Materialien 1974

Das gerettete Kreuz

Gedankenblitz 63

Einfach nochmal ein halbes Jahrhundert zurück blenden. In meinen abgehefteten, fast schon vergilbten Manuskripten finde ich einen Bericht vom Dezember 1974, in dem es heißt: Jeden Montag hält der Schauspieler Philip Arp einen Kurs in Bayrisch und bringt „Zuagroasten“ so exotische Redewendungen bei wie „Derderfdanixdoa“ (der darf dir nichts tun). Jeden Dienstag beteiligt sich Arp am „Dischkrian“ bayrischer Dialektdichter über so ausgefallene Vorschläge wie: „Die Staatsregierung möge Voraussetzung schaffen für die sinnvolle Einbeziehung von Mundart und Umgangssprache in Studien- und Lehrpläne.” Donnerstag darf dann jedermann unter dem Motto „Jetzt red i“ jeweils in einer anderen Region Bayerns so daherreden, wie ihm der Schnabel gewachsen ist. Für Januar 1975 plante der Bayerische Rundfunk eine Sendung über die von vielen Bühnen und anderen Interessenten unterstützte Aktion. Sie sollte – nicht zum ersten und nicht zum letzten Mal – der Erhaltung, Auffrischung und Weiterentwicklung der Mundarten der vier bayrischen Stämme (der sudetendeutsche inbegriffen) dienen.

Dass Philip Arp dabei eine tonangebende Rolle spielte, hatte vielleicht mit Karl Valentin zu tun. 1929 war er nahe von dessen Geburtshaus in der Au zur Welt gekommen. 1970 machte er in einem ehemaligen Schwabinger Tröpferlbad mit seiner Frau Anette Spola das „Theater am Sozialamt“ (TamS) auf, wo er zusammen mit Jörg Hube, Otto Grünmandl, dem jungen Gerhard Polt und der frühen Biermösl Blosn durch eigenwillige „Valentinaden“ bekannt wurde. Ich versäumte keine, für mich war dieser spindeldürre Mensch aus der Au der legitime Nachfolger des verehrten „Vale”.

Eines Abends, in der Pause vor einem Heizkessel, sprach er mich an: „Mir kenna uns doch.“ Tat-
sächlich: in der Volksschule am Mariahilfplatz saß der magere Schusterbub auf der Bank neben mir, erst der Krieg trennte uns. Die Geschichte meines ehemaligen Kameraden erfuhr ich erst viel später durch Recherche: Im April 1944 war das alte Herbergsviertel zum Großteil britischen Bom-
ben zum Opfer gefallen. Auch meine Schule und die benachbarte Kirche, deren Rosette wir oft ab-
zeichnen mussten. Auch das Häuschen in der Krämerstraße 23 fiel in Schutt und Asche. Darunter war ein Kruzifix vergraben, das an der Fassade angebracht war.

Vermutlich im Jahr 1462 war der Christus mit einem Isarhochwasser aus der Tölzer Gegend in die Münchner Au geschwemmt worden. An der Fundstelle baute man für ihn eine Kapelle. Nach deren Abriss 1817 wurde der sakrale Findling in der Krämerei verwahrt, die fortan „zum Herbergswinkel“ genannt wurde. Schulkamerad Hermann Fischer, wie der spätere Schauspieler eigentlich hieß, kannte wahrscheinlich die berührende Geschichte, er war mal Ministrant in Mariahilf. Der Hitler-
jugend hatte er sich entzogen, die Gestapo bedrohte die Eltern. Eines Tages begann der Sechzehn-
jährige im Bombenschutt des Herrgottswinkels zu suchen. Und fand einen Balken, an den zwei verkohlte Beine genagelt waren: das Rudiment des Isarkreuzes. Er steckte es in einen Kartoffelsack und bewahrte es wie eine Reliquie zu Hause auf. Nichts verriet mein ehemaliger Banknachbar bei unserem Wiedersehen über das verkohlte Fragment. „Hiermit gebe ich nichts bekannt“, hieß denn auch sein erstes und letztes Buch.

Er schwieg bis zum Tod im Jahr 1985 – nach schweren Krebsleiden. Anette Spola vermachte die verpackten, ans Kreuz geschlagenen Gliedmaßen dem Ordinariat. So kam das ungewöhnliche, berührende Kunstwerk in Giesings renovierte Heiligkreuz-Kirche. Hoch über der Isar, aus der es einst geborgen wurde. In mystisches Licht gehüllt wie ein geheimnisvoller Gral und amorph wie eine abstrakte Skulptur beherrscht es das immer besuchte Entree des Gotteshauses. Schwer zu entziffern ist Arps Beschriftung auf einem Täfelchen – ein Mahnruf zum Frieden. Arps Theater bespielt Anette Spola erfolgreich und schier ohne Unterlass. Im Hinterhof funkeln vorweihnacht-
liche Lichter.

Karl Stankiewitz
10. Dezember 2024


zugeschickt am 11. Dezember 2024

Überraschung

Jahr: 1974
Bereich: Lebensart