Materialien 1970

Rätedemokratie – kein Modell für Gesellschaften

Dokumentationen und Gedenkartikel erinnerten im vergangenen Jahr auf belehrende wie unter-
haltende Weise an den mißlungenen Versuch einiger Politiker und Schriftsteller, in Deutschland, München 1919, eine Räterepublik zu errichten.

Heute, 50 Jahre danach, schallt uns wieder die Parole »Alle Macht den Räten!« in die Ohren, nur daß es jetzt vorwiegend junge Menschen, Anhänger der außerparlamentarischen Opposition sind, die das einprägsame Wort im Sprechchor und im Laufschritt meist durch unsere Straßen rufen.

Wer für die Rätedemokratie streitet, muß die parlamentarische Demokratie verwerfen. Unter den gesellschaftlichen und politischen Bedingungen der Bundesrepublik Deutschland führen die Ver-
fechter des Rätesystems ihren Kampf auf dreierlei Weise:

Sie versuchen in theoretischen Studien den Parlamentarismus als Instrument der Klassenherr-
schaft zu erweisen und seine Mängel bloßzulegen; sie weigern sich strikt, an der Arbeit parlamen-
tarischer Institutionen teilzunehmen, ja sie verfallen auf immer neue Aktionen, um diese Instituti-
onen und andere Einrichtungen der parlamentarisch-demokratisch verfaßten Gesellschaft ins Lä-
cherliche zu ziehen und zu »verstopfen«; sie bemühen sich, die nach ihrer Meinung anfälligen Gruppen der Bevölkerung wie Arbeiter, Studenten, Lehrlinge und Schüler für ihre Ziele zu gewin-
nen und so die »Massenbasis« für den revolutionären Wandel der Gesellschaft zu schaffen.

Zielsetzung und Kampfstellung der Räteanhänger werfen die Frage nach dem Sinn und den Eigen-
schaften des Rätesystems auf und führen weiter zu der Überlegung, ob ein Rätestaat unter den gegenwärtigen industriegesellschaftlichen Verhältnissen nicht nur arbeitsfähig wäre, sondern – gemessen an den gesellschaftspolitischen Ansprüchen der Rätetheoretiker – auch leistungsfähiger als die parlamentarische Regierungsweise.

Ich greife damit Gedanken meines Beitrags über die studentische Opposition in »werden« 1969 wieder auf und versuche sie zu erläutern und zu begründen.

Fibel und Bibel der älteren wie der jüngeren Rätetheoretiker ist Karl Marx’ freilich stark idealisier-
te Darstellung der Pariser Kommune, erschienen 1871 in der Schrift »Der Bürgerkrieg in Frank-
reich«. Der Name Pariser Kommune steht für den im Frühjahr 1871 begonnenen, aber schon bald gescheiterten, blutig unterdrückten Versuch der Pariser Arbeiterschaft, eine direktdemokratische Selbstverwaltung aufzubauen.

Tragen wir also zunächst die wesentlichen Konstruktionsmerkmale des Rätemodells zusammen. Abwandlungen und Spielarten, die sich in später entworfenen Programmen finden, sind dabei von geringem Interesse. Gleichwohl enthält die folgende Aufstellung alle Grundzüge, die auch denen vorschweben, die heute nach den Räten rufen.

Selbstregierung der Produzenten

Das Rätesystem ist eine Form der direkten Demokratie, nach der Überzeugung ihrer Verfechter die schlechthin ideale Demokratie, weil sie die Identität von Regierenden und Regierten oder, wie Karl Marx es sagt, die »Selbstregierung der Produzenten« verwirklicht. Die Herrschaft des Menschen über Menschen ist aufgehoben, der Mensch nach Jahrtausenden der Fremdbestimmung endlich zur Selbstbestimmung seines Schicksals gelangt. Es gibt keine Institutionen mehr, in denen das soziale Leben gerinnt, in denen Herrschaft gesichert und Spontaneität erstickt wird.

Rätedemokratie kann deshalb nicht unter den Bedingungen der kapitalistischen Produktions- und Wirtschaftsweise bestehen. Freiheit von Herrschaft bedeutet Freiheit von Ausbeutung, Aufhebung der privaten Verfügungsmacht über Produktionsmittel und Kapital. Das Rätesystem ist die politi-
sche Organisationsform der sozialistischen Gesellschaft oder, wieder nach Karl Marx: »das Resul-
tat des Kampfes der hervorbringenden gegen die aneignende Klasse, die endlich entdeckte politi-
sche Form, unter der die Befreiung der Arbeit sich vollziehen konnte«.

