Materialien 2022

Preisverleihung für Wolfram Kastner »Aufrechter Gang«

Preisverleihung der Humanistischen Union am 12. Juni 2022

Antisemitismus, Rechtsradikalismus und Nationalismus waren und sind in wechselnder Intensität und Quantität in Deutschland auch nach 1945 immer vorhanden, das wurde in der Ausstellung zum Rechtsextremismus in Deutschland „Nie wieder–Schon wieder–Immer noch“ nachdrücklich belegt. Geredet und geschrieben wird gegen und über diese Auswüchse von Dummheit, Intoleranz und Vorurteilen landauf landab, aber einprägsamer als Vorträge, Talkshows und Artikel sind Handlungen. Zu den wenigen, die permanent und seit Jahrzehnten handeln, die gegen Extremis-
mus mit Aktionen intervenieren, die auf die Wurzeln rechten Denkens zeigen, die die Spuren von Unrecht und Verbrechen sichtbar machen, die kontaminierte Orte mit öffentlich ablesbarer Erin-
nerung besetzen, die Verdrängtes buchstäblich wieder vor Augen führen, und die mit ihrem Vor-
bild somit zu eigenem Handeln anregen, zu diesen wenigen zählt Wolfram Kastner.

Der britisch-amerikanische Historiker Tony Judt hat die europäische Nachkriegsgeschichte als eine „Lebensform des Vergessens“ bezeichnet. Dieses besonders in Deutschland gepflegte Verges-
sen und Verdrängen wirkt provozierend auf Kastner, der deshalb von sich sagt „Nicht ich provozie-
re, sondern die Zustände provozieren mich.“ Er reagiert auf diese Zustände des Verdrängens wie auch des latenten oder offenen Extremismus mit den Mitteln des Künstlers, mit Aktionen und Interventionen. Da die Anlässe ärgerlich, beschämend, hässlich und peinlich sind, zeigt er auch direkt auf das Hässliche, das ihn provoziert, verweist nicht verschämt, sondern deutlich, öffentlich und zum Teil drastisch darauf – zum Beispiel auf die unsäglichen Sprüche auf Kriegerdenkmälern, die zu hunderten noch überall in Deutschland Nationalismus und Heldentod fürs Vaterland predi-
gen und damit Gewalt und Intoleranz in die Gegenwart tragen; er verweist auf die immer noch ge-
läufigen Ehrungen der SS, einer Kriegsverbrecherorganisation, die Massenmorde im rassistischen Vernichtungskrieg und in den Lagern verübte; er verweist auf die widerwärtigen Darstellungen der sog. Judensau an christlichen Kirchen und damit auf die Ursprünge des religiösen Rassismus, und er zeigt mit blutroter Farbe auf das Jodl-Kenotaph, das Ehren-Leergrab für einen Kriegsverbrecher unter dessen Leitung der Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion ausgearbeitet und durchge-
führt wurde, der zum Tod und zur Ermordung von 27 Millionen Sowjetbürgern führte.

Wolfram Kastner macht Orte, an denen in Rassismus und Verbrechen eingeübt wurde, wieder sichtbar – zum Beispiel durch den Brandfleck am Königsplatz, wo am 10. Mai 1933 im Vorgriff auf die physische Vernichtung die Werke von Andersdenkenden verbrannt wurden. Durch nachah-
mende Aktion wird von ihm ein historisches Ereignis auf verfremdete Weise eindringlich wieder sichtbar gemacht, das ist das genaue Gegenteil der lächerlichen Bodenplatte mit Buchtiteln ohne Verfassernamen, die im vergangenen Jahr im Auftrag des Kulturreferats der Landeshauptstadt buchstäblich im Kies des Königsplatzes versenkt wurde.

