Materialien 2020

Obdachlose Nachbarn

Gedankenblitz 50

Es wird kalt. Eine schlimme Zeit für Menschen, die auf der Straße leben. Rund 10.000 sollen es schon in München sein. Obdachlosigkeit hat sich stark vermehrt. Nicht zuletzt wegen der vielen Flüchtlinge, besonders denen aus der Ukraine, auch wegen des zögerlichen Baus von Sozialwoh-
nungen und der oft spekulativen Vertreibung aus Altbauten. Münchens Stadtverwaltung und private Helfer sind bemüht, diesen Notstand durch allerlei Hilfsmaßnahmen zu bekämpfen. München stellt für den Winter sogar einen „Wärmebus“ bereit.

Schon vor einem halben Jahrhundert musste ich über das Problem der Obdachlosigkeit berichten. In der Evangelischen Akademie Tutzing, die dem Zeitgeist nachspürte, diskutierten Zuständige im September 1974 zwei Tage lang über die „Parias der Industriegesellschaft“ und darüber, wie ihnen zu helfen sei. Der Soziologe Wolfgang Zöllner fand in einer ersten Untersuchung heraus, „dass die Ärmsten der Gesellschaft auch die Hilf- und die Rechtlosesten sind“. Die Zahl der Wohnungslosen wurde in der damaligen Bundesrepublik auf eine halbe Million hochgerechnet, Zöllner sagte für die nächsten 15 Jahre eine Verdoppelung voraus. Er sprach von „sozialem Sprengstoff“.

Ich hatte oft mit Menschen zu tun, die der Volksmund nur grob als „Penner“ kennt. Schräg gegen-
über meines großbürgerlichen Mietshauses steht eine alteTrafo-Station der Stadtwerke. Die Bank unter dem ausladenden Pilzdach ist immer belagert von Männern mit verhärmten, wettergegerb-
ten Gesichtern. Die Bank ist breit genug zum Schlafen. Allerlei Hausrat ist darunter verstaut. Ein amtlich geduldeter Aufenthaltsort für Obdachlose. Einer dieser Männer stellte seine leer getrunke-
nen Bierflaschen stets akkurat wie Soldaten in einer Reihe auf. Wenn ich vorbei ging, grüßte er mi-
litärisch. Gelegentlich gab ich ihm ein abgetragenes Kleidungsstück oder auch mal eine volle Pulle. Bedankt hat er sich nie, er sprach überhaupt kein Wort. So konnte ich nichts über das Schicksal des alten Soldaten erfahren.

Einen anderen Angehörigen dieser Zunft habe ich, bei Recherchen über den Stachus, etwas besser kennengelernt. Täglich stand Wolfgang Brylka in der schönen neuen Welt im Untergrund, die für ihn ein „Dorf voller Leben“ war, und bot die Straßenzeitung BISS an. Er konnte nur flüstern. Kehl-
kopfkrebs. Er hatte richtige Stammkunden, die ihm auch mal eigenes Leid klagten oder kleine Ge-
schenke brachten. Bei seinen Schicksalsgenossen war der Wolfgang sehr beliebt, weil er immer freundlich und hilfsbereit war. Eines Tages, nach einer Operation, hatte er wieder seine Stimme und war überglücklich. Wenige Tage später aber ist er doch gestorben. Viele Obdachlose weinten ihm nach im Ostfriedhof, wo es ein eigenes Gräberfeld für Obdachlose gibt. Nahebei hat Rudolph Moshammer seine palastartigem immer geschmückt Grabstätte.Der ehemalige Modezar hatte sich, bevor er ermordet wurde, insgeheim sehr für die Münchner Obdachlosen eingesetzt. Seine Freunde danken es ihm bis heute.

Dann kam Corona. „Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr. Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben.“ Rilkes elegischer „Herbsttag“ kam mir in den Sinn, als ich im März 2020 ein Grüppchen von Menschen beim Frühlings-Spaziergang an der Isar wahrnahm. Obdachlose mit ihrem erbärmlichem „Hausrat“ suchten Schutz am angestammten Lagerplatz, dem schon erwähn-
ten Kiosk. Ja, wer jetzt kein Heim hatte und allein war, den traf die Seuche besonders hart. Wie sollten sie bei nächtlichen Minusgraden schlafen, ohne sich aneinander kuschelnd zu wärmen? Restaurants, auch Suppenküchen, Tafeln und sogar Notunterkünfte waren ja geschlossen.

Vor der Lukaskirche traf ich den Toni aus Fürstenfeldbruck, 60 Jahre alt, zerzaust, struppig, freundlich. Den Geldschein nahm er mit knappem Dank an, die festen Schuhe nicht, die waren ihm zu klein. Punkt 14 Uhr wurde das Tor geöffnet. Toni schob den Einkaufswagen mit seinem Haus-
halt die Treppe hoch und verschwand im dunklen Gotteshaus. Er wollte sich, nach schlechter Nacht, noch ein bisschen hinlegen, sagte er. Corona fürchtete er nicht.

Karl Stankiewitz
7. Oktober 2024


zugeschickt am 8. Oktober 2024

Überraschung

Jahr: 2020
Bereich: Bürgerrechte