Materialien 1976

Freie Theatergruppen

… Dietmar N. Schmidt schreibt in der Frankfurter Rundschau vom 3.4.76 unter der Überschrift »Prügelknaben und anderes Theater«: »So kann es gehen. Von den vier Premieren, die dieser Theaterbrief zusammenfaßt, lassen sich drei in einen Absatz drängen. Sie haben, immerhin Pro-
duktionen großer Häuser, auf mehr Ausführlichkeit keinen Anspruch.« Darauf folgt in einem Ab-
satz die Besprechung von Premieren in den Münchener Kammerspielen, im Gärtnerplatztheater, im staatlichen Residenztheater, danach eine ausführliche Rezension der »Prügelknaben« vom theater k. Was sind das alles für unliebsame Theatergruppen? Wo kommen sie her? Was machen sie? Was wollen sie?

Zitieren wir aus der Pressemitteilung des 2. Seminars Freier Theatergruppen vom 2.9.73: »Wie bei der Münchener Volkstheaterkooperative sind die politischen Grundsätze der Gruppen: die gewerk-
schaftliche Orientierung der Öffentlichkeitsarbeit, eine antimonopolistische Strategie, die soziali-
stische Zielsetzung der Arbeit, die Unterstützung der organisierten politischen Praxis durch die Gruppenarbeit.«

Ihren Ursprung haben die Freien Theatergruppen sicher in den studentischen Straßentheatern, die 1968 die Aktion gegen die Verabschiedung der Notstandsgesetze mit theatralischen Mitteln unter-
stützten. Entstanden sind sie aus der politischen Praxis; die beiden ältesten arbeiten seit 1970: das Dortmunder Lehrlingstheater wertete mit dem Stück »Alle Räder stehen still« die September-
streiks von 1969 aus. Das theater k ging in München mit »Lehrlingsübungen« zusammen mit der SDAJ auf die Straße und schloß sich mit dem »Mietenmonstrum« den Münchner Mieterprotesten an.

Wo spielen Freie Theatergruppen? Statt einer Erklärung ein Auszug aus dem Tourneeplan des the-
ater k
mit »Prügelknaben«: Schorndorf, Jugendzentrum; Mannheim, Jugendzentrum; Heidelberg, Pädagogische Hochschule; Darmstadt, Gasthaus zur Goldenen Krone; Wiesbaden, Staatstheater; Ulm, Volkshochschule – DGB; Dortmund, Festival der Jugend; Essen, Falken; Essen, Jugendzent-
rum; Essen, Evangelische Jugend; Köln, IG Metall; Düsseldorf, Freizeitheim Garath; Dortmund, DGB; Sonthofen, Falken; Rott, SDAJ; Ansbach, SDAJ; Greding, Naturfreunde; Recklinghausen, Junges Forum der Ruhrfestspiele; Erlangen, Internationale Theaterwochen, usw.

Ökonomische Probleme sind natürlich ganz erheblich. Es gibt bis heute keine freie Theatergruppe, die in der Lage wäre, von ihrer Theaterarbeit zu existieren; viele haben sich dies allerdings zum Ziel gesetzt, um noch kontinuierlicher, qualifizierter und wirkungsvoller arbeiten zu können. Was kostet es denn, so ein Theater zu machen?

Vom Zeitaufwand abgesehen – hier eine Aufstellung des Nötigsten: ein Bus (ca. 6.000 DM), ein Bühnenpodest (ca. 6.000 DM), eine einfache Lichtanlage (ca. 3.000 DM), eine einfache Tonanlage (ca. 3.500 DM). Die Produktionskosten für eine Inszenierung betragen je nach Größenordnung zwischen 500 und 6000 DM. Laufende Kosten wie Versicherungen, Reisespesen, Reparaturen etc. kommen noch hinzu. Texte, Stücke, ganze Produktionen werden in der Regel von den Theater-
gruppen selbst erarbeitet. Das erfordert im Schnitt einen Arbeitsprozeß von zwei bis vier Monaten, darin sind eingeschlossen: Die Materialsammlung zum Thema, Schulungsabende mit den Grup-
penmitgliedern zur Vorbereitung der Diskussionen nach den Aufführungen, Gespräche mit Ju-
gendlichen und Jugendorganisationen zur Vorbereitung des Stücks, schließlich die Herstellung der Fabel, des Textes und die Probenarbeit bis zur Premiere. In einigen Fällen arbeiten die Gruppen auch mit Autoren zusammen oder schreiben – wie das theater k – einen Autorenwettbewerb aus.

Trotz aller Versuche der politischen Rechten, in Stadträten und der Staatsbürokratie, die Arbeit der Freien Theatergruppen einzuschränken oder zu verbieten, ist die Bewegung der Freien Theater-
gruppen heute in einem Stadium der Konsolidierung und Verbreiterung.

Wolfgang Anraths

{Wolfgang Anraths, geb. 1942, Studium der Archäologie und Epigraphik, 1963 Ausgrabungen in Pergamon, 1964 – 67 Germanistik und Theaterwissenschaft, 1964 – 66 Leiter der Studiobühne Uni München, 1968 – 70 im Schauspiel München, Fernseharbeit, 1968 – 70 Straßentheater, ab 1970 Leiter des theater k, München}


kürbiskern. Literatur, Kritik, Klassenkampf 3/1976, 70 ff.

Überraschung

Jahr: 1976
Bereich: Kunst/Kultur