Materialien 1962
An die Demokraten
Der Mitgliedstyp der totalitären Partei ist der bedingungslos Gläubige, der den Befehlen von oben Geltung, Ausbreitung und Befolgung im Alltag zu sichern hat und die Gesellschaft als Agitator, Einpeitscher und Spitzel durchsäuern soll. Die freiheitliche Demokratie lebt, abgesehen von der Kernsubstanz des Bekenntnisses zur freiheitlichen Grundordnung, vom Geist des fruchtbaren Widerspruchs und sollte die wertvollsten Bürger und Parteimitglieder in den selbständigen Köp-
fen, in den lebendigen, schöpferischen Kräften sehen. Das Kommunikationsmittel, durch das sich die totalitäre Herrschaft mit dem Volk verbindet, es durchdringt und nach ihren Bedürfnissen ak-
tiviert, ist in erster Linie die unablässige Schulung der engeren Gefolgschaft in der Partei, die Schulung aber auch in den von der Partei abhängigen sogenannten Massenorganisationen, denen Lenin den bezeichnenden Namen Transmissionen gegeben hat. Das Kommunikationsmittel demo-
kratischer Parteiführungen zum Volke müßte im Gegensatz dazu die ständige freie Diskussion in-
nerhalb der Parteien als der Mittler der politischen Willensbildung des Volkes sein.
Sobald bei demokratischen Parteien alle sachlichen und personellen Entscheidungen zum Mono-
pol einmal konstituierter und sich durch Kooptierung ergänzender Führungsgruppen werden, ist dieses lebenspendende Kommunikationsmittel ausgefallen. Cliquenwirtschaft breitet sich aus. Die Mitgliedschaft wird zur beitragzahlenden Claque. Und da selbständigen Köpfen eine solche Rolle, die allenfalls primitiv Parteigläubigen, vorab aber den geschäftlich oder den an beruflicher Patro-
nage Interessierten behagt, nicht passen kann, kommt die Zufuhr frischer Kräfte, frischen Blutes, fruchtbarer Ideen von unten her zum Stocken.
Die Parteien trocknen zu Apparaten aus, die in dem Maße, in dem sie sich dem Einfluß aus der Breite der Mitgliedschaft entziehen, den Einflüssen parteifremder, mehr oder minder hinter den Kulissen agierender Interessentengruppen und Verbände zugänglich werden, von denen sie das für die Massenagitation erforderliche Geld bekommen, das der schrumpfende Mitgliederstamm mit seinen Beiträgen nicht mehr aufbringen kann. Es entsteht ein Klima, in dem platte Mittelmäßigkeit und Korruption gedeihen, eine Korruption, die ihren Nährboden in der inneren Unwahrhaftigkeit hat, wie sie aus gepredigter Demokratie und gelebtem Machiavellismus spricht, und die von den Gewissen der ganz und gar den Schachzügen des Augenblicks verfallenen Manager selbst dann kaum noch wahrgenommen wird, wenn sie die vom Strafgesetz gezogenen Grenzen überschreitet.
Die Denaturierung der demokratischen Parteien bleibt nicht auf den Innenbereich beschränkt und führt nicht allein zu einer Minderung der Leistungsfähigkeit der einzelnen Partei für die Führung der Staatsgeschäfte, sie schlägt auch insofern zwangsläufig nach außen durch, als sie das Verhältnis zwischen den Parteien vergiften muß.
Wo innerparteiliche Führungspositionen einen monopolistischen Charakter gewinnen, muß die Bereitschaft abnehmen, in der konkurrierenden Partei den grundsätzlich gleichberechtigten Part-
ner in der Bemühung um das allgemeine Beste zu sehen. Wo es keine breite innerparteiliche Dis-
kussion mehr gibt, muß auch in der zwischenparteilichen Auseinandersetzung das Gefühl dafür schwinden, daß das unablässige Bemühen, den andern zu überzeugen, und die ebenso unablässige Bereitschaft, sich von den besseren Argumenten des andern überzeugen zu lassen, zum rechtver-
standenen Wesen der freiheitlichen Demokratie gehören. Das Verhältnis zwischen den Parteien, zwischen Regierung und Opposition verliert zunehmend jenen positiven Charakter einer auf das Gemeinwohl hin orientierten Partnerschaft, eines Wettlaufs um die bessere Lösung, bei dem keine Gruppe der andern die Lauterkeit ihrer Absichten bestreitet und die Grundsätze der sportlichen Fairneß obwalten. Es wird statt dessen zum Feindverhältnis entstellt, wobei Schlagworte und Ver-
dächtigungen zunehmend an die Stelle der Argumente rücken, eine permanente Gereiztheit die politische Atmosphäre trübt und selbst in nationalen Lebensfragen, wo über alle Gräben hinweg Einheit herrschen sollte, die Entzweiung geradezu gesucht und angestachelt wird. Parlamentsde-
batten entarten zu einer Aufeinanderfolge vorbereiteter Erklärungen und Deklamationen, deren Zusammenhang fast nur noch durch die sie begleitenden Lärmszenen hergestellt wird. Wahlkämp-
fe werden mit emotionalen, reklamewirksamen Parolen geführt, für die man sich von massenpsy-
chologisch versierten Werbefachleuten beraten läßt, und gewinnen bis zum Einsatz kabarettisti-
scher Vorführungen hin zunehmend jenes plebiszitäre, rummelhafte Gepräge, das wir an den Scheinwahlen der totalitären Regime verabscheuen.
So setzt sich der Substanzschwund der demokratischen Parteien mit Notwendigkeit in einen Sub-
stanzschwund der Demokratie um, dem ein ebensolcher Schwund an Geltung, an Ansehen, an Volkstümlichkeit für den Staat entspricht.
