Materialien 1966
Parteienoligarchie
… Die Wahlen bringen nur unwesentliche Verschiebungen in die verhältnismäßige Größe der Parteien, die insgesamt die Oligarchie bilden. Alle vier Jahre aber heißt es: Das Volk hat gewählt, das Volk kann gehen.
Es gibt, wie immer in parlamentarischen Demokratien, die Ämterpatronage in großem Umfang. Wie weit sie sich heute schon auf unpolitische Berufe bezieht, läßt sich statistisch nicht ermitteln. Es kommt vor, daß ein Krankenhausarzt, um Chef einer städtischen Klinik zu werden, der Partei beitritt, die in dieser Stadt regiert. Bei einer Allparteien-Regierung würden die unpolitischen Äm-
ter, soweit sie vom Staat, vom Land, von der Gemeinde oder von der Stadt abhängig sind, nach einem Schlüssel verteilt werden, so wie jetzt manchmal nach der Zahl der Mitglieder der religiösen Konfessionen. Bei einer Allparteien-Regierung brauchen die Angehörigen vieler Berufe immer mehr ein Parteibuch, gleichgültig welches. Die Partei sorgt für sie. wer kein Parteibuch hat, wird benachteiligt. Je mehr Berufe vom Staat abhängig sind, desto mehr Mitglieder werden die herr-
schenden Parteien haben. Parteimitgliedschaft wird zum unumgänglichen Mittel der privaten Laufbahn. Am Ende stünde die Parteimitgliedschaft aller Staatsangehörigen.
… Wir charakterisieren die Parteienoligarchie. Sie bewahrt zunächst eine Vielheit der Parteien so-
wohl gegen das Einparteiensystem der Diktatur wie gegen die freie Parteienbildung einer lebendi-
gen Demokratie. Sie schafft die autoritäre Regierung durch eine Minderheit der Staatsbürger, die sich selbst zu Politikern, einem aussichtsreichen Job, ernannt haben. Diese in sich jeweils ge-
schlossene Minderheit beherrscht die überwältigende Mehrheit des Volkes.
Der Wille der echten Demokratie, in der sich die republikanische Verfassung der Freiheit konstitu-
iert, würde sich zuerst an die Besten, die Denkenden, die Urteilsfähigsten, die Sehenden, in der Tat an eine Minorität wenden, aber an eine solche, die die politische Aristokratie im Wortsinn, nicht im Sinne von Geburt und Herkunft, wäre. Demokratie ist ihrem Sinn nach zugleich aristokratisch. Von dieser sich ständig erneuernden Aristokratie geht der Einfluß auf die Umgebung, beginnend in den kleinsten Kreisen, schließlich auf die gesamte Bevölkerung. Man muß das Volk nur freilassen, es nicht in Parteien an Ketten legen und nicht an die Stelle des Volkes die Masse setzen, etwas Durchschnittliches, zu Manipulierendes.
Die Parteienoligarchie dagegen wendet sich unmittelbar an die Massen. Sie spielt die Anonymität der großen Zahl gegen jeden Einzelnen aus. Sie hat es mit der Mehrzahl zu tun, aber wesentlich nur bei den Wahlen. Bei ihnen wird nicht über die schon fest bestehende, aber verborgene Solidarität der Parteienoligarchie entschieden, sondern nur über den verhältnismäßigen Anteil der Parteien an ihrem Familienbesitz, dem Staat. Wie der Wahlkampf geführt wird, an welche Instinkte er sich wendet, das charakterisiert diese Herrschaft.
Demokratie heißt Selbsterziehung und Information des Volkes. Es lernt nachdenken. Es weiß, was geschieht. Es urteilt. Die Demokratie befördert ständig den Prozeß der Aufklärung.
Parteienoligarchie dagegen heißt: Verachtung des Volkes. Sie neigt dazu, dem Volke Informationen vorzuenthalten. Man will es lieber dumm sein lassen. Das Volk braucht auch die Ziele, die die Oli-
garchie jeweils sich setzt, wenn sie überhaupt welche hat, nicht zu kennen. Man kann ihm statt dessen erregende Phrasen, allgemeine Redensarten, pompöse Moralforderungen und dergleichen vorsetzen. Es befindet sich ständig in der Passivität seiner Gewohnheiten, seiner Emotionen, seiner ungeprüften Zufallsmeinungen.
Die gemeinsame Schamlosigkeit der Parteienoligarchie spürt sich selber nicht. Die Parteienoligar-
chie fordert vielmehr Respekt, zumal die jeweils führenden Amtspersonen, die Kanzler, Minister, Präsidenten. Wir alle, denken sie, sind doch Vertreter des Volkes, wir können doch nicht schamlos sein. Wir sind durch die Wahl des Volks geheiligt. wer uns beleidigt, beleidigt das Volk. Kraft unse-
rer Ämter haben wir die Macht und den Glanz, der uns zukommt.
Karl Jaspers, Wohin treibt die Bundesrepublik? Tatsachen. Gefahren. Chancen, Stuttgart/Ham-
burg 1966, 139 f.