Flusslandschaft 1949

Gewerkschaften/Arbeitswelt

Mit dem Ende des NS-Regimes eröffnete sich 1945 für wenige Jahre eine hegemoniale Dominanz kritischer Vorstellungen von einem antifaschistisch-demokratischen Konsens und von Alternativen zur kapitalistischen Wirtschaftsordnung. Nebeneinander wirkten in der Arbeiterbewegung Reprä-
sentanten aus der Zeit vor 1933 der eher konservativ zu verortenden Sozialdemokratie1, der tradi-
tionell ausgerichteten KPD sowie „Erneuerer“ der Sozialistischen Arbeiterpartei (SAP)2, des Inter-
nationalen Sozialistischen Kampfbundes (ISK)3 und der Kommunistischen Partei-Opposition (KPO), der Gruppen, die vor 1933 an SPD und KPD heftige Kritik geübt hatten.

Samstag, 30. April: „Eine ‘Repräsentative Feierstunde’, an der der Gouverneur Murray D. van Wagoner und andere Vertreter der Militärregierung von Bayern, Ministerpräsident Dr. Hans Ehard, Oberbürgermeister Wimmer und mehrere Kabinettsmitglieder teilnahmen, leitete die diesjährige Maifeier in der Aula der Universität am Samstagnachmittag ein. Das Philharmonische Orchester der Stadt München umrahmte unter Leitung seines Dirigenten, Professor Eugen Pabst, die Reden der beiden Festredner, Lorenz Hagen und Max Wönner vom Bayerischen Gewerk-
schaftsbund und brachte die Ouvertüre aus ‘Rienzi’ und die V. Symphonie von Beethoven zu Gehör. Der Präsident des Gewerkschaftsbundes, Hagen, stellte fest, dass die noch vor einem Jahr von ihm gefürchtete Kriegsgefahr nunmehr durch die ‘Zusammenarbeit aller westeuropäischen Nationen und den Atlantikpakt’ abgewendet sei und erwähnte ‘die großzügige Hilfe Amerikas’ durch das ERP-Programm als ‘wesentliche Hilfe für die deutsche und damit europäische wirt-
schaftliche Entwicklung’. Er betonte, dass die Gewerkschaften bei aller parteipolitischen Neutrali-
tät jedoch niemals politisch neutral bleiben dürften und drückte sein Befremden darüber aus, dass die interalliierte Ruhrkommission die Rohstoffe ganz Deutschlands kontrollieren wolle. Der Red-
ner schlug vor, auch alle anderen Länder dieser Kontrolle zu unterwerfen, um dadurch den deut-
schen Nationalisten den Boden zu entziehen und die Verständigung der Völker zu erleichtern. Es sei zu bedauern, fuhr Hagen fort, dass durch den ‘Widerstand einer einzigen Besatzungsmacht’ auch heute noch kein endgültiger Friedenszustand erreicht sei. Die Gewerkschaften lehnten den von dieser opponierenden Macht inspirierten ‘Weltfriedenskongress’ ab, da der hier proklamierte ‘Friede’ dem Volk nur eine bestimmte Weltanschauung aufzwingen wolle. Von der viel beredeten ‘Einheit Deutschlands’ könne keine Rede sein, solange man ‘Hitlersche Konzentrationslager und Zwangsarbeit’ befürworte und damit unwürdige autoritäre Maßnahmen wiederhole. Zu den pri-
mären Forderungen gehöre die ‘Fürsorge für die Alten’ zur Verhinderung eines Massensterbens, indem man eine neue Sozialversicherung schaffe und für diese alten Leute sorge. ‘Wir haben kein Verständnis dafür, dass man den renazifizierten Beamten und Offizieren Pensionen zusichert, während die Alten hungern müssen’, rief Hagen unter dem Beifall der Zuhörer aus. Weiter verwies er auf die ungerechtfertigten Währungsgewinne. Max Wönner als Generalsekretär des Bayerischen Gewerkschaftsbundes befaßte sich in seiner Rede mit aktuellen innerpolitischen Problemen und bezeichnete die ‘gesamtdeutsche Konzeption’ von Bonn als erfreuliche Tatsache. Er lehnte den Kommunismus ab und schlug als Lösung den Mittelweg zwischen ‘östlichem Kollektivismus’ und ‘westlichem Überindividualismus’ vor.“4