Demokratie ohne Parlament

Bei der Bildung des politischen Willens unterscheiden sich Rätesystem und Parlamentarismus vor allem darin, daß dem Rätemodell die Vertretungskörperschaft, eben das Parlament, fehlt, auf des-
sen Mitglieder die Wähler in der parlamentarischen Ordnung ihren politischen Willen jeweils für eine Legislaturperiode übertragen. Während dieser Zeit ist der gewählte Abgeordnete – wenigstens theoretisch – unabhängig und nur seinem Gewissen verpflichtet. Die Parlamentarier repräsentie-
ren also die gesamte Wählerschaft – daher auch der Name »repräsentative« Demokratie für dieses System. Die Räteanhänger kritisieren an der Vertretungsfunktion des Parlaments, daß sie die Wäh-
ler entmündige und die Abgeordneten zu einem eigenen Interessenbündnis verkette.

Demokratie ohne Parteien und ohne Opposition

Wenn das Repräsentativorgan Parlament wegfällt, dann werden auch zwei weitere Kernstücke der parlamentarischen Demokratie überflüssig: die politischen Parteien und die institutionalisierte Opposition. Die Parteien, die Programme, Alternativen und Personen anbieten und so den politi-
schen Gesamtwillen gleichsam vorordnen und bündeln, damit größere, handlungsfähige parlamen-
tarische Willensgruppen entstehen, werden nicht mehr gebraucht, weil, wie sich noch zeigen wird, in der Rätedemokratie der politische Wille direkt, ohne Vermittler und Zwischenträger vom Wäh-
ler auf den Rat übergeht.

Eine besonders formierte Opposition ist entbehrlich, weil sich abweichende Meinungen und Vor-
stellungen, so behaupten jedenfalls die Rätetheoretiker, in der personellen Zusammensetzung der Räte widerspiegeln und somit in deren Entscheidungen einfließen würden, ohne daß es einer zur stehenden Einrichtung erhobenen Minderheitsmeinung bedürfte.

Aber noch aus einem anderen Grunde wäre die Opposition geradezu systemwidrig in einem Räte-
staat. Erinnern wir uns: In einer sozialistischen Gesellschaft, die das Rätesystem voraussetzt, ist die Ursache der Ungleichheit und der Interessenkonflikte unter den Menschen, nämlich die private Verfügungsgewalt über Produktivkräfte und Kapitel, beseitigt. Dem Rätemodell liegt demnach die Annahme einer konfliktarmen wenn nicht konfliktfreien Gesellschaft zugrunde, und darin aller-
dings wäre eine institutionalisierte Gegenposition sinnlos.

Alle Macht der Basis

Wie aber bildet sich nun im Rätesystem der politische Wille und wie wird er in Handeln umge-
setzt? Was sind die Räte und wie kommen sie zustande? Die politische Grundeinheit der Rätege-
sellschaft ist die sogenannte Basisgruppe, dem Namen nach den meisten von uns heute aus dem APO-Wortschatz bekannt. Sie ist ein kleiner, überschaubarer Kreis von Urwählern, für den 20, höchstens 30 Mitglieder als günstiger Umfang gelten. Diese Basisgruppen sollen sich nach der Ansicht der meisten Räteanhänger am Ort der gesellschaftlichen Produktion bilden, das heißt in den Betrieben. Aber auch Berufe und Gewerbezweige, Wohn- und Verwaltungseinheiten werden als Grundlage der Gruppenbildung genannt. Aus den Basisgruppen fließt die direkte, von unten kommende Initiative des Volkes, die Quelle der Macht, sagt Lenin. Die in ihnen verbundenen Urwähler entscheiden letztlich, was geschehen soll, sie haben die totale Richtlinienkompetenz.

Gebundenes Mandat

Die Mitglieder der Basisgruppe wählen aus ihrer Mitte einen Rat, der je nach der Größe der Gruppe aus mehreren »Räten« besteht. Das doppelsinnige Wort Rat bezeichnet hier sowohl das Ratskollektiv als auch das einzelne Ratsmitglied. Im Gegensatz zu den Parlamentsabgeordneten und anderen Funktionsinhabern der parlamentarischen Ordnung kann der Mandatsträger im Rätestaat jederzeit von seinen Wählern abberufen werden, außerdem hat er nur ein gebundenes oder »imperatives« Mandat.

