Materialien 2024

Rede in der Lorenzkirche

Sehr verehrte Frau Pfarrerin Voigt-Grabenstein,
sehr verehrtes Lorenzer KommentarTeam,
sehr verehrte Damen und Herren,

ich möchte mich ganz herzlich für die Einladung zu dem heutigen Kommentargottesdienst bedanken und freue mich über den großen Anklang.

Mein Name ist Shelly Steinberg, ich bin Mitglied der Jüdisch-Palästinensischen-Dialoggruppe München. Ich bin in Israel geboren und in Deutschland aufgewachsen und habe auch beide Staatsangehörigkeiten.

Meine Großeltern mütterlicherseits stammten beide aus Deutschland – mein Opa aus Gelnhausen, dem Ort, der sich seinerzeit rühmte, „der erste ‚judenfreie‘ Ort Hessens zu sein“. Meine Oma kam aus Bleicherode, einem kleinen Ort im Harz.

1935 mussten beide aus Deutschland fliehen – und zwar nach Palästina. Nicht, weil sie Zionisten oder besonders religiös waren, sondern weil kein Staat bereit war, sie aufzunehmen. Und so kam meine Mutter 1945 in Jerusalem zur Welt – 3 Jahre vor der Staatsgründung Israels. In der Ge-
burtsurkunde meine Mutter steht also, dass sie Palästinenserin ist.

Die Familie meines Vaters war schon seit 10 Generationen in Jerusalem ansässig, gehörte also nicht zu den jüdischen Familien, die im Zuge von antijüdischen Pogromen in Europa oder wegen des Holocausts nach Palästina flohen.

Ich habe in den 1990ern drei Jahre in Jerusalem studiert und bin dann zur Beendigung meines Studiums nach München zurückgekehrt. 2010 habe ich im Zuge eines Austauschprogramms des Bundestages ein Praktikum in der Knesset, dem israelischen Parlament, absolviert. Danach habe ich noch bis Ende 2019 in Jerusalem und Tel Aviv gelebt.

„Ich möchte doch nur Frieden“ – das Motto der heutigen Veranstaltung – habe ich in Israel sehr häufig gehört. Sie können jeden Israeli fragen und er wird Ihnen antworten, dass niemand so sehr Frieden möchte, wie er.

Jetzt stellt sich natürlich die Frage, wie es denn dann sein kann, dass in einem Land voller angeb-
lich friedliebender Menschen permanent Krieg herrscht, bzw. ein angeblich so friedliebendes Volk permanent Krieg führt?

Könnte das vielleicht an der Auffassung bzw. Definition dessen, was als Frieden angesehen wird, liegen?

In Gesprächen mit Israelis, aber auch bei Aussagen israelischer Politiker, wurde die israelische Auffassung von „Frieden“ sehr deutlich: Frieden bedeutet für die Israelis, dass die Palästinenser Ruhe geben. Es wird nicht hinterfragt, ob die Politik Israels ungerecht, menschenverachtend oder antidemokratisch ist, oder sogar Züge von Apartheid an sich hat – Nein: Dass kein Frieden herrscht, ist den Palästinensern geschuldet, die einfach keine Ruhe geben können – egal, was Israel macht. Dabei werden die seit der Staatsgründung bis heute anhaltende Entrechtung der Palästinenser, die fortlaufende Annexion palästinensischer Gebiete und die Gewalt gegen Palästi-
nenser völlig außer Acht gelassen. Ich sage hier bewusst „Annexion“ und nicht „Besatzung“, denn:

1. Israel kommt seinen im Völkerrecht definierten Pflichten als Besatzer nicht nach.

2. Und das ist der ausschlaggebende Punkt: Israel siedelt Teile der eigenen Bevölkerung in den besetzten Gebieten an, da es die Auffassung vertritt, dass es ein Anrecht auf diese Gebiete hat. Die Mehrheit der Israelis spricht nicht mehr von der „Westbank“, sondern von „Judäa und Samaria“. Dadurch versuchen sie zu suggerieren, dass ihr Vorgehen in den besetzten Gebieten gar nicht rechtswidrig sei und sie sich und ihr Land nur verteidigen würden. Ganz nach dem Motto: Wir können gar nicht „besetzen“, was uns eh gehört.