Kastner macht Verdrängtes sichtbar: durch Hinweise in der juristischen Fakultät der Universität, dem Ort der ehemaligen Legitimation des Mordens; durch eine von ihm initiierte Gedenktafel im Alten Rathaus, wo am 9. November 1938 von Goebbels zu den Pogromen in ganz Deutschland aufgerufen und der Holocaust gleichsam in Gang gesetzt wurde. Er erinnert an die verschleppten und ermordeten jüdischen Münchner Bürger mit namentlich bezeichneten weißen Koffern vor deren Wohnungen, von denen sie deportiert und dann in Vernichtungslagern ermordet wurden; er macht den Leidensweg nach Dachau, zum Mörderlager vor den Toren Münchens nachvollziehbar, indem er die Dachauer Straße als Exempel für eine deutsche Straße des Vergessens durch eine Aktion Schritt für Schritt bis zum Konzentrationslager wieder ins Bewusstsein hebt. Und Kastner zeigt die Leerstellen im Gedächtnis der Stadt auf, indem er einen Platz mit Stelen für ermordete und vergessene Widerstandskämpfer initiiert, und indem er immer wieder an Kurt Eisner, den schon nach zweieinhalb Monaten Amtszeit ermordeten ersten Ministerpräsidenten erinnert, der Bayern in einer friedlichen Revolution aus der Monarchie in einen demokratischen Freistaat ge-
führt hat, und dem bis heute nicht einmal ein angemessener Platz, sondern nur eine Nebenstraße in der Neubauwüste von Neuperlach gewidmet ist.

Wolfram Kastner macht somit, wie Jochen Gerz einmal schrieb, „eine gute Arbeit für alle, die lieber nicht anecken und Rücksicht auf dieses und jenes nehmen“, die sich nicht öffentlich bekennen wollen. Gerz erklärte deshalb: „Sollten wir nicht manchmal einfach einem wie ihm danke sagen?“ Als ich beim Abschied aus dem NS-Dokumentationszentrum als Dank für Kastners Arbeit und seine Hilfe bei der Realisierung dieses von der Politik jahrzehntelang verhinderten Erinnerungs-
orts, der erst eine Generation später als in anderen Städten eröffnet werden konnte, zusammen mit zwei Journalisten der SZ eine Publikation zu seinen Werken und seinem Wirken herausgab, schrieb ich zur Einführung: „Wenn es darum ginge, den Künstler auszuzeichnen, von dem in Bayern die meisten und stärksten Anstöße zum Nachdenken über die NS-Zeit und zur kritischen Auseinandersetzung mit den Nachwirkungen des Regimes ausgingen, dann müsste Wolfram Kastner mit Ehrungen überhäuft werden. Wenn es darum ginge, die Person zu benennen, die seit Jahrzehnten aus eigenem Antrieb und auf eigene Kosten unermüdlich ihre Mitbürger mit den verdrängten, aber doch noch vielfach vorhandenen geistigen und materiellen Relikten der NS-Zeit konfrontiert, dann müsste an erster Stelle Wolfram Kastner genannt werden. […] Leider ist dem nicht so. Wolfram Kastner wurde noch nie in Bayern ausgezeichnet, und seine Leistungen werden, von Ausnahmen abgesehen, bestenfalls hin und wieder als gelungene Provokationen anerkannt.“

Das schrieb ich vor vier Jahren und darum freue ich mich ganz besonders, dass die Humanistische Union heute danke sagt, und dass Wolfram Kastner mit dem Preis der Humanistischen Union „Aufrechter Gang“ geehrt wird. Er hat ihn wahrlich verdient und Ernst Bloch, der diesen Begriff als Auszeichnung für kritisches Denken und engagiertes Handeln in seinen Schriften geadelt hat, wäre sicher genauso begeistert wie ich über die Wahl dieses würdigen Preisträgers.

Aufrechter Gang ist ein Zeichen und Zeugnis für den Mut, die Wahrheit oder einfach das, was man für wahr hält, öffentlich zu sagen. In der Antike gab es dafür einen eigenen Begriff, Parrhesia, den Michel Foucault erst vor einigen Jahren wieder ins Bewusstsein brachte. Dieser Mut provoziert alle diejenigen, die sich wegducken, buckeln und blind stellen, und er bestärkt diejenigen, die sich ge-
gen Unrecht aufrichten wollen. Aufrechter Gang ist in jeder Gemeinschaft ein wichtiges Zeichen, ein Beispiel dafür, dass man sich auch anders und gegen den Gesinnungsdruck von Mehrheiten verhalten kann. Kastner gibt dieses Beispiel der Parrhesia als Künstler, indem er Wahrheiten künstlerisch ausspricht und damit diese erst sichtbar und begreifbar macht. Zu den eindringlichen künstlerischen Mitteln, mit denen er arbeitet, gehört die bewusst theatralische, reflektierte Nach-
ahmung historischer Vorgänge – Kaspar König nannte diese Art von Kunstaktionen treffend „Erin-
nerungsaufführungen“. So gingen Kastner und vier weitere Personen mit einem Judenstern am Mantel und begleitet von zwei Personen in SA-Uniform am 9. November 1993 vom Polizeipräsidi-
um in der Ettstraße durch die Neuhauser und Kaufinger Straße. Sie ahmten das nach und führten das vor Augen, was einige Jahrzehnte vorher jeder in Deutschland hatte sehen können. Ähnlich kniete er am 10. November 2005 mit neun weiteren Personen auf der Kärntner Straße in Wien und schrubbte das Pflaster, in nachahmender Erinnerung an die Wiener Juden, die im März 1938 nach dem sog. Anschluss Österreichs zu dieser Aktion gezwungen wurden. Was vor aller Augen geschah, wurde wieder vor Augen geführt und damit eine Reaktion bei den Zeitgenossen herausgefordert, wie sie nur durch diese direkte nachahmende Konfrontation möglich ist.