Das gebundene Mandat unterwirft den Rat oder den Delegierten uneingeschränkt den Weisungen der Wählermehrheit, er hat den Standpunkt zu vertreten, die Aktionen vorzuschlagen, die Anträge zu unterstützen, die seine Wähler vertreten, vorschlagen, unterstützen, und er muß sich ständig vergewissern, ob seine Ansichten noch die seiner Gruppe sind.

Der Sinn beider Vorkehrungen liegt auf der Hand: Sie sollen verhindern, daß sich die Mandatsträ-
ger von ihrem Wählerauftrag lösen, ihn verraten und sich als Gruppe mit eigener Interessenlage verselbständigen, wie es nach der Überzeugung der Räteanhänger die nur noch ihrem Gewissen und nicht mehr den Wählern verpflichteten Parlamentarier tun.

Ämterrotation

Demselben Zweck dient es, daß die gewählten Mandatsträger ihren Auftrag ehrenamtlich erfüllen oder doch nicht mehr verdienen sollen, als das durchschnittliche Einkommen ihrer Wähler beträgt, und daß alle Ämter und Funktionen nach dem Prinzip der Rotation durchweg nach einer bestimm-
ten Laufzeit neu besetzt werden, falls ihre Inhaber nicht schon vorher aus irgendeinem Grunde ab-
gewählt wurden.

Jeder soll die Chance erhalten, einmal Funktionsträger zu werden, ja die hinter dem Rätemodell stehende Auffassung vom Menschen und von der Gesellschaft erwartet sogar, daß jeder imstande sei, nahezu jede Position auszufüllen – aber niemand soll sich auch so an seinen Posten gewöhnen, daß er versucht sein könnte, ihn um jeden Preis zu halten, denn das wäre der Anfang neuer Kor-
ruption und neuer Machtballungen.

Die Rätepyramide

Wir haben uns bisher nicht um die Unterscheidung von politischem und wirtschaftlichem Rätesy-
stem, die nebeneinander bestehen und miteinander gekoppelt sein können, gekümmert und wollen darauf auch nicht eingehen. Ebensowenig interessiert uns das Einteilungsschema, nach dem die Räte gebildet werden sollen, ob nach Betrieben und Gewerben oder nach Gebietseinheiten wie Wohnblocks, Gemeinden, Kreisen, Bezirken, sondern nur der allgemeine Aufbau des Systems.Er gleicht einer Pyramide. Die Räte jeder Ebene wählen die nächsthöhere Rätestufe, also zum Beispiel die Gemeinderäte den Kreisrat und die Kreisräte den Provinzrat, bis die Spitze im obersten Rat, einem Zentralrat oder wie immer er heißen mag, erreicht ist. Er wählt Exekutivausschüsse und Beauftragte, die ähnlich wie Minister die wenigen überregionalen Arbeiten ausführen.

Gewaltenvereinigung statt Gewaltentrennung

In seinem Aufsatz über die Pariser Kommune schreibt Karl Marx: »Die Kommune sollte nicht eine parlamentarische, sondern eine arbeitende Körperschaft sein, vollziehend und gesetzgebend zu gleicher Zeit.« Er fordert damit die Zusammenlegung der Gewalten, der Legislative und der Exeku-
tive, deren Trennung und gegenseitige Kontrolle als Wesensmerkmal des parlamentarischen Sy-
stems gilt, obwohl in den modernen Parteiendemokratien das Wechselspiel von regierender Partei oder Koalition und opponierender Partei viel stärker hervortritt.

Die Räte sollen alles in einem tun: Gesetze erlassen und verwalten, wenn auch jeweils Ausschüsse für die einzelnen Tätigkeiten gebildet werden können. Die Aufgaben der Justiz, der dritten Gewalt, übernehmen Schiedskommissionen oder sogenannte Gesellschaftsgerichte, sofern in der neuen Gesellschaft überhaupt noch Konflikte aufbrechen, die geschlichtet werden müssen. Die gegenwär-
tige Justiz, so heißt es, sei nur formal unabhängig, tatsächlich diene sie der Sicherung des jeweili-
gen Herrschaftsapparates, und deshalb müsse sie zerschlagen werden.

Auflösung der »Repressionsorgane«

Mit der Gewaltenteilung sind auch die klassischen Exekutivorgane des Staates, Polizei, Beamten-
schaft und Militär, überlebt. In den Augen der Räteanhänger sind sie nichts als Handlanger der herrschenden Klasse bei der Unterdrückung der unmündigen Massen. An ihre Stelle tritt, soweit Schutz- und Ordnungsaufgaben wahrzunehmen sind, eine freiwillige Arbeitermiliz, während die Verwaltungsämter wie die Räte in direkter Wahl besetzt werden.