„Frieden“ bedeutet für die Mehrheit der Israelis die Abwesenheit von Gewalt gegen sie selbst. Dass es so jedoch keinen dauerhaften Frieden geben kann, müsste jedem klar sein. Solange keine ge-
rechten Lösungen gefunden werden, wird es keinen Frieden geben können. Vielmehr muss das angetane Unrecht und Leid bewusstgemacht und anerkannt werden. Erst dann ist ein essenzieller ebenbürtiger Austausch auf Augenhöhe möglich. Frieden bedeutet im Fall von Israel auch Ver-
zicht; Verzicht auf die systeminhärenten Privilegien der jüdischen Bevölkerung gegenüber allen anderen. Ein Staat, der jedoch von einer zionistischen und rechtsradikalen Regierung geführt wird, ist zu solchen Schritten nicht in der Lage. Im Gegenteil – die Ungleichbehandlung, d.h. die Privile-
gierung von Juden wurde in Israel mit dem Jüdischen Nationalstaatsgesetz von 2018 juristisch manifestiert und final legalisiert. Das Gesetz schreibt den jüdischen Charakter des Staates fest. Es definiert Israel als nationale Heimstätte des jüdischen Volkes – und zwar explizit ausschließlich des jüdischen Volkes – und deklariert Jerusalem zur Hauptstadt, was dem Völkerrecht wider-
spricht. Hebräisch gilt entsprechend dem Gesetz als alleinige Nationalsprache, während Arabisch, das in Israel bisher ebenfalls offizielle Sprache war, nur einen nicht näher definierten Sonderstatus erhielt. Betont wird zudem, dass jüdische Siedlungen im Interesse des israelischen Nationalstaates seien.

Wie würden Sie sich als Palästinenser fühlen? Sowohl in den besetzten Gebieten als auch in Israel selbst?

Sowohl ich als auch die Jüdisch-Palästinensische Dialoggruppe verurteilen Gewalt – dennoch haben wir im Gegensatz zu den vermeintlichen „Israelunterstützern“ verstanden, dass eine solche Politik, wie sie in Israel seit seiner Gründung praktiziert wird, nicht auf Frieden ausgerichtet ist. Sie ist darauf ausgerichtet, die Palästinenser im besten Fall zu marginalisieren und im realen Fall, das Leben für die Palästinenser so unerträglich zu machen, dass sie ihre Heimat verlassen. Dass eine solche Politik Widerstand hervorruft, muss man nicht wirklich erklären.

Ich sage „vermeintliche Israelunterstützer“, denn wer diese Politik unterstützt und rechtfertigt, ist kein wirklicher Unterstützer oder Freund. Deutschland verweist immer wieder auf seine geschicht-
liche Verantwortung und Freundschaft gegenüber Israel. Doch was für eine Freundschaft soll das denn sein? Das ist, wie wenn jemand seinem betrunkenen Freund auch noch die Autoschlüssel in die Hand drückt. Die Politik Deutschlands geht davon aus, dass es seine Schuld durch blinde Un-
terstützung Israels abgelten kann. Doch ein Unrecht lässt sich nicht mit einem anderen wiedergut- oder ungeschehen machen. Das käme einem widerlichen Ablasshandel gleich.

Dasselbe gilt auch für die jetzige Situation in Gaza. Das schreckliche Massaker vom 7. Oktober 23 rechtfertigt die Gräueltaten in Gaza nicht.

Während die überwältigende Mehrheit der Deutschen das Vorgehen Israels in Gaza verurteilt, hat die deutsche Politik den Vorwurf des Völkermordes gegenüber Israel abgewiesen – und das, noch bevor der Internationale Gerichtshof ein entsprechendes Urteil verkündet hat. Damit wird im Grunde impliziert, dass Deutschland ein solches Urteil nicht anerkennen wird. Darüber hinaus hat Deutschland verkündet, sich als Drittpartei auf die Seite Israels zu stellen.

