Materialien 2024
Ois is blues
Gedankenblitz 23
Ein schwülheißer Sommerabend. Am Wedekindplatz hocken junge Leute in Massen auf der Straße, jeder mit einer Flasche in der Hand, man hört alle Weltsprachen. Die Atmosphäre erinnert mich ein wenig an die Schwabinger Krawalle im Sommer 1962. Draußen in Fröttmaning läuft derweil ein Finalspiel der Fußball-EM. Ich habe mich durchgequält zum Lustspielhaus. Dort besingt Freund Willy Michl seinen 74. Geburtstag. Nichts ist ihm anzumerken von gerade überstandenen Gesund-
heitsproblemen. Er ist wieder ganz der authentische Isarindianer, der bayerische Blues-Barde Sound of Summer (Donnerklang), der mich schon so lange begeistert. Auf einem Isarfloß, das vom Hendlkönig Friedrich Jahn gesponsert war, hatte ich ihn vor langer Zeit kennengelernt. Oft bin ich ihm dann gefolgt, hinaus in die Prärie oder zu seinen Lieblingsplätzen, den Bergen und Bergflüs-
sen. An meinem 90. Geburtstag erklärte er mich zu seinem „Geistbruder“. Dabei überreichte er mir einen Fuchspelz und eine Adlerfeder, die ich an meinen Gehstock band.
Noch einmal erlebe ich jetzt das Ungewöhnliche: Diese Mischung aus alt und neu, aus knallhart und zartbitter, aus lustig und traurig bis todernst. Indianische Weisheiten sind eingestreut und persönliche Anekdoten, die oft einen politischen Hintergrund haben, oder auch mal Kennmelodien von Gershwins Summertime. Das Stammpublikum singt mit oder gibt gar den Ton an. Es lauscht dem „großen Geheimnis“ und den berührenden Liebesliedern, die der Willy seiner seit 33 Som-
mern angetrauten Cora widmet. Diese bringt ihm Blumen auf die Bühne. In dem altmodischen Saal verbreitet sich ein Hauch von fast religiöser Andacht. Ois is blues. Alles ist Poesie, alles ist Fantasie.
Natürlich lässt der Isarindianer, der einst von der Hochalm in die Hochebene hinuntergestiegen war, auch das legendäre „Isarflimmern“ in vielerlei Variationen erklingen. Dieses Lied ist ja längst zur heimlichen Hymne der Stadt München geworden. Ich wünsche es mir von diesem Sänger zum Tag X, wenn ich – vielleicht ja schon bald – hinüberwechseln werde in die ewigen Jagdgründe.
Karl Stankiewitz
10. Juli 2024
zugeschickt am 11. Juli 2024