Bevor wir nun einige Aspekte des Rätegedankens prüfen, noch eine Anmerkung: Es gibt bisher kein Beispiel einer Räteverwaltung, die sich über längere Zeit ungestört entfalten und somit An-
hängern wie Gegnern Erfahrungswerte liefern konnte. Wo sich Räteregierungen bildeten wie 1871 in Paris und nach dem ersten Weltkrieg in Ungarn und in Bayern, wurden sie alsbald von bewaff-
neter Macht niedergeworfen. So bleibt es eine offene Frage, ob sie nicht ohnehin an den widrigen und feindlichen Zeitumständen, am Dilletantismus ihrer Mitglieder oder – und das ist die wichtig-
ste Frage – an der Untauglichkeit des Systems gescheitert wären. Die Sowjetunion hat von dem Rätemodell, das ein Teil der russischen Revolutionäre ursprünglich anstrebte, nur ein paar Äußer-
lichkeiten beibehalten; die kubanischen Verhältnisse weichen erheblich von den hier umrissenen Grundzügen ab, und die betrieblichen Arbeiterselbstverwaltungen etwa in Jugoslawien decken nur einen kleinen Ausschnitt des ganzen gesellschaftlichen Lebens. So sind die folgenden Überlegun-
gen mehr das Ergebnis eines Gedankenvergleichs.

Modell: die Kleingruppe

Die Frage nach der Leistungsfähigkeit der Rätedemokratie ist nur sinnvoll, wenn wir sie auf die hochdifferenzierte Industriegesellschaft der Gegenwart beziehen, denn sie ist es ja, die nach dem Willen der Räteanhänger in eine Rätegesellschaft »transformiert« oder umgewandelt werden soll, und zwar ohne daß sie an Produktivität verlöre.

Nun ist die Gesellschaft, in der wir leben, eine sehr kompliziert aufgebaute Großgesellschaft, deren Leistungsfähigkeit, gemessen meist an ihrer gewaltigen Güter- und Dienstleistungsproduktion, auf dem Zusammenwirken zahlreicher spezialisierter Gruppen, Organisationen, Institutionen und waagerecht wie senkrecht verlaufender Funktionsketten beruht.

Die sogenannten Basisgruppen und auch die Führungskollektive der Räte sind jedoch Kleingrup-
pen mit allen Kennzeichen, die ihnen die Soziologie zuschreibt: Sie sind Mengen von Personen, die in einer bestimmten Zeit häufiger als andere miteinander umgehen und deren Wechselbeziehun-
gen unmittelbar, also ohne Zwischenglieder ablaufen.

Die kleine Gruppe oder Primärgruppe, wie sie auch genannt wird, ist überschaubar und auf per-
sönlichen Kontakt der Mitglieder gestellt. Sie ist die typische Gesellungsform urtümlicher sozialer Entwicklungsstufen und weist eine Gesellschaft, deren Aktivitäten sich hauptsächlich in und zwi-
schen solchen Kleingruppen abspielen, als einfache, undifferenzierte, früher sagte man: primitive Gesellschaft aus.

Das soll nun gewiß nicht heißen, daß die kleinen Gruppen mit wachsender Komplexität und inne-
rer Differenzierung einer Gesellschaft verschwinden oder bedeutungslos werden. Familie, Ver-
wandschafts- und Nachbarschaftsgruppen, Spielgruppen und dergleichen gibt es auch in den mo-
dernen Großgesellschaften, und sie haben ihren Anteil am Aufbau der sozialkulturellen Persönlich-
keit des einzelnen, aber die für diese Gesellschaften charakteristischen Vorgänge spielen sich viel mehr in und zwischen den sekundären Gruppen ab, nämlich in den politischen, wirtschaftlichen, beruflichen und kulturellen Verbänden und Organisationen, in denen im Gegensatz zu den Pri-
märgruppen Distanz, ja Fremdheit und Zweckdenken vorherrschen.

Komplexe Gesellschaften von der Art der unseren bieten ihren Mitgliedern die Wahl zwischen mehreren Gruppenzugehörigkeiten und damit eine große Zahl von Handlungsalternativen.

