschismus selbstverständlich keinen Platz finden können. Resigniert bastelte und schrieb er Szenen, die keiner haben wollte. In einer stellte er die Frage: »Unser tägliches Brot gib uns heute – und wer bekommt das Fleisch?« Solche Fragen waren natürlich nicht erwünscht, Desillusion war nicht gefragt. Immer wieder versucht Valentin seinen Figuren die Möglichkeit zu verschaffen, der unwahren Wirklichkeit die Maske vom Gesicht zu reißen, aber die Tücke des Objekts bringt sie stets zu Fall. Der Manegen-Clown, Valentins Erfin-
dungen sehr verwandt, zieht sich nach Erhalt der Prügel heulend zurück unter dem unbarmherzi-
gen Gelächter eines mitleidlosen Publikums – Valentin antwortet seinem Widersacher: »Der Gscheitere gibt ja net nach!« Seine Angriffe auf die satten Typen in dem Stück »An Bord« muß man einfach nachlesen! Kathederwissen wird hier zu Fall gebracht, Dumpfheit, Arroganz und Überheblichkeit werden beispiellos attackiert. Symbolgröße erreicht seine Hauptfigur, der Arbeiter Kammerloher, wenn er, dem Hilfe gebracht werden soll, dem Helfer selbst zu Hilfe kommt.

Die Hohlheit und Verlogenheit bürgerlicher Geschichtsforschung glossiert Valentin großartig in »Der Trompeter von Säckingen«. Der sei ein ganz einfacher Mann gewesen, nur mit dem Unter-
schied, daß er eine Trommel trug, die ihm im dreißigjährigen Krieg ein böser Hunnensoldat aus der Hand schlug. Er freut sich, daß der Kaiser Ludwig ein Lied nicht mehr gehört hat, das er und die Liesl Karlstadt anläßlich des Einzuges-Umzuges-Durchzuges durch das Isartor anläßlich des Umstandes der Schlacht von Mühldorf gemacht haben. Biedermeierliche Wachtposten unterhalten sich über Raubritter, die innen hohl sind – Rüstungen im Nationalmuseum – und stellen fest, es habe damals noch keine Bananen gegeben. Sollte man diese Texte nicht dem bayerischen Kultus-
ministerium empfehlen, für den sowieso schon so skurrilen Geschichtsunterricht?

Valentins Sketche sind jeder Feierlichkeit abhold, liefern unverblümte Wahrheiten im Kostüm des Hanswurst. Auf dem Grunde seiner kleinbürgerlichen Seele geistern proletarische Vorstellungen, die ihn zu seiner merkwürdigen, skeptischen Art »lustig« zu sein drängen.

Er sägt an dem Ast, auf dem er sitzt, würde Kästner sagen, und er führt einen aussichtslosen Kampf gegen ein übermächtiges Geschick, dem seine Ungeschicklichkeit nicht gewachsen ist. Im »Buchbinder Wanninger« spricht er das große Schlußwort nach vergeblichem Bemühen, Anschluß an diese gewaltige Maschinerie moderner Betriebsnudelei zu finden: »Bitte-Danke! Saubande!!«. Wem spricht Valentin hier nicht aus der Seele? Er verschreibt sich einer heiteren Idiotie, mißtraut sich selbst, resigniert mißmutig und freut sich diebisch über seine Feststellung, »daß die Zukunft auch besser war – früher!«. Er läßt sich nicht davon abbringen, daß manches Sprichwort der Abän-
derung bedarf: »Ernst ist das Leben – heiter kunnt’s sei.«

Was die Zeichnungen Heinrich Zilles über das Berliner Proletariat hinterlassen, das gelingt den Stücken Valentins in Hinsicht auf das bäuerlich gründerzeitliche München, das verschlafen Groß-
stadt spielte. Valentin stellt uns die Kleinbürger dieser Ära ans Licht, er stellt sie uns in ihrer Hilf-
losigkeit vor. Thomas Mann nennt diese Stadt »eine der Kriegervereinsaufmärsche«; Valentin bringt Soldatentypen, die den krassen Blödsinn dumpfer Kasernenatmosphäre von der Bühne herunter singen; er läßt Dreiquartlprivatiers über Politik sprechen, daß ein Pallenberg noch von ihnen lernen könnte: »Vostehst nix von Politik!«

Die Frage wäre zu stellen: Wie weit ist er weg von Grimmelshausen, von Le Sages Gil Blas, von Thomas Manns Felix Krull? Kann er Ausgangspunkt sein für eine ganz neue Art der humoristi-
schen Literatur?

Die Quantität läßt die Qualität seiner Werke nicht absinken; mit Ausnahme einiger mißglückter Versuche, in das Schlagergeschäft einzusteigen – ein Münchner Verleger verleitete ihn dazu.

Die Nachwelt flicht dem Mimen keine Kränze. Valentin bekam sie geflochten Generationen später, erst die »Nachwelt« entdeckte ihn und widmete ihm sogar ein Musäum in München, im Isartor-
turm.

Hannes König

{seit Jahrzehnten spezialisiert auf Malen, Volkstheatermachen, Kunstsammeln, Schreiben und einiges mehr, leitet das von ihm gegründete Valentin-Musäum im Münchner Isartor}


kürbiskern. Literatur, Kritik, Klassenkampf 3/1976, 60 ff.

Überraschung

Jahr: 1976
Bereich: Gedenken