Flusslandschaft 1980

Hausbesetzungen

Utopien trugen die Proteste seit Anfang der 70er Jahre. Optimismus, Begeisterung und Zuversicht waren vorherrschende Gefühle. Zunehmende Krisen und Katastrophenszenarien sowie die depri-
mierenden Erfahrungen aus dem „Deutschen Herbst“ lösten neue vorherrschende Haltungen aus. Zukunftsskepsis und radikale Aversion gegen Staat und Gesellschaft prägten die jüngere Genera-
tion. Am 26. November 1979 begannen Hausbesetzungen in West-Berlin („Instandbesetzungen“ gegen den spekulativen Leerstand und Abriss billigen Wohnraums). Diese Ereignisse strahlen auch in die Bundesrepublik aus.

„Am 1. Februar besetzten ca. fünfzig junge Leute die St. Matthäus Kirche am Sendlinger-Tor-Platz. Mit dieser Aktion wollten sie auf die akute Wohnungsnot hinweisen. Die Besetzung dauerte bis zum 4. Februar. Während der Besetzung wurde die Kirche zu einer Art öffentlichem Treff- und Diskussionspunkt zwischen den Besetzern und ‚normalen’ Leuten. Abgesprochen war mit dem Pfarrer die Dauer der Besetzung. Als sich montags morgen herausstellte, dass nicht alle Besetzer eine Schlafmöglichkeit hatten, stellte Pfarrer Hans Georg Lubkoll ihnen spontan einen Raum im Gemeindezentrum zur Verfügung. Nach massiven Protesten seitens der Behörden verließen auch die letzten Besetzer am 19. Februar die Kirche. — Im Fahrwasser dieser Besetzung gingen am 17. Februar achthundert Leute auf die Straße, um gegen Wohnraumnot und Spekulantentum zu protestieren.“1

Einige BesetzerInnen der St.-Matthäus-Kirche erobern einen Altbau in der Blumenstraße 33, unter ihnen auch ein Sproß von CSU-Bürgermeister Winfried Zehetmeier. Dieser verhandelt mit des Be-
setzerInnen erfolglos. Die Hausbesetzung in der Blumenstraße vom 23. Februar dauert sechzehn Stunden. „Wider Erwarten fand diese Aktion in der gesamten Münchner Presse zunächst großes Verständnis. Den Aufwand, den die Polizei mit vierhundert Beamten betrieb, um morgens gegen
4 Uhr hundertundeinen Besetzer aus dem Haus herauszuholen, wurde z.B. von der SZ fast als lächerlich definiert. Einundfünfzig Personen wurden zur ED-Behandlung in die Ettstraße mitge-
nommen, gegen zwei von ihnen wurde Haftbefehl erlassen. Bis zu ihrer Verhandlung vor dem Schnellrichter saßen sie fünf Tage in U-Haft. Sie wurden jeweils zu Geldstrafen verurteilt, insge-
samt wurden über achtzig Personen verurteilt.“2 … „In der Nacht räumen über vierhundert Poli-
zisten das von wohnungssuchenden jungen Leuten besetzte leerstehende und baufällige Haus an der Blumenstraße 33. Die Zahl der Hausbesetzer war bis zum Beginn der Polizeiaktion von etwa vierzig bis fünfzig, in der Hauptsache Schüler, Studenten und Lehrlinge, die sich unlängst auch in der Matthäuskirche einquartiert hatten, auf einhunderteins Personen angewachsen. Die Räumung des Hauses war bereits gestern Abend von Bürgermeister Zehetmeier angekündigt worden, nach-
dem sein Angebot, den Demonstranten andere Notunterkünfte für die Nacht zu verschaffen, keine Resonanz gefunden hatte … Jeder einzelne wird, obwohl niemand Widerstand leistete, von je zwei Polizisten abgeführt und zum Erkennungsdienstwagen gebracht, wo Fingerabdrücke genommen werden.“3

„Ebenfalls nur eine Nacht dauerte eine Hausbesetzung in der Trogerstraße am 4. März. Nach Verhandlungen mit der Polizei zogen die Besetzer freiwillig ab. Strafanträge wurden keine gestellt.“4

Am 22. März kommt es zu einem Demonstrationsmarsch gegen Wohnungsnot vor leer stehenden Häusern.5

„Nicht gerade die Wohnungsnot, aber ein nicht minderer Grund war am 25. März die Verhaftung von Jan van de Loo. Er hatte aus persönlichem Interesse mit ersten technischen Basteleien für
den Bau eines UKW-Meßsenders begonnen. Beim Erwerb eines Bauteiles wurde er im Laden von Beamten des LKA festgenommen, obwohl nicht der Erwerb, sondern erst die Verwendung dieses Bauteiles strafbar ist, und seine bisherigen Bauteile überhaupt nicht sendefähig waren. Soziale Bindungen und festen Wohnsitz hatte er auch, was ihm aber nicht ersparte, die nächsten 6½ Mo-
nate bis zu seiner Verhandlung in U-Haft in der JVA Stadelheim einzusitzen. Dies, obwohl noch nie in der Justizgeschichte der BRD eine Haftstrafe gegen das Fernmeldegesetz ausgesprochen wurde. Urteil: 8 Monate auf 3 Jahre Bewährung plus 15.000 DM Geldstrafe.“6

… Hausbesetzung Lothstraße 52 …

„Wieder ein Wohnraumproblem: Am 19. September zogen ‚klammheimlich’ einige Leute mit Sack und Pack und einer Hundemama mit neun Kindern in eine leerstehende Villa in der Fürstenrieder-
straße ein. Als sie am 22. September (erster Werktag seit Besetzungsbeginn) mit dem Hausbesitzer verhandeln wollten, stellte dieser kurz darauf Strafantrag. Die Polizei erschien, nahm die Persona-
lien fest und half den Besetzern beim Möbelpacken. Die sechs Anklagen endeten mit einer Einstel-
lung, einem Strafbefehl und vier Verurteilungen.“7

Künstlerinnen und Künstler besetzen eine ehemalige Maschinenfabrik in der Lothringer Straße 13 in Haidhausen und firmieren unter dem Namen „Künstlerwerkstatt“. Schon bald entdeckt das Kulturreferat die Möglichkeiten, die die 800 Quadratmeter bieten, und übernimmt die laufenden Kosten für das Haus. Der Name Lothringer13 — Städtische Kunsthalle München garantiert bis 2011 ein internationales Renommee.

Festnahme von Saukel(?), Panza und zwei weiteren bei Polizeieinsatz in und vor dem Stadtteilzentrum Milbertshofen in der Nitzschestraße 7b.


1 Freizeit 81, Winter 1981, (19) unpag. Vgl. Süddeutsche Zeitung 28/1980 und 29/1980 sowie Münchner Merkur 41/1980.

2 Freizeit 81, Winter 1981, (19) unpag.

3 Stadtchronik, Stadtarchiv München. Zur Kritik an der politischen Führung der Polizei siehe auch „Entwurf einer Reform des Gesetzes über die Aufgaben und Befugnisse der Bayerischen Staatlichen Polizei“ von Reiner Uthoff. Siehe auch „Zweckentfremdung“ von Knut Becker.

4 Freizeit 81, Winter 1981, (19) unpag.

5 Vgl. Münchner Merkur 71/1980.

6 Freizeit 81, Winter 1981, (19) unpag.

7 A.a.O.