Die Durchsetzung des auf Basisgruppen fußenden Räteprinzips würde demnach, soziologisch gesehen, unsere Gesellschaft in eine Kleingruppengesellschaft verwandeln und ihr damit sehr wahrscheinlich die Eigenschaften nehmen, aus denen sie, wenn auch um den Preis der Ent-
fremdung und der Abstraktheit mancher sozialer Beziehungen, ihre Leistungskraft zieht.

Notwendiges Übel Arbeitsteilung

Ein zentralisierter Verwaltungsapparat ist unvereinbar mit der Vorstellung der Rätetheoretiker von einer Gesellschaft wahrhaft freier Menschen, die alle Arten der Fremdbestimmung durch verselb-
ständigte Vertretungskörperschaften, Bürokratien, Lohnabhängigkeit, Informations- und Mei-
nungsmonopole, Konsumzwang, Prestigedruck und autoritäre Erziehungsmanipulationen abge-
schüttelt und als autonome Wesen ihr Schicksal in die eigenen Hände genommen haben. Sofern noch Verwaltung nötig bleibt, ist es Verwaltung von Sachen, und auch die, so meinen heutige Räteanhänger, werde größtenteils von Elektronenrechnern besorgt so wie die Güterproduktion überwiegend Sache automatisierter Betriebe sei.

Die bisherigen Erfahrungen zeigen indes eindeutig, daß die Automatisierung der Produktion und der Verwaltung mit Hilfe elektronischer Anlagen den allgemeinen Prozeß der gesellschaftlichen und beruflichen Arbeitsteilung nicht aufgehalten und schon gar nicht umgekehrt, sondern eher gefördert und beschleunigt hat. Auch die Rätetheoretiker wollen die Leistungskraft der modernen technisch-industriellen Produktionsmittel nicht missen, weil sie die Grundlage für die Befreiung des Menschen von der Not der materiellen Daseinsvorsorge und damit auch für seine volle ge-
sellschaftliche Emanzipation sei. Aber sie wissen bisher keine klare Antwort auf die Frage, wie die industrielle Produktivität bewahrt werden soll, wenn man die zentralistischen Organisations-
muster der arbeitsteiligen Gesellschaft zugunsten selbständiger kleiner Einheiten zerschneidet.

Die Erzeugung des gesellschaftlichen Reichtums erfordert offensichtlich übergeordnete Organe der Planung, der Lenkung und der Koordinierung, und das besonders in den Bereichen der Verteilung, des Handels, der Energiewirtschaft und des Geldwesens, denen die auf die Warenproduktion fi-
xierten Räteanhänger selten einen Gedanken zuwenden. Bernd Rabehls in einem Aufsatz geäußer-
te recht dunkle Bemerkung, der Gegensatz von Dezentralisierurg, die nötig sei, um alle an der Kontrolle zu beteiligen, und Zentralisierung, von der die Steigerung der Arbeitsproduktivität ab-
hänge, müsse schon vorher »im konkreten Klassenkampf« aufgelöst werden, hilft da nicht weiter.

Haßfetisch Institution

Jede Art von Zentralismus aber schafft unweigerlich neue Institutionen oder Funktionsgruppen, die, wenn sie so anhaltend kontrolliert werden, wie es die Rätetheoretiker fordern, arbeitsunfähig bleiben oder sich, wenn man ihnen einen gewissen Handlungs- und Entscheidungsspielraum läßt, institutionell verfestigen.

Auch die Räte selbst sind Institutionen – einfache, gewiß, und ihre Mitglieder sind es auf Abruf, aber doch »durch Sitte und Recht öffentlich garantierte Ordnungsgestalten«, in denen sich das Zusammenleben von Menschen darbietet (W.E. Mühlmann).

Ihr bloßes Bestehen enthüllt den Satz von der Identität der Regierten und der Regierenden, die im Rätesystem hergestellt sei, als Selbstbetrug oder zumindest als idealisierende Übertreibung. Es gibt diese Identität schlechterdings nicht in dieser Welt, sie läßt sich immer nur annäherungsweise er-
reichen, und auch das nur in kleinen, schwach differenzierten Gesellschaften, deren wenig arbeits-
teilige Weise der Lebensbewältigung eben auch keine spezialisierten Lenkungs- und Ausführungs-
organe erfordert.

