Materialien 2024

Pazifismus

Gedankenblitz 31

Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD!) wünscht: „Wir müssen bis 2029 kriegstüchtig sein.“ Jugendliche sollen in der Schule aufgeklärt und für die nötige Wehrbereitschaft geworben werden, lese ich – und fühle mich an meine Schulzeit erinnert. Was da auf jüngere Mitbürger zuzukommen scheint, habe ich gegen Ende des Zweiten Welkriegs erlebt.

Zunächst waren die 1928 geborenen Knaben als „weißer Jahrgang“ gewissermaßen außer Gefecht. Erst im Sommer des Rückzugsjahres 1944 sollte es auch für uns ernst werden. Eines Tages er-
schien in der Oberklasse der Oberrealschule ein Offizier der Waffen-SS. Er kam direkt von der Front und dann noch öfter. Immer mit tadellosen Manieren und in seiner schwarzen Uniform mit Silberlitzen, germanischen Runen und Totenkopf am Kragen. Er erzählte von abenteuerlichen Ein-
sätzen in vielen Gegenden Europas.

Der Auftritt hätte durchaus Eindruck machen können, wirkte aber nicht. Denn diese „Schutzstaf-
fel“, abgekürzt SS, hatte bereits einen miserablen Ruf. Obwohl wir von Dachau nur wenig Ahnung hatten und von mörderischen Einsätzen in Ost- und Westeuropa gar keine.

Nachdem der schwarze Mann erfolglos abmarschiert war, wurden wir nach und nach zur Muste-
rung für den Kriegsdienst gerufen. Ich musste im Hofbräukeller erscheinen und alle Kleider able-
gen. Auffallend waren die schwarzen Schaftstiefel unter den weißen Kitteln der Ärzte. Die meisten von uns wurden den Kanonen (Flak) am Münchner Stadtrand zugeteilt.

Meine Freunde Schorsch und Rudi griff der Reichsarbeitsdienst (RAD), beide mussten am Fern-
pass die sagenhafte „Alpenfestung“ verteidigen. Mein Freund Franz wurde „nicht kriegstauglich“ befunden: Kinderlähmung. Nur zwei Klassenkameraden wurden richtige Soldaten, einer kam erst nach langer Zeit heim aus Sibirien, der andere gar nicht. Der gleichaltrige Georg Kronawitter konnte sich dem Greifer von der SS, der ihn sogar direkt bedrängte, dadurch entziehen, er müsse seinen Vater fragen. Was den späteren Oberbürgermeister jedoch nicht davon befreite, am Kes-
selberg in RAD-Uniform die Alpenfestung verteidigen zu müssen.

Was mich betrifft, so konnte ich mich dem Werber von der Waffen-SS von vornherein entziehen. Denn ich hatte mich beizeiten als Offiziersbewerber zur Kriegsmarine gemeldet. Die blaue Uniform mit großem Latz und Mütze war mir eh sympatischer als die schwarze oder feldgraue. Allerdings wurde ich nun, quer durch das Großdeutsche Reich reisend, in einem „Wehrertüchtigungslager“ nach dem anderen gedrillt. Zuerst in Seemoos am Bodensee. Dort schlug mir ein ostpreußischer Bootsmaat mit einem Stock auf die winterklammen Finger, wenn ich auf dem Kutter (Beiboot von Kriegsschiffen) nicht vorschriftsmäßig pullte (Seemannsprache für Rudern). Dann lernte ich auf dem Segelschulschiff „Admiral Trotha“, das in Ziegenort an der Ostsee (heute Polen) vor Anker lag, morsen, winken, seemännische Knoten schlingen, in stickiger Kajüte unter Deck mit schnarchen-
den Jugmännern auf entzurrter Hängematte pennen. Lernen mussten wir die komplizierte Takela-
ge eines Dreimasters. Am wichtigsten aber war die „Nahkampfschule mit Gewehr und Spaten“.

In Wien-Heiligenhafen schließlich musste ich im traurigen November zur Prüfung für die „Res.-Seeoffiziers-Laufbahn“ antreten. Am 13. März 1945 ereilte mich aus der meerfernen Donaustadt der Befehl, mich am 14. April beim „Admiral Nordsee“ in Wilhelmshafen zu melden – mit Nach-
weisen arischer Abstamung und kariesfreier Zähne. Meine Mutter meinte jedoch, das ginge ja gar nicht, weil der Feind vielleicht schon die Zugverbindung erreicht habe; sie versteckte mich beim befreundeten Apotheker Jakobi am Ufer der Isar, wo ich am 30. Mai, quasi als Deserteur zusam-
men mit Dutzenden von Mitbürgern und entflohenen „Fremdarbeitern“ die amerikanischen Be-
freier erwartete.

All die Jahre danach pflegte ich – wie große Teile des besiegten Volkes – einen bewussten und en-
gagierten Pazifismus, der bis heute manchen Belastungen standgehalten hat. Jetzt aber, bedroht von Kriegen und Krisen, soll uns dieser Grundwert offenbar ausgetrieben werden.

Karl Stankiewitz
4. August 2024


zugeschickt am 5. August 2024

Überraschung

Jahr: 2024
Bereich: Frieden/Abrüstung