Der Kunsthistoriker Detlev Hoffmann hat diese Art des Arbeitens einmal klug analysiert: „Die Kunst [Kastners] organisiert soziale Prozesse, in denen Mentalitäten beschreibbar werden, die sich, bis sie in diesen Prozess verwickelt wurden, nicht zu zeigen brauchten. Kunst macht somit Unsichtbares sichtbar. […] Die Kunst Wolfram Kastners kann, was die Wissenschaft nicht kann, [sie kann] bis zur Kenntlichkeit entstellen. Sie kann durch Provokation das sichtbar machen, was gerne bestritten wird.“

Die Reaktionen der Zuschauer und der Behörden sind deshalb direkter und integraler Bestandteil des von Kastner geschaffenen sozialen Kunstwerks. Von einem Bild kann man sich abwenden, einem Vortrag braucht man nicht zuzuhören, aber bei der Aktion von Kastner zum 9. November, zum März 1938 oder zum Konkordat mit einer Inszenierung des Pakts zwischen dem Papst und Hitler, die als Figuren auftreten, bei solchen Aktionen werden die Zuseher wie auch die einschrei-
tenden Polizisten zu mitwirkenden Akteuren, denn ihre Reaktionen, auch das Wegsehen oder Verhaften der Akteure, sind Bestandteil der aufklärenden Erinnerungsaufführung. Raul Hilberg hat in einer großen Studie über „Täter, Opfer, Zuschauer“ die Zusammenhänge und Interdepen-
denzen zwischen diesen drei Gruppen aufgezeigt und er hat darauf hingewiesen, dass die Struktu-
ren, in denen Verwaltungen weisungsgebunden arbeiteten, die Basis für eine Maschinerie der Vernichtung bildeten. In den Aktionen und sozialen Kunstwerken von Wolfram Kastner werden die Mechanismen der Macht, der Verdrängung und des Wegschauens sichtbar, und jeder wird aufgefordert, sich mit den von diesem aufrechten Künstler offengelegten Mechanismen auseinan-
derzusetzen.

In „Naturrecht und menschliche Würde“ schrieb Ernst Bloch: das Zielbild im Naturrecht ist auf-
rechter Gang, menschliche Würde, Orthopädie des aufrechten Gangs, also kein gekrümmter Rücken vor Königsthronen, sondern Entdeckung der menschlichen Würde, die nicht aus den Ver-
hältnissen abgeleitet wird, denen man sich anpasst, sondern von dem neuen stolzen Begriff des Menschen als einem nicht kriecherischen, sondern einem Wesen mit hoch erhobenen Kopf.

Von Wolfram Kastner, der jahrzehntelang trotz Verleumdungen, Strafanzeigen, Verhaftungen und Prozessen, trotz Enttäuschungen durch das Verhalten von Behörden und Amtsträgern und durch Urteile gegen ihn, unbeugsam den Kopf erhoben hielt und immer wieder unbequeme Wahrheiten sichtbar machte, von ihm können wir lernen, wie aufrechter Gang einer Gemeinschaft helfen kann, sich gegen Amnesie und Antisemitismus, gegen Extremismus und Nationalismus zu schützten und zu wehren. Der Preis der Humanistischen Union ist deshalb wie für ihn geschaffen.

Lieber Herr Kastner, herzlichen Glückwunsch!

Prof. Winfried Nerdinger
(Präsident der Bayerischen Akademie der Schönen Künste)


zugeschickt am 14.6.2022

Überraschung

Jahr: 2022
Bereich: Kunst/Kultur