Flusslandschaft 1980

Religion

An einem kalten 19. November besucht Papst Johannes Paul II. München als letzte Station einer fünftägigen Deutschlandreise. Er kommt in Begleitung von Kardinal Joseph Ratzinger mit einem Sonderzug aus Altötting, am Hauptbahnhof empfangen ihn Kinder mit Blumen sowie Oberbürger-
meister Erich Kiesl und Ministerpräsident Franz Josef Strauß. In seinem „Papamobil“, flankiert von zwei Dutzend „weißen Mäusen“, fährt der Papst zur Theresienwiese, wo 600.000 Menschen auf ihn warten. Während der Fahrt kommt es zu einigen Protesten. Ein als Teufel verkleideter junger Mann trägt ein Schild mit der Aufschrift „Der Papst soll arbeiten gehen“. Von einer mit Chrysanthemen und Koniferen geschmückten Altarinsel1 aus feiert Johannes Paul II. auf der Wiesn die Eucharistie. In seiner Predigt wendet er sich an die Jugend, die er davor warnt, sich in Resignation zurückzuziehen oder sich in Drogen und falsche Heilslehren zu flüchten. Er meint: „Lasst Euch nicht aus der Fassung bringen! Seid offen für den Ruf Christi an Euch!“ Als nach dem Gottesdienst ein paar Jugendvertreter Gelegenheit haben, mit dem Papst zu sprechen, kommt es zu einem „Zwischenfall“. Barbara Engl, Münchner Diözesanvorsitzende des Bundes der Katholi-
schen Jugend
, trägt überraschend eine kirchenkritische Erklärung vor, in der es unter anderem heißt: „Für Jugendliche ist aber die Kirche der BRD schwer zu verstehen. Sie haben den Eindruck, dass sie ängstlich an bestehenden Verhältnissen festhält.“ Dann geht es weiter zum Herkulessaal in der Residenz. Hier begrüßen den Papst Künstler und Publizisten. Staatsintendant Professor August Everding meint: „Unser Glaube und unser Zweifel, Ihr Trost und Ihr Tadel lassen einen dramati-
schen Dialog erhoffen.“ Der Papst antwortet mit einer Ansprache, in der er Kunst und Publizistik zu einem „authentischen Dienst an der Wahrheit und am Menschen“ aufforderte. Weiter geht es in die Frauenkirche, wo Behinderte und ältere Menschen auf ihn warten. Hier meint der Papst: „Ihr seid ein Schatz für die Kirche, Ihr seid ein Segen für die Welt!“ Und er fügt hinzu: „Ja, das Alter verdient unsere Ehrfurcht.“ Weiter geht es zur Mariensäule auf dem Marienplatz. Hier betet der Papst den „Engel des Herrn“. Bundespräsident Karl Carstens verabschiedet ihn dann mit den Wor-
ten: „Mögen die Zeichen, die Sie gesetzt haben, lange leuchten!“ Der Papst antwortete: „Gott segne diese Land und alle seine Bewohner!“2

Kirchenkritik erfährt dagegen oft wundersame und sehr differenzierte Antworten.3

„Bayerischer Rundfunk fordert zu Kindsmisshandlungen auf – In der Sendung ‚Minuten der Besin-
nung’ (Kirchenfunk des BR) vom 3. Dezember 1980 wurden die Eltern, insbesondere Väter dazu aufgefordert, ihre Kinder, speziell Söhne, mit Stöcken zu verprügeln; dies wurde als die einzig sinn-
volle Form von Erziehung hingestellt. Wörtlich wurde in der Sendung gesagt: ‚Wer seinen Sohn liebt, hält den Stock für ihn bereit.’ Und: ‚Beug ihm den Kopf in Kindestagen, schlag ihm den Hin-
tern, solange er noch klein ist … und leg ihm ein kräftiges Joch auf.’ Da diese Sätze weder kommen-
tiert noch relativiert wurden, sieht der Landesverband Bayern der Humanistischen Union (HU) den Tatbestand der Anstiftung zu vorsätzlichen rechtswidrigen Handlungen nach § 111 StGB er-
füllt, da hier zu Straftaten nach § 223 StGB (Körperverletzung) und § 223b StGB (Misshandlung von Schutzbefohlenen) aufgefordert wird. – Dass es sich bei dem Text der Sendung um eine Dich-
tung aus einem kirchlich hoch geschätzten Buch handelt, ist nach Auffassung des Landessprechers der HU, Johannes Glötzner, nicht von Belang, da der Text nicht als Dichtung ausgewiesen war, sondern ‚eher als ein mit kirchlicher Autorität versehener Freibrief für strafbare Handlungen’. – Die HU forderte daher die Staatsanwaltschaft auf, gegen die für diese Sendung Verantwortlichen wegen Anstiftung zu Kindsmisshandlungen zu ermitteln.“4

24. Dezember: Blasphemische Krippenspiel-Parodie.5

(zuletzt geändert am 20.12.2019)


1 Siehe „Betr. Überbauung Theresienwiese in München zum 19. November 1980“.

2 Siehe „Kirchliches Eigentum – Sozialfunktion oder Profit?“ von Johannes Glötzner.

3 Siehe MSZ. Gegen die Kosten der Freiheit. Marxistische Streit- und Zeitschrift 6/1980, hg. vom Verein zur Förderung des marxistischen Pressewesens e.V. München, https://msz.gegenstandpunkt.com/artikel/mitteilungen-von-der-freiheit-eines-christenmenschen.

4 Mitteilungen der Humanistischen Union vom Februar 1981, 3.

5 Vgl. Süddeutsche Zeitung 299/1980; siehe „Es gibt uns: Reinhard Zimmermann im Gespräch“.