Materialien 1949
Technik ist heute
… ein Hauptelement des politischen Zustandes. In der Welt, in der Gott als tot galt und der Nihi-
lismus triumphierte, konnten bedenkenlose Menschen gerade durch ihren faktischen Nihilismus zur Führung gelangen. „Neandertaler mit Technik.“ Durch sie wurden ungezählte Menschen, dem Anspruch der Gewalt mit rätselhaftem Unterwerfungsdrang entgegenkommend, unter uneinge-
schränkte Vergewaltigung gebracht. Terror, Foltern, Deportationen, Ausrottungen, das gab es zwar seit Assyrern und Mongolen, aber ohne das Ausmaß der heutigen technischen Möglichkeiten. Die Staatenlosen, die Internierten, die Herumgewirbelten, die von heute auf morgen leben müssen, ohne Horizont eines Lebensplans und ohne Kontinuität eines Lebensgehalts, die sich einen Augen-
blick anschließen und dann wieder losgerissen werden, die auf der ganzen Welt und nirgends zu Hause sind, sie alle scheinen ein Symbol für den Weg der Menschenwelt in die Bodenlosigkeit. Sie sind preisgegeben an die politischen Apparate, die etwa so aussehen: Es operieren Funktionäre einer erbarmungslosen Bürokratie; der Mensch ist das Papier, das als Ausweis, Legitimierung, Ver-
urteilung, Klassifikation ihm seine Chancen gibt, ihn beschränkt, ihn auslöscht; Widerstände häu-
fen sich bis zur Sinnlosigkeit und lösen sich einmal plötzlich; unberechenbare Eingriffe verfügen über Dasein, Arbeit und Lebensweise der Menschen. Will man wissen, wer es befiehlt, so ist keine Stelle zu erreichen. Es scheint niemand da zu sein, der die Verantwortung trägt.
Vor der Drohung für alle, in solchem Apparat zermahlen zu werden, gibt es kein Entrinnen. Es ist heute nicht nur sittlich, sondern faktisch unmöglich, in die Einsamkeit zu gehen, in die Wälder, in die Wüste; man kann nicht auswandern in andere Länder, um eine neue, bessere Gemeinschaft zu begründen. Was aus dem Menschen wird, das hängt von ihm selber ab in der ihn umgebenden Wirklichkeit, aus der er nicht heraus kann und aus der durch sein Handeln der kommende politi-
sche Zustand stabilisiert wird. Man kann nicht mehr gleichgültig gegen Politik sein. Jeder, der wirklich mitlebt, muß sich entscheiden im Ringen um die kommende politische Wirklichkeit.
Denn Freiheit ist nie wirklich als Freiheit bloß Einzelner. Jeder Einzelne ist frei in dem Maße, als die Andern frei sind …
Karl Jaspers, Über Bedingungen und Möglichkeiten eines neuen Humanismus. Drei Vorträge, Stuttgart 1962, 33 f.