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Die Maifeier jährt sich zum sechzigsten Mal. Der Königsplatz ist mit 25.000 bis 40.000 Teilneh-
merinnen und Teilnehmern überfüllt. Die Gewerkschaften fordern „demokratische Wirtschafts-
gestaltung“ und verwahren sich gegen „Arbeitsdienst“. Auf Transparenten der KPD steht „Gegen kolonialen Weststaat – für ein freies Deutschland“ und „Gegen Eingliederung in den Atlantikpakt“. Der „Münchner Sängerbund“ und das „Arbeiterorchester“ umrahmen die Redebeiträge. „Als Hauptredner … bezeichnete Alfred Mozeer als Vertreter des Niederländischen Gewerkschaftsbun-
des jede Hoffnung auf einen neuen Krieg als Irrtum. ‘Die Demarkationslinie durch Deutschland ist ein europäisches Problem’, rief der holländische Gewerkschaftsführer aus und erwähnte die auch in anderen Ländern immer stärker zutage tretenden nationalistischen Tendenzen, die man be-
kämpfen müsse. Auch das Flüchtlingsproblem sei kein deutsches, sondern ein europäisches Pro-
blem. Max Wönner, der Generalsekretär des Gewerkschaftsbundes, bezeichnete die von den Kom-
munisten aufgestellten Transparente als ‘Propaganda einer kleinen, aber aktiven Minderheit’ innerhalb der Gewerkschaften, von der die Gewerkschaften abrückten, da es sich um Parteipro-
paganda handele.“7 Zum Schluss stimmte die Versammlung einer Resolution zu, die gegen die bisherige Nichtgenehmigung des Sozialversicherungs-Anpassungsgesetzes durch die Militärre-
gierung protestiert, nachdem die Finanzminister der Länder dieses Gesetz als untragbar bezeich-
neten.8 Die Nachmittagsveranstaltungen, so das gesellige Beisammensein, werden wegen des schlechten Wetters auf den folgenden Sonntag verlegt.

Ab Frühjahr des Jahres hebt die Besatzungsmacht den Lohnstop auf, ab Mitte des Jahres kommt es zu ersten Tarifverhandlungen.9

Auf dem Bundeskongress des Bayerischen Gewerkschaftsbundes (BGB) beschließen die Delegier-
ten die Auflösung der Organisation und den Beitritt zur bundesrepublikanischen Einheitsgewerk-
schaft.10

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Am 12. Oktober wird in München der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) gegründet. Willy Blei-
cher (ehemals KPO, IG Metall) bittet beim Gründungskongress zu bedenken: „Ich nehme den § 1: ‚Name des zu gründenden Gewerkschaftsbundes für die Bundesrepublik Deutschland’. Mit dieser Formulierung haben wir den politisch-staatsrechtlichen Zustand, der da geschaffen wurde, ohne unseren Willen anerkannt. Damit haben wir die Spaltung unserer Nation anerkannt und haben sie übertragen – so wie ich die Dinge sehe – auf die Gewerkschaften. Ich hätte es gern gesehen, wenn man hier diese Frage offen gelassen hätte, indem man formuliert hätte: ‚Dieser neu geschaffenen Gewerkschaftsbund der BRD ist ein Teil des noch zu schaffenden und von uns sehnlichst herbei gewünschten gesamtdeutschen Gewerkschaftsbundes.’ … Ich möchte nicht, dass wir uns festlegen, weil jede Festlegung in dieser Richtung eine Festlegung der Besatzungsmächte ist …“ Und weiter: Die „Entmachtung“ aller derjenigen, „die uns immer wieder in Not und Elend geführt haben“, müsse auch bei uns einer der gewerkschaftlichen Grundsätze bleiben. Eine der wesentlichen und vornehmsten Aufgaben sei deshalb „die Erhaltung der Einheit der Gewerkschaften bei uns im Westen und darüber hinaus die Schaffung der gewerkschaftlichen und damit auch der politischen Einheit für unser Vaterland. Das gilt nicht nur für Deutschland, sondern im internationalen Maß-
stab.“12 Bleicher wünscht zur Klärung dieser Fragen eine Urabstimmung bei allen Gewerkschafts-
mitgliedern – seine Sätze sind in den Wind gesprochen. Den Delegierten ist es zwar wichtig, darauf zu bestehen, dass Wirtschaft keinem Privatinteresse dient, sondern menschlichen Bedürfnissen und gesellschaftlichen Zwecken. Sie fordern in den „Wirtschaftspolitischen Grundsätzen“, die später üblicherweise als „Münchener Grundsatzprogramm“ des DGB gelten, die „Überführung der Schlüsselindustrien in Gemeineigentum, insbesondere des Bergbaues, der Eisen- und Stahlindu-
strie, der Großchemie, der Energiewirtschaft, der wichtigen Verkehrseinrichtungen und der Kredit-
institute“13. Dieses Programm ist aber vor dem Hintergrund der mehrheitlichen Zustimmung der Gewerkschaften zur Währungsreform, zum Marshallplan und damit zur endgültigen Integration der europäischen Länder in einen West- und Ostblock zu sehen. Die Forderung nach einer grund-
legenden Neuordnung von Wirtschaft und Gesellschaft erscheint jetzt eher als Lippenbekenntnis, als letztes Zugeständnis an „linke Kräfte“ in den Gewerkschaften bzw. als Perspektive, die man auf die lange Bank schieben kann.