Deutschland verabschiedet sich somit vom Internationalen Recht. Doch muss den deutschen Poli-
tikern klar sein, dass nicht nur derjenige, der Völkermord begeht, schuldig ist; auch diejenigen, die ihn nicht verhindern bzw. sogar unterstützen, machen sich mitschuldig und werden mit Konse-
quenzen zu rechnen haben. Ein paar Hilfslieferungen an die Bewohner von Gaza werden da auch nicht mehr helfen.

Nicaragua hat bereits dementsprechend reagiert und Deutschland wegen Beihilfe am Völkermord vor dem Internationalen Gerichtshof verklagt.

Ist es mit der Israelsolidarität in der deutschen Politik also schon so weit, dass man sich mehr Isra-
el gegenüber verpflichtet fühlt als dem internationalen Recht oder der eigenen Bevölkerung? Seit Jahren ist hier in Deutschland ein äußerst bedenkliches, repressives Vorgehen der Politik gegen-
über israelkritischen Stimmen zu sehen.

Um eine pro-israelische Agenda durchzusetzen, missbrauchen Politiker und weitere öffentliche Institutionen den Begriff „Antisemitismus“ und diffamieren jeden als „Antisemiten“, der sich kri-
tisch gegenüber der Politik äußert. Diese Diffamierungen machen auch vor kritikäußernden Juden bzw. Israelis keinen Halt.

Seit Jahren machen sich deutsche Politiker zu Handlangern der Israellobby und missachten dabei geltendes Recht. Meinungsfreiheit ist eines der höchsten demokratischen Güter – doch sobald es um Israel geht, wirft die deutsche Politik rechtsstaatliche Prinzipien über Bord. Zugunsten der Po-
litik Israels wird Menschen das in der Verfassung verbriefte Recht auf Meinungsfreiheit entzogen.

Meinungsfreiheit bedeutet aber nicht nur das Recht des Einzelnen auf freie Meinungsäußerung, sondern auch das Recht, sich freiheitlich eine Meinung bilden zu können; mit den permanenten Zensuren missachtet der Staat somit das Recht der Gesellschaft, Zugang zu unterschiedlichen In-
formationen zu bekommen. Und genau dieses Spektrum an Informationen zu gewährleisten, wäre die Aufgabe der politischen Ebene und nicht – so wie sie es jetzt tut – eine bestimmte Meinung und Direktive vorzugeben und diese mit verfassungswidrigen Repressionen durchzusetzen.

Das aktuellste Beispiel ist der Palästina-Kongress, der von vorgestern bis heute in Berlin stattfin-
den sollte, doch schon am Freitag durch die Polizei aufgelöst wurde. Einer der Hauptveranstalter des Kongresses ist die „Jüdische Stimme für einen gerechten Frieden“. Josef Schuster vom Zen-
tralrat der Juden bezeichnete den Kongress als „Schaulaufen des Antizionismus und Antisemitis-
mus“ – und wenn der Zentralrat oder die jüdischen Gemeinden schreien, pariert die Politik. Es ist aber nicht Aufgabe der deutschen Politiker, sich in Israelbelangen Vorgaben durch den Zentralrat machen zu lassen und diese dann unkritisch umzusetzen – und dabei auch noch geltendes Recht zu missachten.

Es ist eine Schande, wie das Gedenken an die Opfer des Holocausts hierzulande zugunsten einer proisraelischen Politik missbraucht und instrumentalisiert wird.

Es ist nichts Jüdisches, Kinder, Männer und Frauen zu entrechten, zu entwürdigen und umzubrin-
gen. Es ist nichts Jüdisches, Land eines anderen Volkes zu rauben und die dortige Bevölkerung zu unterdrücken und auszubeuten. Daher kann die Kritik an solchen Zuständen gar nicht antisemi-
tisch sein. Wer jedoch angesichts der Kritik an diesen Verbrechen von Antisemitismus spricht, missbraucht diesen Begriff und zeichnet ein widerliches Bild vom Judentum. Gegen eine solche Darstellung des Judentums verwehre ich mich vehement!