Die Institutionenfeindlichkeit der Räteanhänger hat etwas Irrationales an sich, soweit sie nicht aus der Verbitterung über die Starrheit und Unbeweglichkeit gegenwärtiger Institutionen und der von ihnen verkörperten Ordnungen erklärbar ist. Weder die Sozialwissenschaften noch die Urge-
schichtsforschung können die Annahme stützen, daß es jemals menschliche Gesellschaft ohne In-
stitutionen gegeben habe. Der Fluß des sozialen Lebens ist zu allen Zeiten in festen Formen vor-
übergehend zur Ruhe gekommen. Diese Formen wandelbar zu halten und sie, wenn sie überlebt sind, auch zu zerbrechen, ist normal und vernünftig; die besonders heute unter Räteanhängern verbreitete Vorstellung jedoch, man könne sie allesamt abschaffen und ganz auf die Verankerung gesellschaftlicher Verhaltensweisen in sozialen Institutionen verzichten, ist Ausdruck soziologi-
scher Halbbildung oder schlicht Kommunenromantik.

Separation durch Information

Jedes Ratsmitglied und jeder Mandatsträger wird kraft seiner Funktion an Informationskanäle angeschlossen, die nicht über alle Gruppengenossen laufen und ihm so zu einem Informations-
vorsprung verhelfen. Das gilt nicht nur für die Außenkommunikation der Gruppe, sondern auch für ihre Binnenkommunikation. Die Gruppenlehre bestätigt, daß die Inhaber formeller oder in-
formeller Leitungspositionen die Kommunikationen auf sich ziehen und zentralisieren; sie tauschen im allgemeinen häufiger Informationen mit einzelnen Gruppenmitgliedern als diese untereinander, besonders wenn es sich um leistungsorientierte oder die Vertretung der Gruppe nach außen betreffende Nachrichten handelt.

Ob einem die Tatsache nun gefällt oder nicht – sie setzt den Mandatsträger oder das Ratskollektiv in die Lage, sich von der Gruppe abzusondern. Sein Informationsvorteil und die daraus folgende Chance der Steuerung des Informationsflusses schränken zwangsläufig die Kontrollmöglichkeiten der Urwähler ein und festigen die Stellung der Räte und der Delegierten. Es liegt in der Natur der Sache, daß auch die Mandatsträger einen eigenen geschlossenen Kommunikationskreis bilden, der schwer zu kontrollieren ist, auch bei Öffentlichkeit der Sitzungen; und gleiche Funktionen schaffen nun einmal gleiche Interessen. Die Waffe der Abwahl wird stumpf, weil die Erfahrung zudem be-
weist, daß Funktionsträger entgegen den Wunschvorstellungen der Rätetheoretiker eben nicht beliebig ersetzbar sind. Die Übernahme bestimmter Funktionen, auch der des Rats, ist an gewisse Persönlichkeitsmerkmale gebunden, die, wiederum im Gegensatz zu dem optimistischen radikal-
demokratischen Menschenbild, nicht in ausgeglichener Mischung über die Menschheit verstreut sind.

Konfusion durch Rotation

Damit sind auch der Ämterrotation, von den Rätepolitikern als Abwehr von Separierungs- und Verselbständigungstendenzen der Funktionsträger gedacht, Grenzen gesetzt. Sie wäre nur dann wirksam, wenn es den universal befähigten und ausgebildeten Menschen gäbe. Aber es gibt ihn nicht, und in den heutigen Großgesellschaften mit komplizierter technisch-zivilisatorischer Aus-
rüstung können viele Aufgaben nur von hochspezialisierten Fachleuten erfüllt werden, wenn anders die Gesellschaft nicht einen existenzgefährdenden Leistungsabfall erleiden soll.

Diese funktionsgerecht hohe Spezialisierung ist nicht nur das Ergebnis einer langen Schul- und Berufsausbildung, sondern auch der Übung und Erfahrung, die erst in der Funktion selbst erwor-
ben werden. Man muß eine Sache tun, um zu erfahren, wie man sie tun muß, und das gilt nicht nur für Verwaltung, Wirtschaft und Wissenschaft, sondern gewiß auch für politische Leistungsaufga-
ben. Gesetzt nun den Fall, die Ämterrotation würde nicht schon an den beschriebenen Kommuni-
kationsverhältnissen der Gruppe scheitern, so müßten die Führungszirkel in sehr kurzen Abstän-
den umgewälzt werden, wenn der gewünschte Zweck, keine Kadersolidarität aufkommen zu lassen, erreicht werden soll. Dann aber wären unweigerlich Stabilität und Leistungskraft des sozialen Systems erschüttert.

