Flusslandschaft 1977
Lebensart
»Drokemma // Heifsd zu de Großkopfaden/ dann kummts vielleichd amoi dro, / wenn a Blatz frei wead. // Bisd gega de Großkopfadn, / dann kummst a dro. / Des aba gwieß.« Rudolf Eppinger1
Am 1. Februar überfällt ein einundzwanzigjähriger Arbeitsloser eine Bank, wird aber von vier Bankangestellten überwältigt. Einige Mitmenschen machen sich darüber Gedanken.2
Ist die Missachtung der heiligen Kuh „Eigentum“ auch eine Form des Protestes? „München. Als routinierter Kaufhausdieb entpuppte sich der 62jährige Rentner Leopold G. Der Mann war von Beamten der Polizeiinspektion 22 in einem Kaufhaus der Innenstadt dabei erwischt worden, wie er gerade ein Autoradiogerät einpackte. In der Wohnung und im Keller des Rentners fanden die Be-
amten insgesamt 100 verschiedene Artikel im Werte von rund 1.400 Mark. Darunter Handfunkge-
räte, Kameras, Geschirr, Toilettenartikel und Werkzeug. Der Rentner, seit 1953 im Ruhestand, gab zu, ein Jahr lang aus Langeweile Diebstähle in Münchner Kaufhäusern verübt zu haben.“3
„Die Grokopfatn hats no nie dawischt, uns scho“, meint der gemeine Mann von der Lindwurmstra-
ße. „Des war scho imma so“, schimpft er und fühlt sich bestätigt: „… Franz Xaver Triumphater er-
schien … mit ruhiger Gelassenheit und rechtfertigte sich: »Ich weiß durchaus gar nichts nicht. Das nehme ich auf meinen Eid.« Wer die lautere Wahrheitsliebe der Massbierier kennt, für den ist je-
der Zweifel für alle Zeit hinweggenommen. ‒ Schon unter der Regierung der Herzöge von Krügels-
bach war es eine schöne Sitte, daß jeder Massbierier seinen Meineid hatte (mein = besitzanzei-
gendes Fürwort; Eid = stellvertretend für Wahrheit). In der Königs- und Kaiserzeit Massbieriens ging dem Volk langsam das Privileg des Meineids verloren, es behielt lediglich noch das Recht des einfachen Eids für sich. Der Verfall der massbierischen Sitten wird besonders deutlich daran, daß es verschiedentlich vorgekommen sein soll, daß unter Eid stehende Massbierier sogar die Wahrheit gesprochen hatten. Der Meineid blieb den hochgestellten Persönlichkeiten vorbehalten. In den Zei-
ten der Republik hat sich daran nichts geändert, und so leisten mit Recht nur Minister und hohe Staatsbeamte den massbierischen Meineid, nach alter Sitte und gutem Brauch …“4
»Der moderne Kapitalismus braucht Menschen, die reibungslos und in großer Zahl zusammenar-
beiten, die mehr und mehr konsumieren wollen, deren Geschmack jedoch standardisiert, leicht zu beeinflussen und vorauszusagen ist. Der moderne Kapitalismus braucht Menschen, die sich frei und unabhängig fühlen und glauben, keiner Autorität, keinem Prinzip und keinem Gewissen unter-
worfen zu sein – die aber dennoch bereit sind, Befehle auszuführen, das zu tun, was man von ihnen erwartet, sich reibungslos in die gesellschaftliche Maschine einfügen, sich ohne Gewalt leiten las-
sen, sich ohne Führer führen und ohne Ziel dirigieren lassen – mit der einen Ausnahme: nie untä-
tig zu sein, zu funktionieren und weiterzustreben.«5
(zuletzt geändert am 4.5.2025)
1 Fliegenpilz. Zeitschrift für Politik + Literatur 1 vom Oktober 1977, München, 49.
2 Siehe „Offener Brief an 4 Münchner Bankangestellte“.
3 Süddeutsche Zeitung vom 12./13. Februar 1977.
4 Rainer Zwing, Massbirien. Lob eines trink- und sangesfreudigen Volkes, Frankfurt am Main 1977, 114 f.
5 Erich Fromm, Die Kunst des Liebens, Berlin 1977.