Statt in den eigenen Reihen wahren Antisemitismus zu bekämpfen, wird hier gegen jeden Israelkri-
tiker geschossen. Hier ein Beispiel:

Während die Sparkasse Berlin das Konto der „Jüdischen Stimme für gerechten Frieden“ wegen angeblichem ‚Antisemitismus’ gesperrt hat, bleibt das Sparkassenkonto der AfD unberührt.

Während zahlreiche Menschen gefeuert wurden, weil ihnen aufgrund ihrer kritischen Einstellung gegenüber der israelischen Politik Antisemitismus unterstellt wird, ist ein Hubert Aiwanger stell-
vertretender Ministerpräsident des Freistaates Bayern – und das mit Zustimmung von Frau Char-
lotte Knobloch höchstpersönlich.

Diese politische Linie verschärft den Konflikt statt Lösungsansätze auch nur zuzulassen. Es wird immer von der Zwei-Staaten-Lösung gesprochen – wo soll denn aber so ein palästinensischer Staat sein? Ein palästinensischer Staat war für Israel nie von Interesse, im Gegenteil; die entsprechende Politik hat diesen Ansatz völlig unmöglich gemacht.

Solange Deutschland an der sogenannten Staatsräson festhält – die eine bloße Idee ohne jegliche rechtliche Verankerung ist, und faktisch existierendes internationales Recht ignoriert, kann hier nicht von Lösungen gesprochen werden.

Es muss in Deutschland ein Umdenken stattfinden; statt sich der radikalen Linie Israels unterzu-
ordnen und anzupassen, muss sich hierzulande wieder auf grundlegende Werte besonnen werden. Das Wort „Toleranz“ hat hier bereits völlig an Bedeutung verloren. Das lateinische Wort „tolerare“ bedeutet „erdulden, ertragen“; ja, in einer wirklichen Demokratie muss man auch Positionen „er-
dulden“, die den eigenen Ansichten widersprechen. Hier wird jedoch jeder diffamiert, bekämpft und mundtot gemacht, der es wagt, sich gegen die Politik Israels auszusprechen.

Statt zusammen mit Israel über das Schicksal der Palästinenser zu verhandeln, sollte Deutschland anfangen, die Palästinenser als Subjekte und nicht als bloße Objekte – wie es Israel tut – zu behan-
deln. Die Rechte der Palästinenser müssen gleich denen der Juden anerkannt werden.

Natürlich spielt die deutsche Geschichte hier eine große Rolle. „Nie wieder ist jetzt!“ heißt es oft auf Demonstrationen gegen rechts. Es ist doch aber schier absurd, hier gegen rechts auf die Straße zu gehen, während man einer rechtsradikalen Regierung in Israel, die sich für Völkermord an den Pa-
lästinensern in Gaza vor dem IGH zu verantworten hat, uneingeschränkte Solidarität zusagt. Wer wirklich aus der Geschichte gelernt hat und das nicht nur als „Slogan“ für die unkritische Solidari-
tät mit Israel missbraucht, der muss sich ganz klar gegen Israels Politik stellen. Wer Israels Politik nicht kritisiert oder sogar unterstützt, stellt sich auf die Seite der israelischen Regierung und gegen die israelische Bevölkerung, die seit Monaten gegen die eigene Regierung auf die Straße geht.

Um sich für Frieden, d.h. für wirklich gerechte Lösungsansätze in Israel-Palästina einzusetzen, muss man nicht links oder sonst was sein – sondern einfach nur Mensch. Man sollte sich die Goldene Regel des Talmuds zum Prinzip machen: „Was du nicht willst, das man dir tu’, das füg’ auch keinem anderen zu!“

Ich weiß, dass es aktuell viel Mut abverlangt, eine Veranstaltung wie die heutige zu machen. Daher bin ich der Lorenzkirche und den Mitgliedern des Lorenzer KommentarTeams umso dankbarer, dass sie es möglich gemacht haben, auch eine andere Stimme als die der üblichen Verdächtigen Gehör finden zu lassen.

Schließen möchte ich mit einem Zitat von Bertolt Brecht: „Wenn Unrecht zu Recht wird, wird Wi-
derstand zur Pflicht!“

Vielen Dank!

Shelly Steinberg


Manuskript, zugeschickt am 15. April 2024

Überraschung

Jahr: 2024
Bereich: Internationales