Materialien 1960
Jazzer
In der vielleicht schönsten Openair-Location am Ufer des Chiemsees will ich mich am Pfingst-
montag beschallen lassen. Von einer Band mit dem urbayerischen Namen „Oiweiumhoibeeife“. Diese bespielt seit nicht weniger als 44 Jahren bestimmte Biergärten und Bräusäle im Südosten des Freistaats mit Jazz vom Besten. Immer ab 10.30, wie der Name verrät. Und für mich immer ein Anlass, in Erinnerungen zu schwelgen.
Diese old Memories reichen zurück bis in graue Kriegszeiten. Heimlich erlauschten wir Oberreal-
schüler am Volksempfänger — so hießen die kleineren Radioapparate — die von den Nazis verbote-ne „Negermusik“. Vor allem von Glenn Miller („In the mood“), der 1944 mit einem Militärflugzeug über dem Ärmelkanal abstürzte und verschwand.
Dann kamen sie in persona ins auch musikalisch ausgehungerte München, die Kings der schrägen Klänge. Der heisere, immer schwitzende Louis Armstrong, der elegante Duke Ellington, der spitz-
bärtige Dizzy Gillespie, der zappelnde Vibraphonist Lionel Hampton und so fort.
Ausgerechnet im Kongreß-Saal des Deutschen Museums mit seinen germanischen Mosaiken traten sie auf. Ella Fitzgerald erlebte ich nach ihrem umjubelten Aufritt ganz privat in einem Nachtclub am Kosttor. Auf unterem Niveau bildete sich eine rassisch gemischte Szene, in Haidhausen etwa im eher verrufenen „Birdland“, Demokratie verband sich für uns mit dem Begriff Jazz.
Bald schon waren auch einheimische „Jazzer“ – man sprach es deutsch aus – zu hören. In Erinne-
rung blieben mir besonders der Trompeter Charly Tabor und der Drummer Freddy Brocksieper, der eine baufällige Villa in der Leopoldstraße („Studio 15“) zur Jazz-Hochburg stilisierte und da-
nach einen Club nach dem anderen aufmachte. Eine erste Boogie-Woogie-Session bot die Bühne der Kammerspiele.
Gäste von auswärts führte ich in den „Siegesgarten“ oder gegenüber ins „Domicile“ oder in den nach Heizöl stinkenden Ruinenkeller der Türkenkaserne. Die Münchner Saxophon-Klassiker Max Greger, Hugo Strasser und Paul Würges musizierten in Fernsehstudios und Faschingssälen fit und fröhlich bis ins hohe Alter. Leider trommelt der 80-jährige Facharzt Dr. Rainer Sander seine legen-
däre, auch schon über 40 Jahre alte Allotria-Jazzband, nur noch selten zusammen, das Stammpub-
likum ist geblieben.
Ansonsten ist nicht viel geblieben in our town. Die heutigen Jazzclubs sind eher versteckt, teuer und entsprechend exklusiv. Als 95-jähriger Fan kann ich spätabends eh nicht mehr ausgehen, Das Radio und alte „Platten mit Schall“ (Valentin) müssen genügen. Immerhin finden sich noch ein paar Lokale, wo an Wochenenden tagsüber klassischer Jazz, vorzugsweise Dixieland, zu hören ist. So in der Waldwirtschaft Grosshesselohe, in der Hirschau oder im Hof der Pfälzer Residenz-Wein-
stuben, deren Pächter selbst ein begeisternder Jazzer ist.
Karl Stankiewitz
22. Mai 2024