Flusslandschaft 1978
Gedenken
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Ein handgemaltes Plakat, das an der Türe der Basis Buchhandlung in der Adalbertstraße 41b aushängt, hat eingeladen, und so treffen sich am 6. April in Erinnerung an den hundertsten Ge-
burtstag von Erich Mühsam etwa zweihundert Menschen in der Westendhalle an der Ecke Gang-
hofer-/Westendstraße. Augustin Souchy2, der Mühsam noch persönlich kannte, erinnert sich. Hanns Meilhamer tritt auf und der „Lampenputzer“ wird gesungen. – Souchy protestierte, als Willy Brandt noch Bundeskanzler war, in einem Brief gegen eine seiner Rundfunkansprachen, in der Brandt im Sommer 1972 von „kriminellen Anarchisten“ sprach. Souchy wies in seinem Schrei-
ben an Brandt auf die anarchistischen Prinzipien Proudhons hin, deren Vorstellung politischer Autonomie und freier Föderation bei gleichzeitiger Kooperation der selbständigen Kollektive er als Alternative zu Privatkapitalismus und Zentralverwaltungswirtschaft ansah. In seinem Brief erin-
nerte Souchy Brandt auch an das gemeinsame Gespräch im Hause des Gewerkschaftsbundes CNT während der Spanischen Revolution in Barcelona. Besagter Brief ist auf Brandt nicht ohne Ein-
druck geblieben, was man dem entsprechenden Kapitel von Brandts politischen Erinnerungen entnehmen kann. In den folgenden Jahren nahm bei den Behörden und in den Medien die Ver-
wendung des Attributs „anarchistisch“ bei der Charakterisierung der RAF immer mehr ab.
1 Plakatsammlung, Archiv der Münchner Arbeiterbewegung
2 Augustin Souchy, geb. 28. August 1892 in Ratibor/Oberschlesien, Schüler Gustav Landauers, floh während des Ersten Weltkrieges nach Schweden, dort wegen Propaganda gegen den deutschen Militarismus ausgewiesen, in Dänemark Mit-
arbeiter der syndikalistischen Tageszeitung Solidaritet, illegal nach Schweden, dort gefasst und zu sechs Monaten Zwangs-
arbeit verurteilt, 1920 nach Russland, dort Bekanntschaft u.a. mit Lenin, Sinowjew und Pjotr Kropotkin, 1921 in der fran-
zösischen anarchistischen Bewegung tätig, ausgewiesen, 1921 Mitbegründer der Syndikalistischen Internationale (Inter-
nationale Arbeiter Assoziation), zusammen mit Rocker und Schapiro ihr Sekretär bis 1933, 1929 anarchistische Tätigkeit in Südamerika, dann in Spanien, 1933 Flucht aus Deutschland, 1936 – 1939 Leiter der Außeninformation der anarcho-syndi-
kalistischen CNT in Barcelona, untersucht als Erster die Arbeiter- und Bauernkollektive während der spanischen Revolu-
tion, flüchtet 1939 vor den Franco-Truppen nach Frankreich, taucht 1941 beim Einmarsch der deutschen Truppen als Bauernknecht unter und flüchtet später nach Mexiko, 1949 Vortragsreisen bei den Tabak- und Zuckerrohrarbeitern in Cuba, 1950 in Israel, dann in allen Ländern Süd- und Mittelamerikas, später nach Madagaskar und Äthiopien; 1966 siedelt er sich in München an und stirbt hier am 1. Januar 1984 im Rotkreuzkrankenhaus. Das folgende, aus seinen Memoiren Vorsicht: Anarchist! stammende Zitat ist charakteristisch für Souchys Wirken: „Mein herrschaftsfreies Streben galt stets der Errichtung einer gewaltlosen Ordnung an Stelle der organisierten Gewalt.“