Wo aber ein junger demokratischer Staat diese Elemente der Resonanz verspielt, die nur in leben-
diger Wechselwirkung aus der sich frei über das Medium der Parteien entfaltenden Teilnahme der Bürger an seinen Geschicken wachsen können und ihm erst Stil und Gesicht geben würden – da wird er in der Tat vom Volke bestenfalls, um mit Sieburg zu sprechen, als »ein Wirtschaftssystem« betrachtet, »über das ein wohlfunktionierender bürokratischer Apparat gestülpt ist«, als »ein wirtschaftlicher und verwaltungstechnischer Zweckverband«.
Aber das sind noch nicht die einzigen gefährlichen Wirkungen, die von scheindemokratischen Apparateparteien ausgehen, für die die Politik zu einem monopolistisch betriebenen Gewerbe geworden ist. Wo sich die Parteien als die berufenen Medien der politischen Willensbildung den selbständig denkenden Köpfen, den jungen, vorwärts- und zu Mittun und Verantwortung drän-
genden Talenten verschließen, setzt ein Prozeß der Verdrängung und schließlich der Gärung ein.
Es bleibt nicht dabei, daß die Nachwuchskräfte als staatstragende Potenzen lahmgelegt werden und gleichsam im Aktivsaldo der repräsentativen Demokratie ausfallen. Keinem geringen Teil von ihnen wird eine solche Art von Demokratie überhaupt zuwider werden, und wir können ihnen nicht einmal die Gründe dafür streitig machen und ihren Widerwillen als eine bloße Ausgeburt von Komplexen und Vorurteilen abtun. Unser Volk ist nun einmal nicht so vom echten demokratischen Geist durchdrungen, daß seine jungen Bürger blindlings und im Dunkel auf den rechten Weg fin-
den könnten, daß sie dazu nicht eben jener Lebensschule der freien schöpferischen Debatte und politischen Führerauslese bedürften, welche die Parteien ihnen bieten müßten.
Es gibt keine Statistik darüber, wie viele sich schon resigniert zurückgezogen haben, noch weniger darüber, wie viele von vornherein Abstinenz übten, obwohl sie die Neigung zum tätigen politischen Mitwirken verspüren.
Hier sammelt sich ein Reservoir, aus dem eines Tages zum Verhängnis für unser Volk eine neue »Bewegung« hervorwachsen könnte, um die »Parteimumien hinwegzufegen«, zugleich aber auch das im Formalen erstarrte Gerüst der freiheitlichen Demokratie niederzureißen, von dem die Par-
teien nicht zu trennen sind.
Ich fürchte, daß dieses Reservoir, das es im Jahre des Zusammenbruchs praktisch nicht gab, in der Zwischenzeit schon ein stilles unterirdisches Wachstum gewonnen hat, von dem wir uns keine rechte Vorstellung machen können. Der zunehmende Wohlstand, die weitgehend der Person eines sehr alten Mannes von außergewöhnlichen Führungsqualitäten und großer persönlicher Faszina-
tion zu dankende Stabilität unserer Regierungsverhältnisse, die politische Ermüdung des Volkes als natürliche Reaktion auf die übermenschliche politische Strapazierung durch die nationalsozia-
listische Gewaltherrschaft und ihre Katastrophen – das sind Umstände, die für Eruptionen nicht günstig sind und allzuleicht blind machen gegen aufkeimende Gefahren, deren Wegfall eines Tages aber die Lage wie mit einem Donnerschlag ändern und die verdrängten politischen Potenzen zur Virulenz bringen kann …
Alle Rufe nach neuen Kräften und Nachwuchs müssen vergeblich und sinnlos sein, müssen, soweit sie von den Parteien selbst ausgehen, als Rufe von der Art des »Haltet den Dieb« erscheinen, so-
lange ein neu eintretendes Mitglied seine Mitwirkung an der politischen Willensbildung des Volkes darauf beschränkt sieht, Beitragsmarken zu kleben und gelegentlich Beifall zu klatschen. Sich da-
mit zufrieden zu geben, ist vielleicht die Sache von Parteibuch-Karrieristen oder Geschäftsleuten, die sich via Parteimitgliedschaft die Berücksichtigung bei der Vergebung öffentlicher Aufträge versprechen. Andere werden sich überlegen, ob sie unter solchen Umständen ihr Geld nicht statt für Beitragsmarken für einen zusätzlichen Schoppen ausgeben sollten. Hier grundlegend Wandel zu schaffen wäre die vordringlichste Aufgabe all derer, die in den Parteien Macht besitzen. Nur wo von unten her, und sei es auch anfangs in kleinsten Gruppen, ein wirkliches Leben pulst, das sich von oben her fortwährend ermutigt und bestätigt findet, werden die Parteien für jene Aktivbürger und werdenden Aktivbürger attraktiv, deren sie und wir so dringend bedürfen.
Es wäre schon ein wohltätiger Zentralismus und ein trefflich angewandtes Managertum, wenn die Parteiführer aller Grade sich nicht länger damit zufrieden gäben, daß unten alles schön ruhig ist und sie oben ungestört schalten und walten können, wenn sie, statt Anregungen und Impulse aus der Mitgliedschaft als lästige Störungen zu empfinden, sich dazu entschlössen, solche Impulse zu suchen, zu ermutigen und ernst zu nehmen, wenn sie auf in schläfrigem Trott verharrende örtliche Vorstände einen freundlichen, aber bestimmten Druck in diesem Sinne ausübten, wenn sie jeder Manipulation, Nachlässigkeit und Unanständigkeit bei innerparteilichen Wahlen mit Entschieden-
heit entgegenträten, statt dergleichen am Ende selbst zu begünstigen …
Günther Willms
werden. Jahrbuch der deutschen Gewerkschaften, Köln 1962, 29 ff.