Mandat ohne Entscheidungsfreiheit

Der Satz, das Rätesystem sei eine Form der direkten Demokratie, muß insoweit eingeschränkt werden, als der unmittelbare Einfluß des Wählers auf den Gewählten tatsächlich nur bis zur untersten Stufe der Räte reicht. Die höheren Räte kommen auf dem Wege indirekter Wahl zu-
stande, so daß ihre Mitglieder mindestens ebensoweit von den Urwählern »entfernt« sind wie die Parlamentsabgeordneten, allerdings mit dem Unterschied, daß sie wie alle Räte jederzeit abberu-
fen werden können und nur ein gebundenes Mandat haben.

Räteanhänger sehen den Vorteil dieses Stufenbaus darin, daß die unteren und mittleren Räte die oberen Räte gründlicher und sachverständiger kontrollieren können als die Urwähler, denen es vielleicht doch an Einblick und Sachkunde fehlen mag.

Es fragt sich nur, ob sie dieser Kontrollaufgabe gerecht werden können, wenn in den Räten ständi-
ge Mobilität herrscht, die nur schwer Stetigkeit einkehren läßt, und wenn die Delegierten, an die kurze Kette des »imperativen Mandats« gelegt, also ohne eigenen Handelns- und Entscheidungs-
spielraum, im Grunde nur Botendienste verrichten dürfen. Wie will man verhindern, daß Räte aus allen anderen als sachlichen Motiven abgewählt und ausgetauscht werden? Und wer wird mit Delegierten verhandeln wollen, die eigentlich zu keiner individuellen Regung ermächtigt sind?

Entweder verschaffen sich die Räte diesen »Freiraum« und setzen ihn gegenüber ihren Wählern durch – dann entziehen sie sich der ständigen Wählerkontrolle genauso wie der Parlamentarier, oder sie fügen sich und spielen eine Statistenrolle – ein Zustand, der zur Polbildung verführt: hier eine von Zeit zu Zeit akklamierende Wählerschaft und dort ein mächtiger Zentralrat, der alsbald selbst die Richtlinien seiner Überwachung bestimmt. Das gebundene Mandat ist nur eine Form des oft beklagten parlamentarischen Fraktionszwanges.

Informelle Opposition

Zu den Regelmäßigkeiten des Gruppenlebens, die auch eine Räteverfassung schwerlich außer Kraft setzen wird, gehört gewiß auch die, daß in allen sozialen Gebilden informelle Gruppen mit eigenen informellen Status- und Rangordnungen entstehen. Typischerweise scheinen in allen Gruppen zwei Bewertungsweisen nebeneinander in Richtung auf eine innere Gliederung zu wirken: eine in-
strumentale, aufgabenorientierte und eine sozial-emotionale. Diese betrifft Fragen der Gruppen-
solidarität, der emotionalen Befriedigung und des Ausgleichs von Gefühlsspannungen, jene den Bereich der Aufgabenlösung und der Anpassung an die Umwelt. Die Positionen der instrumentalen Rangordnung decken sich nun keineswegs mit denen der sozial-emotionalen »Hierarchie« – im Gegenteil: das Gruppenmitglied, dem die aufgabenorientierte Führungsrolle zufällt, genießt nur selten auch die höchste sozial-emotionale Wertschätzung, meistens gilt es sogar als ausgesprochen unsympathisch.

Die instrumentale Problemlösung erzwingt durchweg eine arbeitsteilige Differenzierung der Grup-
penstruktur. Die Belastungen der Gruppensolidarität, die sich daraus ergeben, können zu anhal-
tenden Spannungen, ja zum Zerfall der Gruppe führen, wenn nicht integrierende Gegenkräfte auf-
treten.

Aus welchem Grunde aber sollten diese allgemeinen Gruppenkräfte nicht auch in Basisgruppen und Räten wirken? Die informelle Binnengruppierung, die menschlichen Grundantrieben wie Sympathie und Antipathie folgt, verfestigt sich unter dem alltäglichen Zwang, zu entscheiden. Da nun politische Entscheidungen zu einem großen Teil nicht logisch zwingend aus unanfechtbaren Tatbeständen ableitbar sind, sondern den Charakter von Werturteilen haben, für die es keine objektiven Urteilsgründe gibt, würden sich zu den Abstimmungen informelle »Fraktionen« auf mehr emotionaler als rationaler Basis zusammenfinden.