Die Phase der Hoffnung auf einen Neubeginn wird abgeschlossen, die Restauration setzt ein, nicht zuletzt unter dem Einfluss der Besatzungsmacht: Kommunisten werden jetzt in den Gewerkschaf-
ten entweder isoliert, neutralisiert oder „entfernt“, die „Erneuerer“ ebenfalls „entfernt“ oder „um-
gedreht“, so dass sozialistische Neuordnungsvorstellungen zurückgedrängt werden und der Anti-
kommunismus mit Beginn des Kalten Krieges sich zur herrschenden Grundhaltung im DGB ent-
wickeln kann. Sozialdemokratische, sozialpartnerschaftlich eingestellte Gewerkschafter erobern alle Schlüsselpositionen. Es verwundert nicht, dass die Defensivgefechte der folgenden Jahre re-
gelmäßig mit Niederlagen enden.

(zuletzt geändert am 18.6.2024)


1 Zum Beispiel Albert Roßhaupter, Gustav Schiefer, Anton Weiß, Thomas Wimmer

2 Zum Beispiel Franz Marx

3 Zum Beispiel Ludwig Linsert, Ludwig Koch

4 Nicht näher ausgewiesener Zeitungsausschnitt in der Fotosammlung „Erster Mai 1949“ im Archiv der Münchner Arbeiterbewegung

5 Flugblattsammlung, Archiv der Münchner Arbeiterbewegung

6 werden 85. Jahrbuch für die deutschen Gewerkschaften, Köln 1985, 53.

7 Nicht näher ausgewiesener Zeitungsausschnitt in der Fotosammlung „Erster Mai 1949“ im Archiv der Münchner Arbeiterbewegung.

8 Siehe „Werte Kolleginnen und Kollegen!“ von Max Wönner, „Kolleginnen und Kollegen!“ von Käthe Sand und die Fotos vom „ersten mai“ von Walter Nürnberg.

9 Siehe „Bis Ende 1948/Anfang 1949 …“ von Ludwig Koch.

10 23 Fotos: BGB-Bundeskongress im Oktober 1949, Standort: Archiv der Münchner Arbeiterbewegung

11 Archiv der Münchner Arbeiterbewegung, Fotosammlung

12 Protokoll. Gründungskongress des Deutschen Gewerkschaftsbundes für das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland. München, Kongreßsaal des deutschen Museums, 12., 13, und 14. Oktober 1949, Düsseldorf 1950, 106 f.

13 Vgl. „Wirtschaftspolitische Grundsätze des Deutschen Gewerkschaftsbundes“ in: Protokoll. Gründungskongress des Deutschen Gewerkschaftsbundes für das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland. München, Kongreßsaal des deutschen Museums, 12., 13, und 14. Oktober 1949, Düsseldorf 1950, 318 – 326.