Materialien 1951

Signale künftiger Literatur

… »Flieger waren über der Stadt, unheilverkündende Vögel. Der Lärm der Motoren war Donner, war Hagel, war Sturm. Sturm, Hagel und Donner, täglich und nächtlich, Anflug und Abflug. Übun-
gen des Todes, ein hohles Getöse, ein Beben in den Ruinen. Noch waren die Bombenschächte der Flugzeuge leer. Die Auguren lächelten. Niemand blickte zum Himmel auf.«

So beginnt Wolfgang Koeppens Roman »Tauben im Gras«. Er wurde – nach des Verfassers Worten – »kurz nach der Währungsreform geschrieben, als das deutsche Wirtschaftswunder im Westen aufging, als die ersten neuen Kinos, die ersten neuen Versicherungspaläste die Trümmer und die Behelfsläden überragten, zur hohen Zeit der Besatzungsmächte, als Korea und Persien die Welt ängstigten und die Wirtschaftswundersonne vielleicht gleich wieder im Osten blutig untergehen würde. Es war die Zeit,in der die neuen Reichen sich noch unsicher fühlten, in der die Schwarz-
marktgewinne nach Anlagen suchten und die Sparer den Krieg bezahlten. Die neuen deutschen Geldscheine sahen wie gute Dollar aus, aber man traute doch mehr den Sachwerten, und viel Be-
darf war nachzuholen, der Bauch war endlich zu füllen, der Kopf war von Hunger und Bomben-
knall noch etwas wirr, und alle Sinne suchten Lust, bevor vielleicht der dritte Weltkrieg kam.«

Diesen Augenblick deutscher Geschichte, zwischen einem schaurigen Gestern und einem unge-
wissen Morgen, einzufangen, ist Wolfgang Koeppen mit dem »Tauben im Gras« in unvergleich-
licher Weise gelungen. Nichts läßt sich in der deutschen Nachkriegsliteratur diesem Roman an die Seite stellen. Hier meldet sich einer zum Wort, der sich nicht in surrealistische Traumwelten flüchtet, sondern sich entschlossen der Wirklichkeit seiner Zeit zuwendet, in einer Sprache, der nichts vom literarischen Erbübel der Deutschen, dem Provinzialismus, anhaftet. Das jagende Stakkato der Sätze und Satzfetzen deckt sich genau mit dem Inhalt, dem kreisenden Wirbel, aus dem eine neue Gesellschaft emportaucht: das Wirtschaftswunderland zwischen Elbe und Rhein auf unsicherem Grund.

»Sie hatten ihr Leben gerettet, ein nutzloses Dasein, sie hausten verbittert in den Flecken, auf Alm und Au, in Hütten und auf den Höfen, der Rauch verzog sich, sie lauschten den Baggern, die in die Trümmer griffen, lauschten von fern, ausgesperrt von Ninive, von Babylon, Sodom, den geliebten Städten, den großen wärmenden Kesseln, Geflohene, zur Sommerfrische verdammt, Touristen, die nicht zahlen konnten, scheel angesehen beim Landvolk, heimwehtoll nach den Steinen. Sie kehrten heim, die Schranke hob sich, die verhaßte Verordnung der Zuzugsperre fiel, aufgehoben war die Ausstoßung, sie strömten zurück, sie fluteten ein, der Pegel stieg. Stadt Brennpunkt des Woh-
nungsbedarfs. Sie waren wieder zu Hause, reihten sich ein, rieben sich aneinander, übervorteilten einander, handelten, schufen, bauten, gründeten, zeugten, saßen in der alten Kneipe, atmeten den vertrauten Brodem, beobachteten das Revier, den Paarungsplatz, den Nachwuchs der Asphaltgas-
sen, Gelächter und Zank und das Radio der Nachbarn, sie starben im städtischen Krankenhaus, wurden vom Bestattungsamt hinausgefahren, lagen auf dem Friedhof an der Ost-Süd-Kreuzung, von Straßenbahnen umbimmelt, benzindunstumschwelt, glücklich in der Heimat. Superbomber in Europa stationiert!«

Es ist unser aller Weg, den Koeppen hier am Beispiel einiger Menschen im München jener Jahre mit hartem Strich zeichnet, der Weg aus Blut und Dreck von Krieg und Nachkrieg zurück in die »Normalität«, über der die Superbomber kreisen. Die Schicksale dieser Menschen, die zunächst scheinbar ganz ohne Zusammenhang vor uns abrollen, fügen sich in der formalen Struktur dieses Buches zu einem kunstvollen Mosaik zusammen. Die einzelnen Abschnitte, die jäh aufeinander folgen, sind wie die Teile einer Maschine montiert, von denen jedes lebenswichtig ist für das Ganze. Ein strenges Gesetz der Komposition beherrscht das Werk. Der deutsche Roman hat mit ihm wieder den Anschluß an die Tradition der internationalen Epik seit Joyce gefunden. Die Synthese von moderner Form und zeitkritischem Gehalt ist gelungen, an keiner Stelle bleibt Koeppen im Privaten stecken. In der zerbröckelnden Ehe des Intellektuellen Philipp mit der Großbürgerstochter Emilia spiegelt sich die Krise einer ganzen Gesellschaftsschicht, jenes alten Bürgertums, das noch Besitz mit Bildung wirklich durchdrang und das in der reinen Profit- und Parvenugesellschaft keinen Platz mehr finden wird. Und die Beziehung des amerikanischen Ne-
gersoldaten Washington Price zur Kleinbürgerstochter Carla wird zum Symbol des Zusammen-
pralls des alten Kontinents mit der neuen Welt, der dem Gesicht der Nachkriegsgesellschaft Europas, und vor allem Westdeutschlands, die entscheidenden Züge geben wird.

Heute, zehn Jahre danach, hat dieses Buch nichts von seiner einstigen Faszination eingebüßt, wenn wir es wieder lesen …

Christian Gneuss


werden. Jahrbuch der deutschen Gewerkschaften, Köln 1960, 140 ff.

Überraschung

Jahr: 1951
Bereich: Kunst/Kultur