Materialien 2024

Kriegsangst

Gedankenblitz 54

Ich habe Angst. Auch wenn ich das selbst als Schwäche und Mutlosigkeit erkenne, bekenne ich ungeniert: Ja, ich habe Angst vor einem Dritten Weltkrieg, nachdem ich den zweiten als 16-jäh-
riger Seekadett der Kriegsmarine noch miterlebt habe und mein Vater den Ersten leidvoll im Schützengraben. Mit solcher Angst bin ich nicht allein. 41 Prozent unseres Volkes befürchten, Deutschland könnte in einen der aktuellen Kriege hineingezogen werden. Dieser demoskopische Befund ist seit langem unverändert. Unverändert ist ja auch die Lage , anhaltend die Ambivalenz an den Brennpunkten der Welt. Auf keine der zentralen Fragen gibt es eine vernünftige Antwort. Politiker, Publizisten, Berater sind mit ihrem Latein am Ende. Sie agieren vor düsterem Hinter-
grund: Krisen, Aggression, Drohungen, Naturkatastrophen allerorten, religiöser Wahn statt To-
leranz, Lügen statt Wahrheit, Spaltung statt Solidarität. Jeden vierten Tag wird auf dieser unru-
higen Welt ein Journalist getötet. „Wirklich, ich lebe in finsteren Zeiten“ – wieder mal muss ich, der Nachgeborene, dem Brecht Recht geben.

In diesem Zustand von Verunsicherung und schierer Verzweiflung (eine Stimmung, der verant-
wortliche Politiker auf keinen Fall nachgehen dürfen), bin ich öfter geneigt, mich, an eine Zeit zu-
rückzudenken, als die Welt noch in Ordnung schien. Besser gesagt, davon zu träumen. Ich meine das ausgehende 20. Jahrhundert. 1990 brach die Sowjetunion zusammen. Der friedvolle, kluge Michail Gorbatschow leitete eine „neue Weltordnung“ ein, wie sein amerikanischer Kollege George Bush meinte. Nach 20 Jahren Hochrüstung einschließlich nuklearer Bedrohung ging der Kalte Krieg zu Ende. „Peace for long time“ war definitiv in Aussicht (die Ansage des britischen Premiers Neville Chamberlain von 1938 hatte Hitler allerdings bald zerschlagen). Zwar wurden im zerfallen-
den Jugoslawien sowie im Irak noch Gefechte geschlagen, doch laut Goethe ist es für den deut-
schen Michel nur unterhaltsam, „wenn fern hinter der Türkei die Völker aufeinander schlagen“.

Auch in unserer kleinen Bayernwelt war in jenen „goldenen Neunzigern“, die uns obendrein an einem Weihnachtstag die Europäische Union bescherten, offenbar fast alles „super“, wie ein neues Modewort lautete. Manche träumten gar von neuer Größe. Schon im Februar 1990 berichtete ich über angebliche Absichten der CSU-Regierung, München als Hauptstadt oder als Kulturhauptstadt Deutschlands anzubieten. Man setzte auf Großprojekte am Stadtrand wie den neuen Flughafen, die neue Messe und die Ansiedlung mehrerer Medienhäusern. Der Wiedervereinigung im Oktober folgte das Versprechen von Kanzler Helmuth Kohl, die neuen Bundesländer in „blühende Land-
schaften“ zu entwickeln.

Die Wirtschaft brummte. Die Gesellschaft war nicht gespalten, sondern solidarisch, was sich etwa in einer Art Sondersteuer zeigte, die Kultur war übersichtlich, die Subkultur geradezu opulent. Der Münchner SPD-Oberbürgermeister Georg Kronawitter bekam erstmals eine grüne Stellvertreterin und eine Leitstudie „München 2000“ bestimmte, dass die Ökonomie nicht mehr der maßgebliche Entwicklungsfaktor sein solle. Trotzdem entstanden binnen weniger Jahre rund 30.000 neue Ar-
beitsplätze, von denen allerdings nur 2.000 von Bewohnern Münchens besetzt wurden. Die Ein-
wanderung zeitigte erste positive Auswirkungen.

Jene Volksstimmung jedoch, die international gern als „German Angst“ typisiert und politisiert wird, kam noch nicht in der Demoskopie vor, wohl aber in der Medizin. „Angstforschung, die Angst macht“ überschrieb ich im Januar 1990 meinen Bericht über ein vom Bundesinnenministerium gefördertes Forschungsprojekt an der Münchner Universität. An Psychiatrie-Patienten sollten Mittel getestet werden, die bei Panikausbrüchen im Falle eines „ABC-Krieges“ eingesetzt werden könnten. Der heute vergessene Begriff war eine Kürzel für Kriege mit atomaren, biologischen oder chemischen Waffen. Die Münchner Versuche wurden nach Protesten abgebrochen. Das Thema Angst sollte wieder auf die bloße Fiktion beschränkt werden, zum Beispiel auf Hitchcock-Horror-
filme. An einen Atomkrieg dachte kein klarer Kopf.

30 Jahre später hat Kriegsangst wieder einen realistischen Hintergrund.

Karl Stankiewitz
2. November 2024


zugeschickt am 3. November 2024

Überraschung

Jahr: 2024
Bereich: Frieden/Abrüstung