Und nicht anders in den Räten. Wer erwünschte Beschlüsse durchsetzen will, braucht Gleichge-
sinnte, er muß sich nach Bundesgenossen umschauen, und so kann es gar nicht ausbleiben, daß überall da, wo ein Mehrheitswille erkundet werden soll, sich auch Willensgruppen bilden, die in einem Ziel- oder auch Mittelkonflikt gegeneinanderstehen – mag man sie nun Fraktionen oder sonstwie nennen. Die bloße Abschaffung einer organisierten Opposition ist nichts als ein Akt der Selbsttäuschung.

Kleingruppenverfassung für Großgruppengesellschaft

Unsere Hinweise auf gruppensoziologische Einsichten legen den Schluß nahe, daß Räte sinnvoll und leistungsfähig sein können als Selbstverwaltungsorgane kleiner Gruppen und Verbände mit überschaubaren Lebens- und Sozialverhältnissen, daß sie aber sehr wahrscheinlich an den Lei-
tungsaufgaben komplexer Großgesellschaften mit fortgeschrittener technisch-wissenschaftlicher Zivilisation versagen müssen. Wir müssen uns aber damit abfinden, daß die übersichtliche Kleingruppenwelt, die dem Menschen in allen Lebenssituationen die emotionale Wärme enger Gemeinschaft vermittelt, dahin ist und sich nicht unter gänzlich veränderten Bedingungen er-
neuern läßt. Es gehört Realitätsfremdheit zu dem Versuch, arbeitsteilig gegliederten Massen-
gesellschaften eine typische Kleingruppenverfassung wie das Rätemodell aufzudrängen.

Der neue alte Mensch

Allerdings verheißen uns die Rätedemokraten mit der neuen politischen Form auch den neuen Menschen, der sie füllt und ihr entspricht. Und wer ist dieser neue Mensch? Nun, er ist der alte. Es ist eine eigentümliche Denkweise religiöser und politischer Heilslehren, daß der Mensch »zu sich selbst« befreit werden müsse von der erzwungenen Verfremdung seines Wesens. Lehren dieser Art gehen gewöhnlich von einer vorgefaßten Einschätzung des menschlichen Wesens aus, in der vor allem das Konfliktverhalten als gesellschaftliches Entartungsprodukt erscheint, so als ob eine Ge-
sellschaft Einstellungen und Verhaltensweisen erzeugen könnte, die nicht wenigstens als Möglich-
keiten im Menschen angelegt sind. Dahrendorf sagt es so: »Es ist eine der Grundfiguren jeder uto-
pischen Konstruktion, daß sich Bedingungen schaffen lassen, unter denen Konflikte gewisserma-
ßen überflüssig werden und die damit jene Harmonie begründen, die der Sozialstruktur von Utopia Bestand verleiht.«

Parlamentarismus – eine skeptische Regierungsform

Wissenschaftliche Aussagen beurteilen das Wesen des Menschen dagegen weitaus nüchterner. Verhaltensforscher meinen, der Mensch sei während seiner ganzen Stammesgeschichte im Kern der gleiche geblieben, und zu seinen unverändert wirksamen artspezifischen Eigenschaften gehöre auch ein ererbter Aggressionstrieb , der zwar sozialisiert, aber nicht wegsozialisiert werden könne.

Vor dem Hintergrund dieses Befundes erscheint die parlamentarische Demokratie als eine skepti-
sche Regierungsform, als ein System von Verfahrensregeln und institutionellen Sicherungen im Sinne einer gesellschaftlichen Konflikt- und Friedensordnung, die den Bestand widerstreitender Interessen zuläßt und zugleich die Schärfe ihres Austrags auf eine der Gesellschaft zuträgliche Weise dämpft. Sie hat sich der Ausdehnung und der Kompliziertheit unseres sozialen Gefüges angemessen gezeigt.

Der bekannte Vorwurf , daß noch keine der gegenwärtig bestehenden parlamentarischen Demokra-
tien es verstanden habe, eine leidlich gerechte Sozialordnung mit Chancengleichheit für alle zu schaffen, und daß Teilbereiche dieser Gesellschaften noch immer der inneren Demokratisierung bedürfen, zieht seine Berechtigung weniger aus grundlegenden Konstruktionsfehlern der parla-
mentarischen Verfassungen als vielmehr aus der Zaghaftigkeit, mit der die Möglichkeiten des Wandels, die sie bieten, bisher genutzt wurden.

Horst Knospe


werden 70. Jahrbuch für die deutschen Gewerkschaften, Köln 1970, 34 ff.