Materialien 1954
Die Welt von Bild
Gedankenblitz 16
Vor genau 70 Jahren stürzte ich mich in ein berufliches Abenteuer. Ich arbeitete, nach Gastspielen bei Stern und Spiegel, als erster und einziger Münchner Korrespondent für die Bild-Zeitung, die damals schon in Millionenauflage auf den Straßen der Republik für zehn Pfennig feilgeboten wur-
de. Was ich da als 25-Jähriger erlebte, ging weit über den Boulevard-Journalismus hinaus, den ich fünf Jahre zuvor bei der Abendzeitung gewohnt war.
Täglich wurde ich von der noch in Hamburg sitzenden Redaktion auf ein so genanntes „Erregungs-
thema“ gewiesen. Die Vorstellungen von München und Bayern waren oft kurios. „Fahren Sie doch mal in den Bayerischen Wald, da jibt et doch noch Räuber“, meinte mal der Nachrichtenchef Hans Wegner, ein Berliner. Ich fuhr hin, fand zwar keine Räuber, konnte aber wenigstens „geheimnisvol-
le Waldbrände“ ins Blatt bringen.
Einmal musste ich einem Elternpaar mitteilen, dass deren Tochter in den USA ermordet wurde, um die Reaktion zu schildern. Dann wieder sollte ich einem Arbeiter, den man mühsam aus einem Schacht geborgen hatte, Blumen ins Wasserburger Krankenhaus bringen und befragen. Leider war der Gerettete in der Nacht zuvor gestorben. Mein Bericht bekam die Überschrift „Vom Tode ge-
narrt“. Mehrere Tage war ich im überfluteten Passau am Telefon parat.
Über Wochen hin lieferte ich Schlagzeilen über Hundeschlächter. Den ersten hatte ich in Gröben-
zell entdeckt. Der jagte mich und den kriegserfahrenen Fotoreporter Wolf Pelikan mit seinen Hun-
den vom Hof. Das ausgelassene Fett von geschlachteten Hunden galt damals als Heilmittel bei Lungenleiden. Der Skandal beschäftigte erst den Stadtrat, dann den Bundestag, wo sich der spätere Bundespräsident Heinrich Lübke besonders empörte. Der Spiegel fand einen Bezug zur anstehen-
den Bundestagswahl: Diese könne Konrad Adenauer nur noch verlieren, wenn Bild melde, dass er Hunde schlachte.
Besonders interessiert war die Hamburger Zentrale an Promis von Film und Bühne, die sich da-
mals wie heute im Raum München tummelten. Ich outete die ehemaligen UFA-Stars Sibylle Schmitz und Albert Matterstock als Drogenopfer. Ein kurzer Wortwechsel mit Ingrid Bergman am Flughafen wurde als Interview aufgebauscht. Der Redakteur, der für Kultur und Klatsch verant-
wortlich war, hieß Oswald Kolle. Später schrieb mir dieser Sex-Aufklärer der Nation das Vorwort für mein „Münchner Sittenbuch“. Kolle starb 2010.
Die ganze, nervige Sensationshascherei machten es mir nicht schwer, mich nach einigen Monaten wieder aus der Welt von Bild zu verabschieden. Es gab dafür noch einen anderen Grund: Da mein Name mit voller Adresse im Impressum stand, konnte ich mich der Anfragen und Hausbesuche kaum erwehren. Ich erlebte, was mir der evangelische Fernseh-Pfarrer Adolf Sommerauer später mal in einem Interview anvertraute: „Man ahnt ja gar nicht, wie viel Verzweifelte und Gestörte es in unserem Land gibt.“ Der Sorgendoktor der Nation starb 1995.
Den Außenposten München besetzte Chefredakteur Rudolf Michael dann mit der befreundeten Marlen Sinjen. Sie brachte ihre beiden bild-schönen Töchter mit, von denen eine, Sabine, eine berühmte Schauspielerin wurde. Während ich zur seriöseren, auflagestarken Westdeutschen All-
gemeinen (WAZ) in Essen wechselte, für die ich fortan 45 Jahre als Münchner Korrespondent und gelegentlicher Auslandsreporter unter anderem tätig war.
Die Münchner Filiale von Bild residiert heute in einem feinen, streng verschlossenen Großbüro am Isartorplatz. Dort gelten Themen, die früher riesig gespielt wurden, nur noch als minderwertige „Bückware“. Was nicht auf ein großes Publikum abzielt, so befürchtet man in der Redaktion, das findet dann nicht mehr den Weg ins Lokale, weder im Blatt noch online.
Karl Stankiewitz
20. Juni 2024