Materialien 2002

Andere feuern, selbst feiern

Da fiel der Aufsichtsrats-Vorsitzende Baumann aus seiner Rolle des cool-geschnie-
gelten Hauptversammlungsleiters: „Bleiben Sie sachlich“, herrschte er den Diskus-
sionsredner an, „Sie sind hier nicht auf einer Betriebsversammlung, wo die IG Metall das Wort setzt.“

Wolfgang Müller war durchaus sachlich, doch die Sache selbst passte dem AR-Boss nicht. Der Be-
zirkssekretär der IG Metall hatte sich auf der Siemens-HV zu Wort gemeldet und darauf hingewie-
sen, dass die Realeinkommen der Siemens-Beschäftigten im vergangenen Jahr gesunken seien. In einem solchen Geschäftsjahr, das vom Vorstand als sehr schwierig eingestuft wurde, habe sich der Zentralvorstand sein Gehalt, also den fixen Anteil seiner Vergütung um 27,5 Prozent erhöht (pro Vorstandsmitglied sind es sogar 39 Prozent mehr). „Bedenken Sie, welche Signale dadurch gesetzt worden sind“, erklärte Müller. „Unseriös“ keifte der AR-Boss und wies darauf hin, dass die variab-
len, gewinnabhängigen Bestandteile der Vorstandsvergütung um 58 Prozent gesunken seien (aller-
dings weit weniger als der Gewinn zurückgegangen war). Müller bedankte sich für den Hinweis und schlug vor, dieses Modell für alle Siemens-Beschäftigten anzuwenden: „In guten Zeiten erhö-
hen Sie den variablen Anteil der Mitarbeiter kräftig und in schlechten Zeiten wie heute, den fixen Anteil, also die Löhne und Gehälter um 27 Prozent.“

Die „unsichtbaren Hände“ der Märkte

Der Diskussionsbeitrag war dem Siemens-Top-Management auch deshalb peinlich, weil Vor-
standsboss von Pierer kurz davor gegen die „überzogenen“ Lohnforderungen der IG Metall ge-
wettert hatte: „Ich halte diese Forderung, gelinde gesagt, für realitätsfremd.“ Das Argument mit der Kaufkraftsteigerung komme ihm so vor, „wie wenn es Münchhausen gelungen wäre, sich am eigenen Zopf aus dem Sumpf zu ziehen“. Er blieb allerdings die Antwort schuldig, von wem denn die 50.000 Siemens-Produkte alle gekauft werden sollen. Wahrscheinlich von der „unsichtbaren Hand“ der Märkte.

„Der Siemens-Vorstand predigt Sparen und erhöht seine Fixbezüge 2001 um 27,5 Prozent auf ins-
gesamt 5,1 Millionen Euro“, hieß es in einem Flugblatt, das die IG Metall vor der Münchner Olym-
piahalle am Tag der Hauptversammlung verteilte. Zusammen mit den variablen Bezügen und den Aktienoptionen für den Vorstand – deren Marktwert um fast 60 Prozent gestiegen war – kassiert der Vorstand 17 Millionen Euro. Pro Vorstandsmitglied sind das 1,55 Millionen Euro pro Jahr. Das sind zwar knapp 14 Prozent weniger als im Geschäftsjahr 2000 aber immer noch 55 Prozent mehr als 1999 (l Million Euro).

Das teuerste Aufsichtsratsgremium

Die Aufgeregtheit des Aufsichtsratsvorsitzenden in Sachen „Vergütung“ hatte noch einen weiteren, gewissermaßen persönlichen Grund. Der Aufsichtsrat hatte bei seinen Tantiemen von 1999 auf 2000 im Zuge der Euro-Umstellung den bisherigen DM-Betrag einfach 1:1 auf Euro umgestellt und dann noch hundert Prozent draufgeschlagen. So betrugen im Geschäftsjahr 2000 die Gesamtver-
gütungen für das Gremium 3,6 Millionen Euro gegenüber 0,9 Millionen Euro im Jahr davor. Jedes AR-Mitglied kassierte damit für die fünf Sitzungen im Jahr 180.000 Euro – das teuerste Aufsichts-
gremium der Republik. 2001 waren es zwar wegen des Rückgangs der variablen Bestandteile pro Mitglied „nur“ noch 105.000 Euro, aber Henkelmann und Stullen mussten die Räte deshalb nicht unbedingt zu den Sitzungen mitbringen.

Klima von Hexenjagd und Mobbing

Selbst feiern, andere feuern. Die Vertreter der Belegschaftsaktionäre kritisierten, dass bei einern Geschäftsrückgang den Top-Managern nichts anderes als „Personalabbau“ einfalle. Für Pierer zähle nur die Rendite, kritisierte Wolfgang Niemann, selbst Betriebsrat, die Geschäftspolitik des Vorstands. Er vollziehe einen „Kotau vor den Kapitalmärkten“. Die „Kapitalmärkte verlangen einen schnellen Turn-around zugunsten der Rendite mit der Folge schneller Kostenreduzierungen“, kriti-
sierte der Sprecher der Belegschaftsaktionäre Meiler. Alle aktuellen Probleme lade der Siemens-Vorstand auf die Beschäftigten ab. Binnen eines Geschäftsjahres wurden fast 20.000 Arbeitsplätze im Konzern abgebaut. Auch Wolfgang Müller kritisierte in seinem Beitrag, „dass zentrale Rendite-
vorgaben zu kurzsichtigem Personalabbau führen“. Und er zeigte die Praxis dieses Personalabbaus am Beispiel des Standortes Siemens-Hofmannstraße in München auf. Die Abteilungsleiter dort seien aufgefordert, Listen der 10 bis 15 Prozent „Minderleister“ abzuliefern. Diese werden dann zu Aufhebungsverträgen gedrängt und andernfalls mit Kündigung bedroht. Müller: „Dadurch wird die Arbeitsatmosphäre vergiftet, es entsteht ein Klima von Hexenjagd und Mobbing.“

Fred Schmid,
Mitarbeiter des isw


unsere zeit. Sozialistische Wochenzeitung 7 vom 15. Februar 2002, Essen, 5.